Wer sind die neuen Rechten? Wer sind ihre Ideengeber, und worin haben sie ihre Wurzeln? Thomas Wagner stellt erstmalig heraus, wie wichtig 1968 für das rechte Lager war, weil es einen Bruch in der Geschichte des radikalrechten politischen Spektrums markiert, der bis heute nachwirkt. Er hat dazu zahlreiche Gespräche geführt, über die er in 'Essay und Diskurs' berichtet. Thomas Wagners Buch 'Die Angstmacher. 1968 und die Neuen Rechten' erschien 2017 im Aufbau Verlag.
Monika Dittrich: 1968: Das Jahr ist zum Symbol geworden für linke Revolte und Studentenbewegung, für außerparlamentarische Opposition und Flower-Power. Die meisten denken bei '68 vermutlich an eine linke Bewegung, die damals, vor 50 Jahren, die Republik veränderte. Der Soziologe Thomas Wagner, selbst ein erklärter Linker, vertritt eine steile These: 1968 sei nämlich nicht nur die Geburtsstunde einer neuen Linken gewesen jenseits der Sozialdemokratie, sondern auch die einer neuen Rechten. Das schreibt er in seinem Buch "Die Angstmacher", in dem er herausarbeitet, wie wichtig 1968 für das rechte Lager war. Herzlich willkommen, Thomas Wagner!
Thomas Wagner: Guten Morgen, Frau Dittrich, vielen Dank für die Einladung.
Dittrich: Lassen Sie uns zunächst einmal klären, über wen wir sprechen. Wer sind die "Neuen Rechten"?
Wagner: Also es gibt einen, sagen wir mal: intellektuellen Zirkel oder verschiedene Intellektuellenzirkel, die sich selbst so bezeichnen, und zwar seit Mitte, Ende der 60er-Jahre. Also parallel zu der Selbstbezeichnung neuer Linker taucht dann auch im rechten Milieu die Selbstbezeichnung "Neue Rechte" auf. Das waren jüngere Leute, Studenten, Studierende, die einen frischen Wind in ihr eigenes Lager hinein, in ihr eigenes Milieu hineinbringen wollten.
Dittrich: Nun schreiben Sie in Ihrem Buch, aber auch in vielen Aufsätzen und Artikeln, dass die Neue Rechte sich hat inspirieren lassen von 1968. Was heißt das genau?
Technik der Provokation
Wagner: Na ja, ich zeichne zwei Linien nach: Die eine Linie ist, dass man politische Methoden aufgreift der gewissermaßen Platzierung im öffentlichen Raum und der Aufmerksamkeitserzeugung, und das Zweite ist die Adaption oder Vereinnahmung oder Adaption von politischen Inhalten.
Ich würde ganz gern anfangen mit den Aufmerksamkeitserzeugungsstrategien. Das ist vor allen Dingen die Technik der Provokation, die in einem großen Umfang in der Bundesrepublik eingesetzt wurde seit Mitte der 60er-Jahre, eine Strategie, und zwar von linken Studierenden aus dem SDS, dem Sozialistischen Deutschen Studentenbund. Der antiautoritäre Zweig des SDS, der in Berlin aktiv war - der verbindet sich mit Personen wie Rudi Dutschke, Bernd Rabehl, Dieter Kunzelmann -, die haben Techniken, Provokationstechniken aus der subversiven Aktion mit in die Studentenbewegung gebracht.
Das heißt, es ist sozusagen der Versuch, Institutionen zu verunsichern, zu provozieren, zum Überreagieren zu verleiten und dadurch gewissermaßen die Gesellschaft oder die Institution zu entlarven als so repressiv, wie man vorher schon behauptet hat, dass sie ist gewissermaßen.
Dittrich: Spaßguerilla.
