Gleich zu Beginn stellt Bruno Le Maire klar: Ich bin Akteur, nicht nur Zeuge. Also keiner, der im Sessel sitzt und urteilt, sondern einer, der bewusst subjektiv an die Sache herangeht. Einer, der mitten im Tumult der globalisierten Welt politische Verantwortung trägt. Drei rastlose Jahre skizziert Le Maire, 2010 bis 2012, "Tage der Macht". Das Buch endet im Mai 2012, als Le Maire nicht mehr Landwirtschaftsminister und Nicolas Sarkozy nicht mehr Frankreichs konservativer Staatspräsident ist. Und auch um ihn geht es, um den Wahlverlierer von Mai 2012, den viele Franzosen unter Verweis auf charakterliche Gründe abgewählt haben:
"Ich glaube, Nicolas Sarkozy war ein sehr guter Staatspräsident, der gute Arbeit geleistet hat, und der in den Jahren seines Mandats ungerechterweise karikiert wurde. Was ich in den Medien über ihn las, unterschied sich sehr von dem Nicolas Sarkozy, den ich selbst als Minister erlebte. Mit diesem Buch wollte ich dem Rechnung tragen, dem Alltagsleben eines Ministers mit Nicolas Sarkozy, um den Bürgern eine andere Sicht auf ihn zu ermöglichen."
Der konservative Politiker, Absolvent französischer Eliteschulen, spricht drei Sprachen, ist ein großer Kenner der deutschen Literatur, der politischen Verhältnisse. Bei einer Dienstreise nach Berlin notiert er "Alles besser als Schweigen":
"Es ist sehr wichtig, das Erlebte zu bewahren und es so präzise wie möglich zu schildern. Ich spreche zu Beginn des Buches über Helmut Kohl, den ich sehr, sehr bewundere, der mit der Wiedervereinigung etwas Historisches geschaffen hat. Aber heute kann er sich nicht mehr ausdrücken, hat seine Sprache gewissermaßen verloren … Ich denke, solange man reden, seine politischen Entscheidungen erklären kann, muss man das tun."
Auch deshalb nimmt Le Maire den Leser mit auf die ungezählten Minister-Reisen: In die französische Provinz, deren Schilderungen auch eine Hommage an die Heimat, an Land und Leute sind. Seine Wege führen ihn an die Wurzeln des Agrarlandes Frankreich. Dorthin, wo es schlecht läuft, wo die Bauern den Minister aus Paris mit ihren Sorgen empfangen. Wo der rechtsradikale Front National erfolgreich auf Stimmenfang geht. Aber auch nach Brüssel, wo die Abgesandten der Fischer in der Hotellobby bang warten und wo Tränen fließen, als der Minister persönlich, tief in der Nacht, den gefundenen Kompromiss der europäischen Agrarchefs überbringen muss.
"Quoten" – das erscheint mir einmal mehr wie eine Karikatur der europäischen Abläufe, so unergiebig wie ungerecht, außerhalb jeder demokratischen Kontrolle, wo wissenschaftliche Argumente nichts zählen, wo der Minister zum Teppichhändler verkommt.
Es gibt einen bitteren Unterton in diesem Buch. Da schreibt ein für die Nöte der Menschen offenbar sensibler Politiker, der die Grenzen seiner Möglichkeiten sieht. Die Ränkespiele der Politik erlebt Le Maire am eigenen Leib. Mehrfach werden ihm Hoffnungen auf höhere Posten gemacht, er ist "beinah" Premierminister, "beinah" Finanzminister, aber stets nur "beinah". Die Enttäuschung darüber verpackt Le Maire literarisch gekonnt. Sie ist da, aber sie drängt sich dem Leser niemals auf.
"Weil ich denke, dass das nicht wesentlich ist. Entscheidend ist, was man für seine Mitbürger tun konnte. Sicher gibt es Enttäuschungen in einem Politikerleben. Und außerdem: Das Leben ist lang, es gibt noch tausend großartige Dinge aufzubauen, ich schaue lieber in die Zukunft als in den Rückspiegel."
