"Wir befinden uns in der ehemaligen Gaskammer der Tötungsanstalt oder ‚Euthanasie-Anstalt‘ Pirna-Sonnenstein, in der zwischen dem 28. Juni 1940 und dem 24. August 1941 13.720 psychisch kranke und geistig behinderte Menschen den Gastod fanden."
Der Historiker Boris Böhm ist Leiter dieser Gedenkstätte in Sachsen, wo an die Opfer des nationalsozialistischen "Euthanasie"-Programms erinnert wird.
"Sie wurden unter dem Vorwand, es ginge zum Duschen, in diesen Kellerraum geführt, in dem einige Duschattrappen angebracht waren und Holzbänke standen mit Seife, Waschlappen, Handtüchern, um diese Täuschung bis zum letzten Moment diesen Menschen vorzugaukeln."
Sechs solcher "Euthanasie-Anstalten" gab es im Deutschen Reich. Die Behörde, die den zigtausendfachen Mord an behinderten Menschen koordinierte, saß in der Berliner Tiergartenstraße. Ab Herbst 1939 wurden von dort medizinische Fragebögen an private Heime verschickt. Man wollte sogenannte lebensunwerte Patienten ausfindig machen, um sie in staatlich kontrollierte Einrichtungen verlegen und töten zu können.
Pastor durchschaut und dokumentiert grausame Praxis
Pastor Paul Gerhard Braune ist damals Leiter der Hoffnungstaler Anstalten Lobetal bei Berlin. Zudem ist er als Vizepräsident des "Central-Ausschusses der Inneren Mission der evangelischen Kirche" auch für andere Heime zuständig. Ihm kommen die vielen Verlegungsanordnungen verdächtig vor. Gemeinsam mit Friedrich von Bodelschwingh Junior, Leiter der Bielefelder Bethel-Anstalten, beginnt er mit Nachforschungen und schreibt seine Erkenntnisse am 9. Juli 1940 in einer Denkschrift nieder.
"Betrifft: Planmäßige Verlegung der Insassen von Heil- und Pflegeanstalten. Im Laufe der letzten Monate ist in den verschiedenen Gebieten des Reiches beobachtet worden, dass fortlaufend eine Fülle von Insassen der Heil- und Pflegeanstalten verlegt werden, bis nach einigen Wochen die Todesnachricht bei den Angehörigen eintrifft. (…) Die Gleichartigkeit der Maßnahmen und ebenso der Begleitumstände schaltet jeden Zweifel darüber aus, dass es sich hierbei um eine Maßnahme handelt, die Tausende von ‚lebensunwerten‘ Menschen aus der Welt schafft."
Denkschrift löst Unruhe im Machtapparat aus
Braune benennt in seinem zwölfseitigen Memorandum Namen und Zahlen von verstorbenen oder vermissten Heiminsassen und listet die staatlichen Anstalten auf, in denen es ungewöhnlich viele Sterbefälle gibt. Mitte Juli übergibt er seine Denkschrift den zuständigen Berliner Behörden. Uwe Kaminsky, Historiker:
"Sie war ganz punktgenau formuliert für die Ministerien und für die Regimevertreter selbst, damit sie signalisiert bekamen: Hier wird festgestellt, dass es Krankenmord gibt im NS-Staat. Und das könnt ihr doch nicht zulassen. Sie hatte so einen Appellcharakter eigentlich."
Die Denkschrift gelangt nicht an die Öffentlichkeit, sorgt aber hinter den Fassaden des Machtapparates für große Unruhe, weil Braune darin belegen kann, dass auch Senile, an Tuberkulose Erkrankte, Kinder mit Behinderung und sogenannte Asoziale zur Tötung bestimmt waren.
"Damit stellte diese Denkschrift eine erste systematische Beschreibung der Kranken- und Behindertenmorde in Deutschland dar. Und dadurch, dass sie ja zu verschiedenen Ministern des NS-Staates und dann schließlich auch an die Reichskanzlei als politische Führungszentrale gelangte, hatte sie eine ganz zentrale Bedeutung."
Verhaftung ohne schlimmere Konsequenzen
Braune wird verhaftet und zehn Wochen in der Berliner Gestapo-Zentrale gefangen gehalten. Ein Einschüchterungsversuch. Vor schlimmeren Konsequenzen bewahren ihn seine Funktion innerhalb der evangelischen Kirche und seine guten Beziehungen zu einflussreichen protestantischen und durchaus vaterlandstreu gesinnten Heeresoffizieren.
"Das gilt auch in ganz besonderem Maße für Braune selbst, der durchaus staatsloyal normalerweise agierte. Dessen Vertrauen war allerdings dann durch die Vorgänge, die durch die NS-‚Euthanasie‘ stattfanden, tief erschüttert. Diese Ermordung widersprach dem christlichen Tötungsverbot und natürlich der christlichen Sittenlehre."
Das Töten geht weiter – Braune kann viele Patienten bewahren
Ende August 1941 führen lauter werdende Proteste zur Schließung der "Euthanasie"- Anstalten. In den staatlichen Heimen geht das Morden jedoch weiter: durch planmäßigen Nahrungsentzug und Verabreichung von Medikamenten.
Paul Gerhard Braune bleibt bis zu seinem Tod 1954 Leiter der Hoffnungstaler Anstalten Lobetal, wo es ihm bis Kriegsende gelingt, viele Patienten vor dem Zugriff durch die Nazis zu bewahren.
Paul Gerhard Braune bleibt bis zu seinem Tod 1954 Leiter der Hoffnungstaler Anstalten Lobetal, wo es ihm bis Kriegsende gelingt, viele Patienten vor dem Zugriff durch die Nazis zu bewahren.