Adalbert Siniawski: Der Alexanderplatz ist einer der belebtesten Plätze in Europa und sehr chaotisch: Straßenbahnen, Menschen strömen aus dem Bahnhof und den Einkaufszentren, dazwischen die jungen Obdachlosen, die Sie mit der Kamera getroffen haben: Wie fügen die sich in dieses Chaos ein?"
Göran Gnaudschun: Die sind immer an unterschiedlichen Orten. Also es gibt keinen Punkt, wo man weiß: Da sitzen die immer. Es hängt immer davon ab, wer als Erstes irgendwo sitzt und dann setzen sich welche dazu.
Siniawski: Was macht diesen Platz so besonders?
Gnaudschun: Hier ist der größte Treffpunkt von dieser Szene. Also, es gibt noch mehr, aber hier kulminiert so was. Das ist natürlich für Fotografen immer interessant, da hinzugehen, wo etwas am intensivsten ist, wo etwas am intensivsten gelebt wird. Und dieser doch, ja, anonyme Platz bietet sich natürlich sehr dafür an, für Leute, die eine gewisse Anonymität auch suchen, dann aber wiederum so eine Geborgenheit und Freundschaft in so einer Szene.
Siniawski: Ist es ein Rückzugsraum? Ein Schutzraum? Oder eine Parallelwelt?
Gnaudschun: Alles drei. Parallelwelt, eigene Welt. Also es vermischt sich alles. Es gibt die Obdachlosen, es gibt die Trinker, es gibt die, die sonst keinen haben, keine Freunde, außer dem Alex. Dann gibt es die Szene, die sich hier auch aus jugendkulturellen Gründen, sage ich mal, trifft. Das mischt sich aber alles, man kann es auch nicht so sauber voneinander trennen, dass man sagt: Das sind die und die. Weil: Die kennen sich ja alle.
Siniawski: Die Passanten, die gucken weg. Aber wenn man jetzt ihre Arbeiten sieht, schauen die Wohnungslosen, die Punks und so weiter die Betrachter ja intensiv an. Man muss die sozusagen komplett wahrnehmen. Ist ihre Fotoarbeit so zu verstehen, dass Sie den Normalbürger auf diese Gruppe in der Gesellschaft hinweisen wollen? Denen ein Gesicht geben wollen?
Gnaudschun: Ich möchte denen sowohl ein Gesicht als auch eine Stimme geben. Das Verblüffende für viele ist, wenn die diese Porträts sehen, dass sie nie gedacht haben, dass die Menschen so gucken können. Weil man denen immer so eine Zerstörtheit, Verrücktheit, so was unterstellen möchte, wenn man sich damit nicht auseinandersetzt. Und ich habe das Gefühl, dass es mein Vermögen ist, als Porträtist so eine Art von Würde hervorzukratzen, einen bestimmten Stolz auch herauszustellen. Also das ist ja eigentlich das Faszinierende, das ist auch das, was mich an der Szene auch fasziniert, also: Was macht Menschsein aus? Menschsein macht den Stolz aus. Das ist das, was einem keiner nehmen kann. Und dementsprechend präsentieren sich diese Leute auch vor meiner Kamera. Also, man muss sich vorstellen: So ein junges Mädchen im Punk-Outfit mit einer verbundenen Hand, steht im Halbprofil vor mir, und hinter ihr sind diese Bauten des Alexanderplatzes, die Sonne geht unter. Die wirkt völlig allein in diesem Moment, hat aber so eine Würde, so eine Kraft, so was Majestätisches, in Abwesenheit von Macht. Und das fand ich total faszinierend.
Siniawski: Was macht den Reiz des Porträts aus – also dieser Form?
Gnaudschun: Es entsteht etwas, was unplanbar ist. Es entsteht durch dieses Fotografieren so eine übergeordnete Wirklichkeit mit demjenigen, der da direkt vor mir stand, so eine Art – wie soll ich sagen? – so eine Art Transzendenz. Also, dass derjenige für mehr steht, als nur für sich. Und dann wirkt das Bild so merkwürdig intensiv und unwirklich. Da entsteht was Neues, was mit dem vielleicht gar nichts zu tun hat, obwohl ich sagen muss: Die Leute schätzen diese Porträts sehr, weil sie plötzlich nicht als Opfer wahrgenommen sind.
Siniawski: Man stellt sich natürlich bei diesen Bildern, wenn man sie betrachtet, die Frage: Gab es nicht Vorbehalte gegenüber Ihnen und Ihrem Projekt? Also ich würde vermuten, dass insbesondere dieses Milieu ziemlich skeptisch ist, wenn sich jemand ihm nähern will. Wie war da der Beginn?