Wagner: Spaßguerilla hat man es später genannt, diese Aktionsform ist eigentlich ein Ausweg der Verzweiflung, nämlich die Verzweiflung bestand schon Ende der 50er- und Anfang der 60er-Jahre darin, dass man dachte, der Kapitalismus und die kulturindustrielle Vereinnahmung von jeglichem radikalen Protest führt dazu, dass die soziale Revolution, die man anstrebt, gar nicht mehr möglich ist, weil die Arbeiterbewegung, die im klassischen, marxistischen, geschichtsphilosophischen Konzept der Träger der Revolution ist, wird gewissermaßen sediert, stillgestellt, ist nicht mehr der Träger, der mögliche Träger einer Revolution.
Darin sind junge, aus künstlerisch-avantgardistischen Zusammenhängen kommende und Marx und Adorno und Freud und ähnliche Autoren studierende junge Leute, die politisch was bewegen wollten, zunächst mal verzweifelt, und haben dann gedacht, wir können es ja vielleicht einfach mal mit der Praxis probieren und haben solche Aktionsformen ausprobiert, die als Modell in der situationistischen Internationale, also in dieser internationalen Künstlerbewegung, schon vorgedacht waren, aber so richtig praktiziert wurde das dann von den Aktivisten der Subversiven Aktion, die das dann in die Studentenbewegung mit reingebracht haben.
"Die Gegenseite zur Überreaktion veranlasst"
Dittrich: Das ist etwas, wovon sich die Neue Rechte inspirieren lässt. Können Sie ein Beispiel nennen für eine Aktion, vielleicht auch in jüngerer Zeit, wo Sie sagen würden, das geht auf diese Tradition zurück?
Wagner: Martin Sellner, der Sprecher der Identitären, hat mir Folgendes erzählt: Vor einigen Jahren gab es in der Uni Wien, wo sich die Identitärengruppe zum ersten Mal bemerkbar gemacht hat, zur gleichen Zeit eine Gruppe von sozialwissenschaftlichen Studierenden, die darauf aufmerksam geworden ist und versucht haben zu recherchieren, was sind denn die Identitären für Leute. Und eine dieser Aktivistinnen, die dann auch ein Buch über die identitäre Bewegung mit herausgebracht hat, hat dort an der Uni einen Vortrag gehalten über die Identitären.
Und dann sagte Sellner, sie hätten sich mit verschiedenen Leuten ihrer Gruppe ins Publikum gemischt, und jeder habe eine Rose dabeigehabt, und als dann die Vortragende mit ihrem Vortrag begann, sei der erste aufgestanden mit einer Rose, sei nach vorne getreten, habe ihr die Rose überreicht und sie eingeladen, doch nicht bloß immer über die Identitären zu reden, sondern mit ihnen und zum Identitären-Stammtisch zu kommen.
Die Person, also die Vortragende, war dementsprechend erst mal irritiert. Vor allen Dingen nahm das dann zu, als wenige Minuten später die nächste Person aufstand mit einer Rose in der Hand, nach vorne ging und den gleichen Vortrag machte, nämlich, dass sie herzlich eingeladen sei.
Dann ging das eine ganze Weile, bis ihr der Kragen geplatzt ist und sie gesagt hat, gesagt haben soll: "Alle Leute, die im Saal sind und eine Rose mit dabei haben, müssen den Saal verlassen", und das wäre gewissermaßen so eine …
Dittrich: Damit haben die ihr Ziel erreicht im Zweifelsfall.
Wagner: Damit haben sie sozusagen eine Provokation erreicht, die Gegenseite zur Überreaktion veranlasst, das heißt, sie haben sie zum Mitspielen gebracht und haben sich am Ende ins Fäustchen gelacht darüber, wie viel Chaos sie dort verursacht haben und möglicherweise auch noch die Lacher auf ihrer Seite.
Neurechte Ideen für die Wirtschaftsordnung
Dittrich: Wir haben nun darüber gesprochen, dass es eine Attraktivität der Provokation, der Aktionsform gab. Wie ist es mit inhaltlichen Aspekten? Da gibt es, wenn man jetzt so drüber nachdenkt, doch vermutlich eher viel Trennendes, oder?
