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Der andere Expressionist

Der Maler, Zeichner und Dichter Ludwig Meidner (1884–1966) gilt als Grenzgänger der Klassischen Moderne. Die Ausstellung "Unter unerforschlichen Meteoren" im Ernst Barlach Haus konfrontiert Meidners Schaffen der 1910er Jahre mit parallel entstandenen Hauptwerken Barlachs (1870–1938). Die versammelten rund 100 Gemälde, Skulpturen und Zeichnungen offenbaren bemerkenswerte Unterschiede und Parallelen. Die Ausstellung mit Leihgaben aus vielen bedeutenden Museen und Privatsammlungen wird anschließend in der Kunsthalle Recklinghausen zu sehen sein.

Von Rainer Berthold Schossig |
    Die Begegnung mit Ludwig Meidner verstört noch immer: explodierende Stadt- und Gesichtslandschaften, schräge Caféhaus-Existenzen, nervös zuckende Selbstbildnisse und verschrobene Seher. Der eigenwillig-eruptive Großstadtneurotiker passte nicht ins bereinigte Expressionismus-Image des bundesdeutschen Kunstbetriebs. Werner Haftmann lobte zwar seine "starke Fühlfähigkeit", nannte ihn aber einen "miserablen Zeichner". Die Hamburger Ausstellung wirft nun einen in vieler Beziehung neuen, anderen Blick auf Meidners Kunst, und zwar im Dialog mit Barlach, dem ja ein gewisser Ruf des weltflüchtig-erbaulichen Einsiedels und Herrgotts-Schnitzers anhaftet.

    Karsten Müller: "Es sind zwei Künstler, die man eher an den Gegenpolen des deutschen Expressionismus vermutet, der eine gilt als der Großstadtrebell, der aggressive, schnoddrige Typ, und Barlach als der selbst gewählt zurückgezogene Einsiedler, der für die Ewigkeit arbeitet. Dieser Ausstellung geht es darum, diese Klischees in Frage zu stellen."

    - sagt Markus Müller, Kurator und Leiter des Hamburger Barlach Hauses. Und in der Tat treffen sich beide Künstler immer wieder: bei der Thematisierung des 1. Weltkriegs etwa, an dem beide zwar nicht an vorderster Front teilnahmen, den sie jedoch aufwühlend, geradezu atemlos, bildmächtig kommentierten. Mit rächenden Engels- und mahnenden Propheten-Gestalten, mit expressiven Gebärden großer Leidens- und Passionsfiguren. Dabei findet sich eine erstaunliche Aggressivität bei Barlach und überraschend viel Introspektion bei Meidner.

    Karsten Müller: "Da steht zum Beispiel so eine Figur wie der Rächer von Barlach, der sich wie eine Art Rotor durch den Raum schraubt, plötzlich auch in Verbindung zu einer Futurismus-Rezeption, die bei Barlach zwar beschränkt ist, aber man sieht doch: Er ist auf der Höhe seiner Zeit, interessiert sich fürs Formenrepertoire der Avantgarde und nutzt es, um Dynamik in sein Werk zu bringen."

    Dennoch sind die Unterschiede unübersehbar: Auch wenn beide die Metaphorik des Himmlischen beschwören, das Fatale "unerforschlicher Meteore", so kommt doch bei Meidner das Verhängnis eher aus den irdischen, gesellschaftlichen und sozialen Quellen. Seine sezierend gezeichneten Figuren sind zersplitterte, sich krümmende, thalmudisch psalmodierende Leidensgestalten, die tief in die Abgründe der Existenz hinab blicken, während Barlachs bodenständig-bäurisches Personal eher eine metaphysische Perspektive hat, erschrocken oder anbetend nach oben, ins Jenseitige, Überirdische, "Ultrabegreifliche" schauend.

    Barlachs Furor raunt notorisch integral, während Meidner zerrissen, böse, mephistophelisch flüstert. Dennoch erweisen sich bei genauerem Hinsehen auch Barlachs Figuren als höchst komplexe Gefäße zwiespältiger Empfindungen.

    Karsten Müller: "Bei beiden scheint mir die Gläubigkeit mit einer großen Skepsis durchwachsen. Was Barlach angeht: Er selbst sagte: Ich bin viel Christ, viel Heide, viel Buddhist und vieles sonst. Barlach wird gern verengt auf Konfessionelles. Meidner kam aus einem nicht-orthodoxen jüdischen Elternhaus, hat sich als Sozialist und Atheist ins Szene gesetzt, gleichzeitig inbrünstig Gott angerufen und ist dann zum orthodoxen Judentum gekommen. Sie sind beide weit entfernt von einem naiven Lieber-Gott-im-Himmel-Glauben."

    Verblüffend, wie sie sich in ihrer Sehnsucht nach Transzendenz und Ekstase ähneln: die Schreckensvisionen entrückter biblischer Seher Barlachs und die menschelnden Welten-Kleinbürger Meidners. Dessen verstörte Panik und Barlachs begeisterte Raserei liegen nahe beisammen. Die gängigen Stereotypen über sie werden fragwürdig. Meidners scheinbar schrille Kunst zeigt einfühlende Tiefe, und hinter Barlachs Frömmigkeit tauchen aggressive Züge auf.

    "Wenn es um die aus den Fugen geratenen Werte geht, um die zerborstenen Gewissheiten, um existenzielle Zweifel an der normativen Kraft von Konventionen, dann ist man katapultiert durch den Blick auf Meidner und Barlach tatsächlich in unsere aktuellste Gegenwart."

    Damals beunruhigte die Menschen das Auftauchen des Halleyschen Kometen und der Untergang der "Titanic" – heute verstören uns die Entschlüsselung des menschlichen Genoms und die neue alte Fratze des Raubtierkapitalismus. So erweist sich die kleine Rückschau auf Ludwig Meidner im Barlach Haus auch als ein überraschend aktueller Kommentar zur derzeitigen Krise.