8. Dezember 2010, Flug Paris-Moskau – Frankreichs Agrarminister liest Günter Grass und macht sich über zunehmend antideutsche Töne in Europa Gedanken; 10 Dezember 2010 – Flug zum deutsch-französischen Gipfel in Freiburg – Nicolas Sarkozy skizziert die Wirtschaftsregierung für Europa, die sich Angela Merkel erst deutlich später zu eigen macht; 13. Dezember - Reise nach Brüssel. Agrarverhandlungen. Dazwischen ein Kinobesuch mit den Söhnen und die Ankündigung seiner Frau, sie erwarte das vierte gemeinsame Kind. "Tage der Macht", das heißt Tage des Verzichts. Mit leichten Pinselstrichen, ohne dick aufzutragen, zeichnet Le Maire diese Einsamkeit nach – als Stilmittel dient die Maus hinter der Fußleiste im Pariser Appartement:
"Die Maus ist die Metapher für dieses Politikerdasein. Das ständig an Ihnen nagt, das immer da ist, Sie nie verlässt. Auch das ist Politik. Das ist kein Beruf, das ist eine Berufung. Wenn jemand sagt, Politiker ist ein Beruf wie jeder andere – Nein, das stimmt nicht. Das ist etwas, das viel Zeit kostet, enorm viele Opfer verlangt, das schwer auf dem Familienleben lastet. Ich habe eine Frau, vier Kinder, man führt kein Leben wie andere, das muss man bedenken und unseren Mitbürgern auch erklären, die heute mit viel Argwohn auf die Politiker schauen …"
"Tage der Macht" ist weniger ein Buch über den Menschen Bruno Le Maire. Auch ist es kein Enthüllungsbuch. Obwohl es von einer heißen Phase der französischen Zeitgeschichte handelt: Finanzkrise, Wahlkampf und Abwahl Sarkozys, Ränkespiele der Konservativen untereinander. Das Tagebuch von Le Maire lässt die Monate großer Anstrengung und Anspannung wiederaufleben. Der Handlungsstrang dient zweierlei Anliegen: Zu zeigen, was ein Politikerleben bedeutet und den viel gescholtenen Ex-Präsidenten in ein anderes Licht zu rücken. Da ist nicht nur der kämpferische Sarkozy, ein gelegentlich aufbrausender Mann, da ist auch einer, der nachdenklich wirkt, höflich sein kann und humorvoll:
"Das ist der Teil seiner Persönlichkeit, der wenig bekannt ist. Er hat viel Humor. Wenn er andere beschreibt. Etwa wenn er von Angela Merkel erzählt, sehr freundschaftlich, sehr zugewandt, aber eben auch lustig. Aber es ist auch jemand, der Zweifel hat, anders als das viele von ihm glauben, seine Wiederwahl, die politische Lage betreffend. Anders als man denkt, ist sein Charakter vielschichtiger, komplexer, gemischter."
Bruno Le Maire zeichnet die Mühen der Ebene eines vielfach gescholtenen Berufsstandes. Er erspart dem Leser dabei Banalitäten. Ein Buch gegen die Politikverdrossenheit, die auch dem Land der Aufklärung schwer zu schaffen macht.
Bruno Le Maire: "Jours de pouvoir"
Gallimard Verlag, 23,95 Euro
ISBN: 978-2-070-13903-3
"Ich glaube, Nicolas Sarkozy war ein sehr guter Staatspräsident, der gute Arbeit geleistet hat, und der in den Jahren seines Mandats ungerechterweise karikiert wurde. Was ich in den Medien über ihn las, unterschied sich sehr von dem Nicolas Sarkozy, den ich selbst als Minister erlebte. Mit diesem Buch wollte ich dem Rechnung tragen, dem Alltagsleben eines Ministers mit Nicolas Sarkozy, um den Bürgern eine andere Sicht auf ihn zu ermöglichen."
Der konservative Politiker, Absolvent französischer Eliteschulen, spricht drei Sprachen, ist ein großer Kenner der deutschen Literatur, der politischen Verhältnisse. Bei einer Dienstreise nach Berlin notiert er "Alles besser als Schweigen":
"Es ist sehr wichtig, das Erlebte zu bewahren und es so präzise wie möglich zu schildern. Ich spreche zu Beginn des Buches über Helmut Kohl, den ich sehr, sehr bewundere, der mit der Wiedervereinigung etwas Historisches geschaffen hat. Aber heute kann er sich nicht mehr ausdrücken, hat seine Sprache gewissermaßen verloren … Ich denke, solange man reden, seine politischen Entscheidungen erklären kann, muss man das tun."
Auch deshalb nimmt Le Maire den Leser mit auf die ungezählten Minister-Reisen: In die französische Provinz, deren Schilderungen auch eine Hommage an die Heimat, an Land und Leute sind. Seine Wege führen ihn an die Wurzeln des Agrarlandes Frankreich. Dorthin, wo es schlecht läuft, wo die Bauern den Minister aus Paris mit ihren Sorgen empfangen. Wo der rechtsradikale Front National erfolgreich auf Stimmenfang geht. Aber auch nach Brüssel, wo die Abgesandten der Fischer in der Hotellobby bang warten und wo Tränen fließen, als der Minister persönlich, tief in der Nacht, den gefundenen Kompromiss der europäischen Agrarchefs überbringen muss.