Wagner: Das ist richtig, da haben Sie vollkommen recht, wobei man sagen muss, dass das rechte Milieu, was zentrale Momente der gesellschaftlichen Verfassung, nämlich die Wirtschaftsordnung, betrifft, überhaupt gar keine einheitliche Linie erfährt. Es ist überwiegend so, dass im konservativen und rechtskonservativen Lager tatsächlich eine Affinität ist zur liberalen Wirtschaftsordnung oder vielleicht auch zur sozialen Marktwirtschaft der Bundesrepublik, aber es gab bis in die 20er-Jahre zurückreichend und dann eben im Zuge der 68er-Revolte erneut in Erscheinung tretend eine Tendenz einer Gruppe dieses Milieus, eine andere, eine sozialistische Wirtschaftsordnung anzustreben.
Das sind Leute, die sich selber eben damals als Neue Rechte bezeichnet haben oder auch als Nationalrevolutionäre, und die haben dann tatsächlich angefangen, auch wenigstens teilweise, linke, marxistische Literatur zu studieren, um die Gesellschaftsordnung, die kapitalistisch verfasste Wirtschaftsordnung, als Ursache für etwas zu identifizieren, was sie ablehnen, nämlich eine Zerstörung althergebrachter Ordnungen, Traditionen, gemeinschaftlicher Formen, auch Hierarchien. Also der Kapitalismus wurde als Zerstörer des Hergebrachten identifiziert, und man nahm daher eine antikapitalistische Haltung ein.
In Deutschland verbindet sich das mit Lektüregruppen, deren Köpfe weitgehend vergessen sind. Der bekannteste Name noch ist Henning Eichberg. Der ist letztes Jahr als Mitte 70er in Dänemark verstorben, wo er seit den frühen 80er-Jahren lebte, und der ist dann auch tatsächlich … hatte eine konsequente Entwicklung gemacht. Der hat sich am Ende im linken Lager verortet und war in der Socialistik Folkeparti Dänemarks engagiert im Kulturausschuss.
Dittrich: Nun sind die 68er trotzdem ein beliebtes Feindbild der Neuen Rechten, wo auch schon mal vom linksgrünen, versifften 68er-Milieu die Rede ist. Wie passt das zusammen?
Wagner: Ja, das hat sozusagen mehrere Komponenten: Die eine Komponente ist sicherlich, dass der Ausspruch, den sie da gebracht haben, etwa von Herrn Meuthen kommt, der ja ein Wirtschaftsliberaler ist, -
Dittrich: Von der AfD.
Wagner: - also selber gar nicht für diese, sagen wir mal: soziale Ausrichtung der AfD steht. Da ist es auch sozusagen sehr plausibel. Dann ist es natürlich überzogen - hat mir Martin Sellner auch gesagt -, das ist natürlich in der radikalen Form dann auch wieder …, in der radikalen Zuspitzung auch wiederum nicht ganz stimmt, aber man brauche eben diese Zuspitzung im politischen Feld.
Dann hat das natürlich auch etwas zu tun mit, sagen wir mal: seiner oberflächlichen Analyse der Auflösung derjenigen Institutionen, der Lebensweisen, der Traditionen, der Hierarchien, die von der Rechten beklagt würde. Eine oberflächliche Analyse kommt schnell zu dem Schluss, es sind die 68er schuld, die gewissermaßen für andere Formen der Sexualität, des Zusammenlebens von Mann und Frau, für die Abschaffung der Wehrpflicht, für bestimmte Reformen im Bildungssystem und so weiter eingetreten sind, also sind die sozusagen die Ursache für all diese Verwerfungen, die wir ablehnen, und das geht dann auch zum Teil über in, was jetzt die Nationalrevolutionären oder sagen wir mal: sozial orientierten jungen Rechten von heute betrifft, die sind ja 50 Jahre nach Henning Eichberg, also ganz die allerjüngste Rechte, die sagt dann natürlich auch so etwas wie, die 68er sind noch bis in die 70er-Jahre hinein mit dem Versprechen und mit dem Wunsch und mit der Forderung angetreten, das Wirtschaftssystem in eine sozialistische Richtung hinzubewegen.
