Susanne Fritz: Die Denkfabrik des Deutschlandradios interessiert sich für die Ideen der Hörer. So gibt es seit Mitte März auf Basis Ihrer Anregungen Radiobeiträge zum Thema Grundgesetz. In "Tag für Tag" beschäftigen wir uns in der Reihe "Gott im Grundgesetz" ebenfalls mit unserer Verfassung. Bislang ging es bei uns um den Gottesbezug in der Präambel und um das Recht auf Selbstbestimmung der Religionsgemeinschaften. Heute haben wir uns die im Grundgesetz verankerte Religionsfreiheit vorgenommen. Darüber spreche ich jetzt am Telefon mit Heiner Bielefeldt – er ist katholischer Theologe, Philosoph und Historiker sowie Professor an der Universität Erlangen-Nürnberg. Außerdem war er Sonderberichterstatter für Religions- und Weltanschauungsfreiheit des UN-Menschenrechtsrates. Guten Morgen, Herr Bielefeldt.
Heiner Bielefeldt: Guten Morgen, Frau Fritz.
Fritz: Bevor wir auf die Religionsfreiheit in Deutschland zu sprechen kommen möchte ich erst einmal ein Zitat einspielen mit dem Wortlaut des Artikels zur Religionsfreiheit im Grundgesetz.
Art 4
(1) Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich.
(2) Die ungestörte Religionsausübung wird gewährleistet.
(1) Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich.
(2) Die ungestörte Religionsausübung wird gewährleistet.
Fritz: Herr Bielefeldt, für wen gilt Religionsfreiheit in Deutschland?
Bielefeldt: Religionsfreiheit ist ein weitgespanntes Menschenrecht. Also, erstmal muss man sagen, es ist ein Recht aller Menschen - nicht nur ein Recht der Frommen, auch ein Recht von Skeptikerinnen und Skeptikern, von manchen Leuten, die so ein bisschen querdenken oder nicht so genau wissen, also durchaus auch ein Recht der traditionell religiösen Menschen, aber auch der Suchenden, der Zweifelnden, derjenigen, die gegenüber Religion auch skeptisch eingestellt sind.
Also, als Menschenrecht gilt Religionsfreiheit ganz weitgespannt und meint eben auch die Weltanschauungsfreiheit. Also auch nicht-religiöse Orientierungen können sich auf dieses Menschenrecht berufen.
Fritz: Welche religiösen Freiheiten schützt unsere Verfassung genau?
Bielefeldt: Auch da gilt erstmal ein breites Spektrum von Gewährleistungen. Es geht zum einen natürlich um ganz persönliche Fragen von Glauben, von Gewissen, von Grundorientierungen, dann aber natürlich auch um das Bekenntnis, das sich nach außen richtet; dann um Praxis – und das ist nicht nur die religiöse Praxis im engeren Sinne, wie etwa Gottesdienste, sondern es geht dann auch um charity organizations, also zum Beispiel religiös motiviertes caritatives Engagement, es geht um Institutionen, um Bildung, um Sozialisation, auch Elternrechte im Kontext von Religion. Also in der Tat ein Recht, im Privaten wie im Öffentlichen, individuell aber auch gemeinschaftlich orientiert.
"Kein Recht, von religiöser Präsenz verschont zu werden"
Fritz: Wir haben jetzt über das positive Recht religiöser Überzeugungen gesprochen – und auch Weltanschauungen auszuüben. Sie erwähnen auch die negative Religionsfreiheit, also auch das Recht, keinen Glauben zu haben und zu leben. Was genau beinhaltet das?
Bielefeldt: Das ist im Grunde in der Logik der Freiheitsrechte angelegt. Das ist auch gar nichts Besonderes der Religionsfreiheit, das gilt auch für die Meinungsfreiheit – die ist ja kein Zwang, Meinungen zu äußern, man kann sich auch erstmal zurückhalten. Oder Versammlungsfreiheit darf ja auch nicht zum Zwang werden, an Demonstrationen teilzunehmen. Nein, es ist ein Freiheitsrecht.
Und hier gilt bei der Religionsfreiheit genau dasselbe: also, das ist beispielsweise die Freiheit, in die Kirche zu gehen - oder auch nicht in die Kirche zu gehen. Sich für religiöse oder auch für weltanschauliche Fragen zu interessieren – oder auch zu sagen: Das interessiert mich überhaupt nicht. Also auch diese Möglichkeit, zu sagen, ich will mich da raushalten, zumindest Freiheit von Zwang ist damit verbunden.