"Quoten" – das erscheint mir einmal mehr wie eine Karikatur der europäischen Abläufe, so unergiebig wie ungerecht, außerhalb jeder demokratischen Kontrolle, wo wissenschaftliche Argumente nichts zählen, wo der Minister zum Teppichhändler verkommt.
Es gibt einen bitteren Unterton in diesem Buch. Da schreibt ein für die Nöte der Menschen offenbar sensibler Politiker, der die Grenzen seiner Möglichkeiten sieht. Die Ränkespiele der Politik erlebt Le Maire am eigenen Leib. Mehrfach werden ihm Hoffnungen auf höhere Posten gemacht, er ist "beinah" Premierminister, "beinah" Finanzminister, aber stets nur "beinah". Die Enttäuschung darüber verpackt Le Maire literarisch gekonnt. Sie ist da, aber sie drängt sich dem Leser niemals auf.
"Weil ich denke, dass das nicht wesentlich ist. Entscheidend ist, was man für seine Mitbürger tun konnte. Sicher gibt es Enttäuschungen in einem Politikerleben. Und außerdem: Das Leben ist lang, es gibt noch tausend großartige Dinge aufzubauen, ich schaue lieber in die Zukunft als in den Rückspiegel."
8. Dezember 2010, Flug Paris-Moskau – Frankreichs Agrarminister liest Günter Grass und macht sich über zunehmend antideutsche Töne in Europa Gedanken; 10 Dezember 2010 – Flug zum deutsch-französischen Gipfel in Freiburg – Nicolas Sarkozy skizziert die Wirtschaftsregierung für Europa, die sich Angela Merkel erst deutlich später zu eigen macht; 13. Dezember - Reise nach Brüssel. Agrarverhandlungen. Dazwischen ein Kinobesuch mit den Söhnen und die Ankündigung seiner Frau, sie erwarte das vierte gemeinsame Kind. "Tage der Macht", das heißt Tage des Verzichts. Mit leichten Pinselstrichen, ohne dick aufzutragen, zeichnet Le Maire diese Einsamkeit nach – als Stilmittel dient die Maus hinter der Fußleiste im Pariser Appartement:
"Die Maus ist die Metapher für dieses Politikerdasein. Das ständig an Ihnen nagt, das immer da ist, Sie nie verlässt. Auch das ist Politik. Das ist kein Beruf, das ist eine Berufung. Wenn jemand sagt, Politiker ist ein Beruf wie jeder andere – Nein, das stimmt nicht. Das ist etwas, das viel Zeit kostet, enorm viele Opfer verlangt, das schwer auf dem Familienleben lastet. Ich habe eine Frau, vier Kinder, man führt kein Leben wie andere, das muss man bedenken und unseren Mitbürgern auch erklären, die heute mit viel Argwohn auf die Politiker schauen …"
"Tage der Macht" ist weniger ein Buch über den Menschen Bruno Le Maire. Auch ist es kein Enthüllungsbuch. Obwohl es von einer heißen Phase der französischen Zeitgeschichte handelt: Finanzkrise, Wahlkampf und Abwahl Sarkozys, Ränkespiele der Konservativen untereinander. Das Tagebuch von Le Maire lässt die Monate großer Anstrengung und Anspannung wiederaufleben. Der Handlungsstrang dient zweierlei Anliegen: Zu zeigen, was ein Politikerleben bedeutet und den viel gescholtenen Ex-Präsidenten in ein anderes Licht zu rücken. Da ist nicht nur der kämpferische Sarkozy, ein gelegentlich aufbrausender Mann, da ist auch einer, der nachdenklich wirkt, höflich sein kann und humorvoll:
"Das ist der Teil seiner Persönlichkeit, der wenig bekannt ist. Er hat viel Humor. Wenn er andere beschreibt. Etwa wenn er von Angela Merkel erzählt, sehr freundschaftlich, sehr zugewandt, aber eben auch lustig. Aber es ist auch jemand, der Zweifel hat, anders als das viele von ihm glauben, seine Wiederwahl, die politische Lage betreffend. Anders als man denkt, ist sein Charakter vielschichtiger, komplexer, gemischter."
Bruno Le Maire zeichnet die Mühen der Ebene eines vielfach gescholtenen Berufsstandes. Er erspart dem Leser dabei Banalitäten. Ein Buch gegen die Politikverdrossenheit, die auch dem Land der Aufklärung schwer zu schaffen macht.
Bruno Le Maire: "Jours de pouvoir"
Gallimard Verlag, 23,95 Euro
ISBN: 978-2-070-13903-3