Das haben sie nicht geschafft, was sie aber geschafft haben, ist eine Totalliberalisierung, nur in einem Bereich waren sie eben extrem unerfolgreich, nämlich bei dem Versuch, den Kapitalismus ordentlich einzudämmen oder abzuschaffen oder so.
Lebensmodus der Demokratie
Dittrich: Das ist ja auch eine Parallele, die Kritik am Kapitalismus, aber auch am Parlamentarismus, am Establishment. Trotzdem noch mal die Frage: Die linken 68er hatten ja beispielsweise überhaupt nichts Völkisches. Sie haben nicht vom deutschen Menschen geträumt oder von einem Ethnopluralismus, von dem heute die Rede ist, also der Vorstellung, dass es am besten ist, wenn jede Nation für sich bleibt ohne Einwanderung. Wie passt das zusammen?
Wagner: Na ja, jetzt muss man natürlich sagen, dass nicht jeder und jede, die in der AfD engagiert ist oder jeder und jede, die die AfD wählt, ein klares völkisches Konzept vertritt, sondern die AfD ist eine Sammlungsbewegung, und die völkische Betonung des in irgendeiner Form vielleicht sogar mindestens kulturellen, aber vielleicht auch rassischen Eigenen und so weiter, ist sozusagen ein Strang, der sich durch die Rechte zieht, ist aber nicht unbedingt verallgemeinerbar.
Also man kann beispielsweise eine Anti-Zuwanderungspolitik unterschiedlich begründen. Man kann sie völkisch begründen, man kann sie rassisch-biologisch begründen, man kann sie kulturalistisch als Ablehnung einer bestimmten Religion begründen, man kann aber auch andere Überlegungen anstellen, etwa die, dass es irgendwo Grenzen geben muss für die Aufnahme in ein politisches Gemeinwesen, dass irgendwo halt Grenzen gesetzt werden müssen und das gar nicht völkisch, rassistisch oder sonst wie begründen, und diese verschiedenen Begründungsform kann man aber in einer Partei, etwa der AfD, die ja eine Sammlungsbewegung ist, wo verschiedene Strömungen und Tendenzen zusammenkommen, in eine Forderung einbinden, nämlich zur Rückführung von Einwanderern und gewissermaßen Änderung am Asylrecht oder so.
Also das muss nicht alles völkisch begründet sein, aber es gibt natürlich völkische Begründungen in der AfD, so wie es allerdings auch rassistische Meinungen und Enthaltungen in anderen Parteien gibt. Ich war mal bei der SPÖ eingeladen in Oberösterreich und habe da beim Abendbrot ganz viele rassistische Äußerungen von aufrechten Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten gehört. Ich dachte, ich bin bei der AfD.
Dittrich: Wenn wir die Neue Rechte heute anschauen, sind die gefährlich für die Demokratie?
Wagner: Das wird sich zeigen. Also zunächst mal sind radikale Positionen als solche, wenn sie im öffentlichen Raum geäußert werden und wenn dort scharfe, zugespitzte Argumente auch debattiert werden, das Gegenteil von einer Gefährdung der Demokratie, sondern wären, wenn das nämlich geschieht, wenn das diskutiert wird und wenn diese offensive Auseinandersetzung geführt wird, gewissermaßen der Lebensmodus der Demokratie, denn eine Demokratie, in der alle der gleichen Meinung sind, ist eigentlich gar keine.
Dittrich: Aber sind es Verfassungsfeinde, über die wir sprechen?