Gnaudschun: Das Milieu ist sehr skeptisch. Bis daraufhin, dass manchmal auch Journalisten blutige Nase kriegen, wenn sie sich dem falsch nähern. Man muss den Leuten zuhören, man muss denen Zeit geben, man muss selber viel Zeit verbringen. Ich war halt jede Woche einen Tag hier, vom frühen Nachmittag bis in die Nacht.
Siniawski: Sie haben auch tatsächlich mit denen Bier getrunken, mit denen Nächte lang verbracht – wie war das für Sie?
Gnaudschun: Ich würde mich zerfasern, wenn ich so "mitleben" würde. Aber ich habe über Gespräche und über Immer-da-Sein total viele Leute kennengelernt, die dann auch mir ihr Vertrauen geschenkt haben und mir auch sehr tiefe Interviews gegeben haben.
Siniawski: Genau, wo Sie das schon ansprechen, Sie haben auch Interviews geführt. Was haben Sie in den Gesprächen erfahren? Was sind das für Leute?
Gnaudschun: Es geht ganz viel um Vergangenheit. Um Kindheit, um Jugend. Um Verletztwerden. Um Wegmüssen. Man muss dazu sagen: Die Alex-Szene, da sind gar nicht so viele Berliner dabei, also die meisten kommen aus irgendwelchen anderen Städten, mussten weg oder wurden rausgeschmissen oder haben, was weiß ich, ihr Kinderheim verlassen oder so. Und wo geht man hin, wenn man in die weite Welt will? Berlin, Alexanderplatz. Und dann steigen sie hier aus und lernen dann die kennen, die ein ähnliches Schicksal haben, die ähnlich drauf sind. Kriegen die ersten Tipps, werden von denen – man kann auch sagen – auf eine gewisse Art und Weise sozialisiert. Weil, wenn man alleine ist, dann nimmt man auch gern die Verhaltensweisen der anderen schnell an, weil: Diese Gruppe bietet auch irgendwie Schutz. Und das ist eigentlich das Faszinierende, dass einerseits: klar, es gibt natürlich auch Gewalt und Blut, aber es gibt auch Schutz und auch eine gewisse Form von Geborgenheit.
Siniawski: Sie sind also auch, könnte man sagen, journalistisch an dieses Thema rangegangen. Reicht das künstlerische Bild alleine nicht aus und deswegen haben Sie auch Interviews geführt? Oder was war der Grund, auch Interviews neben die Bilder zu stellen?
Gnaudschun: Ich habe am Anfang nur Porträts gemacht. Und das sind Porträts von Würde und Kraft und so. Aber ich habe gemerkt, dass ist nur die Seite der Medaille, die mich total interessiert, aber ich würde damit dem Thema nicht gerecht werden. Was natürlich dazukommt, sind Gewalt, Drogen, Alkohol. Es gibt einen riesigen - wie soll man sagen? - so einen Sumpf, aus dem die Leute schwer rauskommen. Und wie kriegt man das wieder rein? Also ich habe auch keine Lust, ein Bild zu machen, wie jetzt jemand Drogen konsumiert. Das habe ich schon 1000 Mal gesehen, das langweilt mich total. Aber wenn man das beschreibt, oder wenn jemand einem was darüber erzählt, dann entsteht, glaube ich, beim Betrachter und Leser in dem Moment was Eigenes. In dem Moment brauchte ich eine Erweiterung meiner Möglichkeiten. Weil ich dachte: So was kann jetzt nur Text leisten. Außerdem ist es wirklich auch interessant, Interviews zu führen, weil sich die Leute einem auch so sehr widmen und sich öffnen und Sachen erzählen, die hätten sie sonst beim Bier nie erzählt. Weil: In dem Moment ist es eine besondere Situation, die nur dieser Person gegenüber so eine bestimmte Wertschätzung gibt, ja.
Siniawski: Haben Sie auch noch Kontakt zu denen, auch heute?
Gnaudschun: Ja, ja, ja. Ich habe gerade eben eine getroffen. Und ich gehe jetzt auch immer noch hin und fotografiere noch weiter und es sind ja auch alle im Netz verbunden, also ich pflege schon regelmäßig die Kontakte. Bestimmte Leute sind mir auch sehr ans Herz gewachsen. Mich hat's als Menschen total weitergebracht, weil ich bestimmte Erfahrungen gemacht habe, die ich sonst nie hätte machen können. Weil ich bestimmte Einblicke in einen Teil der Gesellschaft bekommen habe, der sonst ja eigentlich auch eher verschlossen ist. Obwohl ich sagen muss, andererseits: Die Decke dahin ist verdammt dünn! Also es braucht gar nicht so viel, um irgendwie auch plötzlich auf der Straße zu sitzen. Und das habe ich da auch verstanden. Außerdem habe ich auch verstanden, wie wichtig Familie ist - ich habe selber zwei Söhne. Und wie wichtig eigentlich Liebe ist. Das meiste Elend in der Welt kommt durch das Fehlen von Liebe – das habe ich da gelernt.