Natürlich kann es nicht geben eine Freiheit, sozusagen überhaupt nicht mit Religion konfrontiert zu werden in der Gesellschaft. In einer pluralistischen Gesellschaft müssen wir damit leben, dass nicht nur Kirchenglocken läuten, sondern auch andere sichtbare, hörbare Präsenzen des Religiösen einfach alltäglich da sind. Also es gibt kein Recht, von religiöser Präsenz verschont zu werden. Manchmal wird die Religionsfreiheit in dieser Richtung überzogen, aber an sich gilt: Sie ist genauso wichtig wie die positive Religionsfreiheit. Es könnte gar keine positive Religionsfreiheit geben als Freiheitsrecht, wenn nicht auch die Möglichkeit bestünde zu sagen, nee, will ich jetzt nicht.
"Verfassungsimmanente Grenzen" der Religionsfreiheit
Fritz: Trotzdem ist Religionsfreiheit in Deutschland nicht grenzenlos, der Staat kann sie einschränken. Wann ist das der Fall?
Bielefeldt: Ja, das wird in Deutschland typischerweise unter dem Begriff "Verfassungsimmanente Grenzen" diskutiert. Die Religionsfreiheit steht ja nicht oberhalb der Verfassung oder außerhalb der Verfassung, sondern sie steht in der Verfassung. Und religiöse Praktiken können in Kollision geraten dann auch mit anderen ganz zentralen Grundrechten oder Prinzipien der Verfassung. Deshalb...
Fritz: Zum Beispiel?
Bielefeldt: Na ja, also beispielsweise kann es auch im medizinischen Bereich Konflikte geben. Also wenn etwa Eltern aus religiösen Gründen für ihre Kinder sagen, bestimmte Operationen nicht, dann kann es schon sein, dass, wenn der Konflikt wirklich vorliegt, man muss da immer ganz genau hinschauen, der Staat dann sagt: doch, das Recht der Kinder auf Gesundheit, vielleicht geht es sogar um Leben und Tod, ist so wichtig, dass wir dann da in der Tat eingreifen. Aber jeder Eingriff soll so schonend wie möglich sein, auch im Konfliktfall. Also man kann da nicht ein Menschenrecht dem anderen Menschenrecht einfach aufopfern, sondern muss sich sensibel um einen Weg bemühen, der allen Rechten nach Maximum dessen, was möglich ist, einigermaßen gerecht wird.
Oder nehmen wir das Beispiel Schule: Wir haben Schulpflicht, das ist auch wichtig, und zur Schule zählen dann auch Veranstaltungen, die für manche, sagen wir mal traditionell Religiösen, ein bisschen irritierend sind – etwa Sexualkunde oder auch koedukativer Sportunterricht. Da gibt es dann in der Tat immer wieder auch Konfliktsituationen, an denen deutlich wird, die Religionsfreiheit steht nicht außerhalb der Verfassung, sie hat einen sehr hohen Stellenwert, aus guten Gründen einen sehr hohen Stellwert, aber natürlich kann es zu Konflikten kommen, wo der Staat dann auch vorsichtig Einschränkungen vornehmen muss.
"Wir hinken den Realitäten etwas hinterher"
Fritz: Wie ist eigentlich die Realität in Deutschland? Werden in Deutschland wirklich alle Religionen und Weltanschauungen gleichbehandelt und genießen auf dieselbe Weise Religionsfreiheit?
Bielefeldt: Also, das ist ganz gut, dass Sie den Begriff "Gleichheit" einbringen, denn die Religionsfreiheit als Menschenrecht hat auch eine Gleichheitskomponente, es geht also auch darum, dass niemand diskriminiert werden darf aufgrund von Religion und Weltanschauung. Und jetzt wird man sagen müssen: Die Situation der Religionsfreiheit ist in Deutschland – vor allem jetzt im weltweiten Maßstab – schon ziemlich gut, das will ich überhaupt nicht verhehlen. Aber wenn es darum geht, jetzt wirklich Gleichberechtigung zu schaffen, auch für kleinere Gruppen, für hierzulande noch ein bisschen ungewohnte religiöse Gruppierungen, oder auch die wachsende...
Fritz: Zum Beispiel die Muslime?