Wagner: Man müsste ja sehen, ob dort Bestrebungen vorhanden sind, die verfassungsmäßige Ordnung abzuschaffen. Wenn das der Fall ist, dann ist es in der Bundesrepublik so, dass der Verfassungsschutz gewissermaßen Alarmsignale sendet. Was noch nicht heißt, dass eine Vereinigung, eine Gruppe oder eine einzelne Person, die vom Verfassungsschutz beobachtet wird, schon deshalb automatisch verfassungsfeindliche Bestrebungen tatsächlich hat.
Man hat das ja auch gesehen, dass in der Vergangenheit auch Linkenpolitiker, die zum Teil jetzt hohe Ämter ausführen, auch vom Verfassungsschutz beobachtet wurden, und diese Personen werden im öffentlichen Diskurs keineswegs als verfassungsfeindlich bezeichnet.
Es gibt eben auch ein Problem damit, wenn solche Bezeichnungen wie "verfassungsfeindlich" öffentlich durchgesteckt werden, auch von Mitarbeitern der Behörde, dann ist das auch eine Art von Politikbetreiben. Solange gewissermaßen nichts vorliegt, keine Bestrebungen, die verfassungsmäßige Ordnung zu beseitigen, ist das eine Form von Politik, die ich für fragwürdig halte.
Zeitzeugen-Interviews
Dittrich: Hier ist der Deutschlandfunk mit der Sendung "Essay & Diskurs" und zu Gast ist heute der Soziologe Thomas Wagner. Wir sprechen über 68 und die Neuen Rechten. Nun haben Sie für Ihr Buchprojekt und Ihre Forschung nicht nur über die Neuen Rechten geschrieben, Sie haben mit ihnen gesprochen. Sie haben sie besucht, Sie haben lange Interviews geführt mit Akteuren der Neuen Rechten. Erzählen Sie uns etwas über diese Begegnungen.
Wagner: Also das waren ganz unterschiedliche Begegnungen. Eine hat mich nach Wien geführt zum Sprecher der Identitären-Bewegung, Martin Sellner. Wir haben uns in einem Kaffeehaus getroffen, in einem eher linken Kaffeehaus. Der Mann geht gerne in Kaffeehäuser. Ich auch.
Und das war eine sehr freundliche Begegnung, weil dieser Martin Sellner meine Bücher kannte. Ich habe ja auch über das Silicon Valley gearbeitet und über den Transhumanismus, und das fand er interessant und lesenswert und hat mir im Vorfeld des Gesprächs gesagt, "Herr Wagner, Sie haben ein interessantes Buch geschrieben, Ihre Analyse teile ich zu weiten Teilen, nur Ihre politischen Schlussfolgerungen nicht". Und insofern war da eine gewisse Aufgeschlossenheit da, sich mir gegenüber auch zu öffnen.
Die anderen Gespräche sind dann ganz verschieden, sind dann ganz anders abgelaufen, aber waren nie unangenehm. Vielleicht war am Anfang eine gewisse Beklommenheit da, aber das hat sich dann schnell gelöst. Mein Interesse war zunächst einmal, bestimmte Fragen zu klären, die ich hatte. Es war nicht mein Interesse, Diskussionen zu führen über …
Dittrich: …das heißt, Sie wollten ihre Gesprächspartner nicht vom politischen Gegenteil überzeugen…
Wagner: …nein, ich wollte sie als Zeitzeugen befragen. Und jetzt bei Henning Eichberg, den ich ein paar Monate traf, bevor er verstarb, er ist ja auch ein Gewendeter, er hat sich ja selbst nicht mehr als Rechten sozusagen verstanden, und ich habe mir einiges erzählen lassen über seine Aktivitäten in den 60er- und 70er-Jahren als Zeitzeugen.