Siniawski: In Ihren früheren Arbeiten haben Sie zum Beispiel auch die Hausbesetzer-Szene porträtiert. Der Titel war damals: "Vorher müsst ihr uns erschießen." Woher kommt Ihr Interesse an den sogenannten Randständigen der Gesellschaft?
Gnaudschun: Man kann sagen: "Vorher müsst ihr uns erschießen" war ja fast so ein autobiografisches Ding, es ging ja um meine Szene und das, was ich selber erlebt habe. Ja, ich war 18, als die Wende kam und dann standen die ganzen Häuser leer, und dann war es so eine großartige Erfahrung, zu sagen: Okay, man hat ein paar Freunde und geht dann rein – und bildet selber eine Parallelwelt, sozusagen.
Siniawski: Sie waren ja früher auch Gitarrist der Punk-Band – ich hoffe, ich spreche es richtig aus 44 ...
Gnaudschun: 44 Leningrad, 44 Leningrad hießen die. Gitarrist, sieben Jahre. Wir sind immer rumgetourt. Das war eine tolle Zeit. Ich habe damals auch fotografiert. Also es war so eine Art Tagebuch, Reisetagebuch, Roadmovie, Bandgeschichte, Freunde, Wegbegleiter.
Siniawski: Und wann ist daraus Ihr Interesse an Fotografie, vielleicht künstlerisch und professionell das machen zu wollen, entstanden?
Gnaudschun: Ich habe dann 1994 angefangen, künstlerische Fotografie zu studieren. Und ist bei mir sehr schnell das passiert, dass ich wusste: Das ist genau das Richtige! Das ist das, was ich mag, was ich kann, womit ich vielleicht der Welt auch was Neues hinzufügen kann im besten Falle. Ich glaube nicht, dass Künstler Antworten geben können – aber sie können zumindest Fragen stellen.
Informationen:
Die Homepage von Göran Gnaudschun
Eine kleine Auswahl der Porträts von "Berlin Alexanderplatz" sind bis zum 15. Dezember im Literaturforum im Brecht-Haus Berlin zu sehen.
Göran Gnaudschun: Die sind immer an unterschiedlichen Orten. Also es gibt keinen Punkt, wo man weiß: Da sitzen die immer. Es hängt immer davon ab, wer als Erstes irgendwo sitzt und dann setzen sich welche dazu.
Siniawski: Was macht diesen Platz so besonders?
Gnaudschun: Hier ist der größte Treffpunkt von dieser Szene. Also, es gibt noch mehr, aber hier kulminiert so was. Das ist natürlich für Fotografen immer interessant, da hinzugehen, wo etwas am intensivsten ist, wo etwas am intensivsten gelebt wird. Und dieser doch, ja, anonyme Platz bietet sich natürlich sehr dafür an, für Leute, die eine gewisse Anonymität auch suchen, dann aber wiederum so eine Geborgenheit und Freundschaft in so einer Szene.
Siniawski: Ist es ein Rückzugsraum? Ein Schutzraum? Oder eine Parallelwelt?
Gnaudschun: Alles drei. Parallelwelt, eigene Welt. Also es vermischt sich alles. Es gibt die Obdachlosen, es gibt die Trinker, es gibt die, die sonst keinen haben, keine Freunde, außer dem Alex. Dann gibt es die Szene, die sich hier auch aus jugendkulturellen Gründen, sage ich mal, trifft. Das mischt sich aber alles, man kann es auch nicht so sauber voneinander trennen, dass man sagt: Das sind die und die. Weil: Die kennen sich ja alle.
Siniawski: Die Passanten, die gucken weg. Aber wenn man jetzt ihre Arbeiten sieht, schauen die Wohnungslosen, die Punks und so weiter die Betrachter ja intensiv an. Man muss die sozusagen komplett wahrnehmen. Ist ihre Fotoarbeit so zu verstehen, dass Sie den Normalbürger auf diese Gruppe in der Gesellschaft hinweisen wollen? Denen ein Gesicht geben wollen?