Bielefeldt: Ja, Muslime sind mittlerweile ja nicht mehr ganz so ungewohnt. Auch die Zahl der Freikirchen nimmt zu, die Zahl der Konfessionslosen ist mittlerweile so groß wie jeweils eine der traditionellen Großkirchen, so grosso modo, also da hinken die Strukturen, in denen sich das Verhältnis von Staat und Religionsgemeinschaften entwickelt hat, den Realitäten etwas hinterher. Und daraus entstehen schon auch Diskriminierungen. Deshalb kann es nicht darum gehen, den Status quo, der durchaus viele Vorteile hat, so einfach in die Zukunft zu verlängern, sondern wir müssen manche Dinge nacharbeiten – das geschieht ja auch. Also etwa im Religionsunterricht...
Fritz: Nennen Sie mal ein paar Beispiele.
Bielefeldt: Genau, islamischer Religionsunterricht, das ist lange auf der Tagesordnung, aber irgendwo klemmt es immer noch. Das ist auch schwierig, das so durchzuführen, dass es dann wirklich gleichberechtigt zu katholischem oder evangelischem Religionsunterricht funktionieren würde. Und...
"Mit manchen Kooperationspartnern tut man sich schwer"
Fritz: Warum – entschuldigen Sie, dass ich Sie unterbreche – warum dauert das so lange? Wir haben ja nun schon seit vielen Jahrzehnten Muslime in Deutschland und auch andere Religionsgemeinschaften. Trotzdem tun wir uns offenbar so schwer damit, Gleichheit zu erzeugen.
Bielefeldt: Ja, wir tun uns schwer damit. Und das hat vielleicht manchmal auch zu tun mit gewissen konservativen Vorbehalten, man erinnert sich ja noch an quälend lange Debatten, ob Deutschland ein Einwanderungsland sei – das ist nun, Gott sei Dank, vorbei. Aber bis man wirklich zur Kenntnis nimmt, also wir haben einen religiösen Pluralismus, der über katholisch-evangelisch weit hinausgeht, vergehen Zeiten.
Und wenn es um Religionsunterricht geht, kommt hinzu, dass der ja nicht einfach vom Staat statuiert werden kann, da kann der Staat nicht sagen: Das ist die richtige religiöse Orientierung für Muslime oder für Katholiken, der muss ja in Kooperation mit den Religionsgemeinschaften entwickelt werden, da haben Staat und Religionsgemeinschaften jeweils sozusagen ihre spezifischen Beiträge zu leisten. Und die Religionslandschaft des Islam ist da in der Tat noch so ein bisschen fluide, auch unübersichtlich, mit manchen Kooperationspartnern tut man sich schwer. Also da kann man jetzt nicht irgendwo ganz einseitig die Schuld sehen.
Es ist in der Tat ein schwieriger Prozess, wir stehen nicht ganz am Anfang, also wir erleben ja auch, dass sich sozusagen die Strukturen verändern: Früher sprach man von Staatskirchenrecht, mittlerweile hat sich so ein Begriff durchgesetzt "Religionsverfassungsrecht". Da merkt man, das ist schon eine Orientierung, die über die traditionellen Kirchen hinausgeht. Also der Staat hat in der Tat hier Gerechtigkeit zu gewährleisten für alle. Und das ist ein hoher Anspruch, ein schwieriger Anspruch – den haben wir sicher nicht ganz eingelöst.
Fritz: Herr Bielefeldt, noch ganz kurz zum Schluss: Sie waren Sonderberichterstatter für Religions- und Weltanschauungsfreiheit des UN-Menschenrechtsrats. Wo stehen wir in Sachen Religionsfreiheit in Deutschland im internationalen Vergleich?
Bielefeldt: Ich habe es eben schon mal so angedeutet, wenn man Deutschland vergleicht mit Ländern, in denen richtig knallharte Repression stattfindet, nehmen wir das Beispiel China, da hat man den Eindruck, wir leben hier doch unter sehr guten Verhältnissen. Das sollte aber natürlich kein Anlass zur Selbstzufriedenheit sein. Also, in Deutschland haben wir ein gutes Klima, auch Dialog zwischen Religionsgemeinschaften, wir haben eine sehr liberale Rechtsprechung.
Wir haben aber vor sieben Jahren auch bei der Beschneidungsdebatte, die ja zum Teil recht wüst ging, erlebt, dass der gesellschaftliche Konsens bröckeln kann. Also deshalb: Wir sollten nicht in Selbstzufriedenheit abgleiten, aber auf der anderen Seite uns eingestehen – wir haben ganz gute Verhältnisse.
Fritz: Ich bedanke mich bei Heiner Bielefeldt für das Gespräch, er ist katholischer Theologe, Philosoph und Historiker sowie Professor an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Vielen Dank für das Gespräch.
Bielefeldt: Ich danke Ihnen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.