Götz Kubitschek, den bekannten Verleger aus Sachsen-Anhalt, von ihm wollte ich zunächst einmal vor allem wissen, ob er denn konkret mit 68ern gesprochen hat, als er seine Aktionsgruppe und seinen Aktionsstil der konservativ-subversiven Aktion entwickelt hat. Das konnte man vermuten, dass er das hatte.
Dittrich: Und hat er?
Wagner: Ja, hat er. Er hat mit Bernd Rabehl sich über Jahre ausgetauscht über diese Aktionsform, und das hat mich zunächst mal interessiert. Ich habe dann noch, als ich dann dort war in Schnellroda und das eine angenehme Gesprächsatmosphäre war, die Gelegenheit genutzt und darüber hinausgehende Fragen an ihn und auch an seine Frau Ellen Kositza gestellt, die ja eine Intellektuelle eigenen Rechts ist und auch als Autorin seit vielen Jahren tätig ist.
Weil ich schon mal da war und ich dachte, ich habe jetzt vielleicht gar nicht mehr so schnell die Gelegenheit, da noch mal von ihnen was zu hören, frage ich sie noch das eine oder andere zu ihrem Verhältnis zu Alice Schwarzer, zum Feminismus und so weiter, und die Antworten waren dann so interessant, dass ich dachte, ich nehme sie auch noch mit hinein ins Buch, um ein komplexeres Bild zu geben.
Dittrich: Sie bezeichnen sich selbst als linken Soziologen. Wie fanden Sie das, was Sie eben beschrieben haben, dass Sie diese Begegnungen dann eigentlich angenehm fanden? Kam Ihnen das komisch vor?
Wagner: Nee, weil ich habe sie ja sozusagen erstens als Zeitzeuge interviewt, und gewissermaßen war da nicht in der Rolle als Linker, sondern als quasi ein Journalist.
Dittrich: Und Forscher.
Wagner: Als Journalist, als Forscher. Und man kann keine guten Interviews machen - oder sagen wir mal: Interviews schon, man kann Feindinterviews führen oder Gegnerinterviews führen - aber das habe ich nicht gemacht, sondern ich habe Gespräche geführt, um etwas zu erfahren. Nicht um jemanden irgendwo hinzubringen, dass er sich entlarvt oder wie man das mit Politikerinterviews machen sollte. Also das habe ich ja nicht gemacht, sondern ich habe Gespräche geführt und Zeitzeugeninterviews, und jeder, der so etwas tut, verliebt sich immer ein bisschen in seinen Gegenstand.
Dittrich: Das haben Kritiker Ihnen vorgeworfen und gesagt, er beschreibt seine Gesprächspartner aus dem neurechten Milieu zu sympathisch.
Wagner: Ich habe versucht, sie so darzustellen, wie sie sind. Wenn das anderen Menschen dann als zu sympathisch erscheint, dann ist das erst mal sozusagen ihre Wahrnehmung, und ich habe versucht, da so objektiv zu sein, wie es nur irgendwie geht.
Haltung eines Suchenden
Dittrich: Über diese Frage, wie man mit den Rechten reden soll und ob man mit ihnen reden soll, wurde ja schon viel diskutiert. Wie beurteilen Sie das: Wie gehen wir als Medien, als Öffentlichkeit mit den Vertretern der Neuen Rechten um oder wie sollten wir es tun?
Wagner: Ich würde jetzt keine Medienschelte ansetzen. Was ich wahrnehme als jemand, der jetzt auch sehr oft interviewt wurde zur Frage auch, wie man mit den neuen Rechten umgehen soll und so, ich beobachte eine Verunsicherung in den Institutionen, eben auch in den Medien.
Ich habe den Eindruck, dass in den Redaktionsstuben keine klare Linie vorhanden ist, wie man mit Rechten umgehen soll, und ähnlich sieht es auch im Kulturbetrieb aus, in den Theaterhäusern, auch in Verlagen, und jetzt ist also eine große Verunsicherung da.