Gnaudschun: Ich möchte denen sowohl ein Gesicht als auch eine Stimme geben. Das Verblüffende für viele ist, wenn die diese Porträts sehen, dass sie nie gedacht haben, dass die Menschen so gucken können. Weil man denen immer so eine Zerstörtheit, Verrücktheit, so was unterstellen möchte, wenn man sich damit nicht auseinandersetzt. Und ich habe das Gefühl, dass es mein Vermögen ist, als Porträtist so eine Art von Würde hervorzukratzen, einen bestimmten Stolz auch herauszustellen. Also das ist ja eigentlich das Faszinierende, das ist auch das, was mich an der Szene auch fasziniert, also: Was macht Menschsein aus? Menschsein macht den Stolz aus. Das ist das, was einem keiner nehmen kann. Und dementsprechend präsentieren sich diese Leute auch vor meiner Kamera. Also, man muss sich vorstellen: So ein junges Mädchen im Punk-Outfit mit einer verbundenen Hand, steht im Halbprofil vor mir, und hinter ihr sind diese Bauten des Alexanderplatzes, die Sonne geht unter. Die wirkt völlig allein in diesem Moment, hat aber so eine Würde, so eine Kraft, so was Majestätisches, in Abwesenheit von Macht. Und das fand ich total faszinierend.
Siniawski: Was macht den Reiz des Porträts aus – also dieser Form?
Gnaudschun: Es entsteht etwas, was unplanbar ist. Es entsteht durch dieses Fotografieren so eine übergeordnete Wirklichkeit mit demjenigen, der da direkt vor mir stand, so eine Art – wie soll ich sagen? – so eine Art Transzendenz. Also, dass derjenige für mehr steht, als nur für sich. Und dann wirkt das Bild so merkwürdig intensiv und unwirklich. Da entsteht was Neues, was mit dem vielleicht gar nichts zu tun hat, obwohl ich sagen muss: Die Leute schätzen diese Porträts sehr, weil sie plötzlich nicht als Opfer wahrgenommen sind.
Siniawski: Man stellt sich natürlich bei diesen Bildern, wenn man sie betrachtet, die Frage: Gab es nicht Vorbehalte gegenüber Ihnen und Ihrem Projekt? Also ich würde vermuten, dass insbesondere dieses Milieu ziemlich skeptisch ist, wenn sich jemand ihm nähern will. Wie war da der Beginn?
Gnaudschun: Das Milieu ist sehr skeptisch. Bis daraufhin, dass manchmal auch Journalisten blutige Nase kriegen, wenn sie sich dem falsch nähern. Man muss den Leuten zuhören, man muss denen Zeit geben, man muss selber viel Zeit verbringen. Ich war halt jede Woche einen Tag hier, vom frühen Nachmittag bis in die Nacht.
Siniawski: Sie haben auch tatsächlich mit denen Bier getrunken, mit denen Nächte lang verbracht – wie war das für Sie?
Gnaudschun: Ich würde mich zerfasern, wenn ich so "mitleben" würde. Aber ich habe über Gespräche und über Immer-da-Sein total viele Leute kennengelernt, die dann auch mir ihr Vertrauen geschenkt haben und mir auch sehr tiefe Interviews gegeben haben.
Siniawski: Genau, wo Sie das schon ansprechen, Sie haben auch Interviews geführt. Was haben Sie in den Gesprächen erfahren? Was sind das für Leute?
Gnaudschun: Es geht ganz viel um Vergangenheit. Um Kindheit, um Jugend. Um Verletztwerden. Um Wegmüssen. Man muss dazu sagen: Die Alex-Szene, da sind gar nicht so viele Berliner dabei, also die meisten kommen aus irgendwelchen anderen Städten, mussten weg oder wurden rausgeschmissen oder haben, was weiß ich, ihr Kinderheim verlassen oder so. Und wo geht man hin, wenn man in die weite Welt will? Berlin, Alexanderplatz. Und dann steigen sie hier aus und lernen dann die kennen, die ein ähnliches Schicksal haben, die ähnlich drauf sind. Kriegen die ersten Tipps, werden von denen – man kann auch sagen – auf eine gewisse Art und Weise sozialisiert. Weil, wenn man alleine ist, dann nimmt man auch gern die Verhaltensweisen der anderen schnell an, weil: Diese Gruppe bietet auch irgendwie Schutz. Und das ist eigentlich das Faszinierende, dass einerseits: klar, es gibt natürlich auch Gewalt und Blut, aber es gibt auch Schutz und auch eine gewisse Form von Geborgenheit.
Siniawski: Sie sind also auch, könnte man sagen, journalistisch an dieses Thema rangegangen. Reicht das künstlerische Bild alleine nicht aus und deswegen haben Sie auch Interviews geführt? Oder was war der Grund, auch Interviews neben die Bilder zu stellen?