Und es ist jetzt erst mal ein Findungsprozess, und meine Haltung ist auch eine des Suchenden. Ich kann keine klare Antwort geben. Ich glaube aber, dass bestimmte Strategien, die in der Vergangenheit von Linken und Liberalen eingesetzt wurden, um etwa zu verhindern, dass sich rechts von der Union eine politische Gruppierung etablieren kann, nämlich die der radikalen Ausgrenzung, der Abgrenzung und so weiter, dass das jetzt sozusagen funktioniert hat, lange Jahre funktioniert hat, jahrzehntelang funktioniert hat und dass das jetzt nicht mehr funktionieren kann oder zunehmend weniger funktionieren kann.
Dittrich: Warum ist das so? Also das ist ja eigentlich dann der Grund, warum die neuen Rechten jetzt so stark geworden sind.
Wagner: Weil jetzt genau das schon eingetreten ist, was man hätte verhindern wollen. Also jetzt ist diese Kraft entstanden und die wird auch so schnell nicht mehr verschwinden.
Dittrich: Aber warum sind sie so stark geworden, was ist der Grund dafür?
Wagner: Es gibt viele.
Dittrich: Weil die CDU oder die Union zu weit in die Mitte gerutscht ist?
Wagner: Ich würde sagen, das ist nicht ganz richtig beschrieben. Die Union hat den Eindruck erweckt, als wenn sie in die Mitte oder nach links gerutscht wäre. Das wäre eine Beschreibung der neuen Rechten selber, die sie jetzt hier übernehmen würden, wenn sie das so sagen würden. Ich glaube, richtiger wäre zu sagen, dass spätestens mit Angela Merkel eine Art soft-bonapartistischer Regierungsstil sich durchgesetzt hat. Also dass Angela Merkel gar nicht mehr für irgendwelche Inhalte steht, ob rechts oder links, sondern dass sie mit allen Mitteln versucht, gewissermaßen Bundeskanzlerin zu bleiben und das eben dadurch herstellt, dass sie eine bestimmte Volksverbundenheit versucht zu inszenieren.
Man denke an die Bürgerdialoge der Kanzlerin, wo sie gewissermaßen durch die Republik gereist ist, um mit den Bürgern ins Gespräch zu kommen -, und zum anderen immer dann, wenn sie es für opportun hält, die politischen Angebote und Forderungen der Gegner übernimmt, und das waren lange Zeit die der SPD und der Grünen, könnten jetzt aber wiederum welche der AfD werden.
Die soziale Frage besetzen
Dittrich: Wäre das auch eine Parallele zu 68, wenn wir uns die Krise der Sozialdemokratie und das Entstehen einer linken Partei links von der Sozialdemokratie anschauen?
Wagner: Ja, es gibt da sicherlich eine Parallele, wobei die AfD das Potenzial hat, sowohl der CDU gewissermaßen die Wähler und Wählerinnen abspenstig zu machen als auch der Sozialdemokratie und der Linken, und das hat eben damit zu tun … Im Moment ist es so, dass in der AfD wirtschaftsliberale Positionen dominieren. Das ist ja auch … Die Partei hat auch von ihrem Gründungsprozess her einen gewissermaßen wirtschaftsliberalen Überhang, und jetzt kommen die jungen, neurechten Intellektuellen und machen den Vorschlag, die soziale Frage zu besetzen, weil die Sozialdemokratie und die Linke da ein Terrain freimacht. Wenn ihr das gelingt, der AfD, -
Dittrich: Die soziale Frage.
Wagner: - die soziale Frage zu besetzen, dann könnte das den Effekt haben, dass sie nicht nur deklamieren kann, eine Volkspartei der kleinen Leute zu sein, sondern wirklich eine rechte Volkspartei wird, weil sie dann nämlich über einen liberalen und einen sozialen Flügel verfügen würde, was notwendig ist, um eine Volkspartei zu haben. Also in der SPD hat man nicht nur Arbeitnehmerinteressen, sondern man hat sozusagen auch Wirtschaftsinteressen in der Partei inkorporiert. Da gibt es beispielsweise einen mächtigen Managerkreis in der SPD, und in der CDU hat man die Arbeitnehmervereinigung, und das fehlt bei der AfD bisher noch.
Es braucht also eine soziale Komponente, um Volkspartei zu werden. Alexander Gauland hat von Anfang an klargemacht, dass das sein Ziel ist, und meines Erachtens ist das auch ein Grund dafür, warum er Björn Höcke nicht fallen lässt, weil dieser soziale Impuls, der in die Partei über den rechtesten Flügel der Partei in den neuen Bundesländern hineinkommt, das ist, denke ich, das Kalkül.
Was 1968 auf der Strecke geblieben ist
Dittrich: Macht Ihnen das Sorgen?
Wagner: Ja.
Dittrich: Und die soziale Frage wird dann zum Erfolgsrezept.
Wagner: Sie könnte ein Teil des Erfolgsrezepts werden. Im Moment braucht die AfD das noch nicht aktuell, weil das Flüchtlingsthema noch sehr virulent ist. Das kann auch noch ein paar Jahre so bleiben. Das bindet Protestwählerstimmen.
Sie können auch noch andere Dinge wieder reaktivieren, also die EU-Frage oder auch, womit sie auch angefangen haben, das haben wir auch schon wieder vergessen, die Forderung nach mehr direkter Demokratie war für den ersten Wahlkampf der AfD sehr, sehr wichtig. Das kann auch alles wiedergeholt werden, aber die soziale Frage ist tatsächlich, meine ich, der bedeutendste Aspekt.
Dittrich: Wenn wir jetzt eine Bilanz ziehen wollen, was bleibt unter diesem Gesichtspunkt von 1968?
Wagner: Na ja, wir haben tatsächlich diese gemischte Balance, dass '68 Liberalisierungsprozesse, die in der Bundesrepublik schon im Gange waren, auf jeden Fall verstärkt und beschleunigt hat und eine neue Partei sozusagen mit ins Leben gerufen hat, die Grünen sozusagen als sekundäre Folge von 68, was beinhaltete, dass die Ökologiefrage auch heute eine bedeutende Rolle spielt.
Mit Liberalisierung kann man jetzt die ganzen einzelnen Punkte noch aufzählen, die da eine Rolle spielen: Geschlechterfragen, Sexualität, Minderheitenfragen und so weiter. All das halte ich für wichtig und verdienstvoll.
Was tatsächlich auf der Strecke geblieben ist, ist die Überlegung, wohin wollen wir mit unserer Gesellschaft. Wollen wir es wirklich zulassen, dass die Spaltung in arm und reich immer größer wird? Wollen wir es wirklich zulassen, dass der Monopolkapitalismus sich in einen der Supermonopole verwandelt, wo große Social-Media-Unternehmen sich die halbe Welt unter den Nagel reißen? Das sind offene Fragen, die müssen heute beantwortet werden.
Das heißt, es braucht eine Diskussion darüber, wie eine demokratisch verfasste Gesellschaft aussehen soll und was die Grundlagen dafür sind, dass eine Gesellschaft dauerhaft demokratisch bleiben kann.
Dittrich: Sind das die Fragen, die jetzt offengeblieben sind, die die Neue Rechte besetzt und belegt?
Wagner: Es könnte sein, dass sie einige dieser Fragen auch versucht zu beantworten, und wenn sie das tut, müssen wir auch darüber mit ihr in den Streit kommen.
Dittrich: Sagt der Soziologe Thomas Wagner. Sein Buch heißt "Die Angstmacher: 1968 und die Neuen Rechten". 352 Seiten sind im Aufbau-Verlag erschienen und kosten 18,95 Euro. Vielen Dank für dieses Gespräch!
Wagner: Danke sehr!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.