Gnaudschun: Ich habe am Anfang nur Porträts gemacht. Und das sind Porträts von Würde und Kraft und so. Aber ich habe gemerkt, dass ist nur die Seite der Medaille, die mich total interessiert, aber ich würde damit dem Thema nicht gerecht werden. Was natürlich dazukommt, sind Gewalt, Drogen, Alkohol. Es gibt einen riesigen - wie soll man sagen? - so einen Sumpf, aus dem die Leute schwer rauskommen. Und wie kriegt man das wieder rein? Also ich habe auch keine Lust, ein Bild zu machen, wie jetzt jemand Drogen konsumiert. Das habe ich schon 1000 Mal gesehen, das langweilt mich total. Aber wenn man das beschreibt, oder wenn jemand einem was darüber erzählt, dann entsteht, glaube ich, beim Betrachter und Leser in dem Moment was Eigenes. In dem Moment brauchte ich eine Erweiterung meiner Möglichkeiten. Weil ich dachte: So was kann jetzt nur Text leisten. Außerdem ist es wirklich auch interessant, Interviews zu führen, weil sich die Leute einem auch so sehr widmen und sich öffnen und Sachen erzählen, die hätten sie sonst beim Bier nie erzählt. Weil: In dem Moment ist es eine besondere Situation, die nur dieser Person gegenüber so eine bestimmte Wertschätzung gibt, ja.
Siniawski: Haben Sie auch noch Kontakt zu denen, auch heute?
Gnaudschun: Ja, ja, ja. Ich habe gerade eben eine getroffen. Und ich gehe jetzt auch immer noch hin und fotografiere noch weiter und es sind ja auch alle im Netz verbunden, also ich pflege schon regelmäßig die Kontakte. Bestimmte Leute sind mir auch sehr ans Herz gewachsen. Mich hat's als Menschen total weitergebracht, weil ich bestimmte Erfahrungen gemacht habe, die ich sonst nie hätte machen können. Weil ich bestimmte Einblicke in einen Teil der Gesellschaft bekommen habe, der sonst ja eigentlich auch eher verschlossen ist. Obwohl ich sagen muss, andererseits: Die Decke dahin ist verdammt dünn! Also es braucht gar nicht so viel, um irgendwie auch plötzlich auf der Straße zu sitzen. Und das habe ich da auch verstanden. Außerdem habe ich auch verstanden, wie wichtig Familie ist - ich habe selber zwei Söhne. Und wie wichtig eigentlich Liebe ist. Das meiste Elend in der Welt kommt durch das Fehlen von Liebe – das habe ich da gelernt.
Siniawski: In Ihren früheren Arbeiten haben Sie zum Beispiel auch die Hausbesetzer-Szene porträtiert. Der Titel war damals: "Vorher müsst ihr uns erschießen." Woher kommt Ihr Interesse an den sogenannten Randständigen der Gesellschaft?
Gnaudschun: Man kann sagen: "Vorher müsst ihr uns erschießen" war ja fast so ein autobiografisches Ding, es ging ja um meine Szene und das, was ich selber erlebt habe. Ja, ich war 18, als die Wende kam und dann standen die ganzen Häuser leer, und dann war es so eine großartige Erfahrung, zu sagen: Okay, man hat ein paar Freunde und geht dann rein – und bildet selber eine Parallelwelt, sozusagen.
Siniawski: Sie waren ja früher auch Gitarrist der Punk-Band – ich hoffe, ich spreche es richtig aus 44 ...
Gnaudschun: 44 Leningrad, 44 Leningrad hießen die. Gitarrist, sieben Jahre. Wir sind immer rumgetourt. Das war eine tolle Zeit. Ich habe damals auch fotografiert. Also es war so eine Art Tagebuch, Reisetagebuch, Roadmovie, Bandgeschichte, Freunde, Wegbegleiter.
Siniawski: Und wann ist daraus Ihr Interesse an Fotografie, vielleicht künstlerisch und professionell das machen zu wollen, entstanden?
Gnaudschun: Ich habe dann 1994 angefangen, künstlerische Fotografie zu studieren. Und ist bei mir sehr schnell das passiert, dass ich wusste: Das ist genau das Richtige! Das ist das, was ich mag, was ich kann, womit ich vielleicht der Welt auch was Neues hinzufügen kann im besten Falle. Ich glaube nicht, dass Künstler Antworten geben können – aber sie können zumindest Fragen stellen.
Informationen:
Die Homepage von Göran Gnaudschun
Eine kleine Auswahl der Porträts von "Berlin Alexanderplatz" sind bis zum 15. Dezember im Literaturforum im Brecht-Haus Berlin zu sehen.