Auf dem grossartigen Mosaik, das um die Albert Hall herum verläuft, steht geschrieben: "This hall was erected/for the advancement of the arts and sciences,/ and works of industry of all nations,/ in fullfillment ofthe intentions of albert, prince consort." Was ungefähr bedeutet: "Dieses Bauwerk wurde errichtet zur Förderung der Künste und Wissenschaften und der Leistungen des Handwerks aller Nationen, in Erfüllung der Wünsche von Albert, Prinzgemahl." Als die Albert Hall 1871 eröffnet wird, ist er schon tot, müssen Sie wissen, daher ist es eine reine Mutmaßung, ob seine Wünsche damit erfüllt wurden. Victoria ist offensichtlich der Meinung, dass seine Wünsche hinreichend erfüllt worden sind(...)Sie, unsere Victoria, ist sicher, dass sie zu aller Zeit genau weiß, was Alberts Wünsche waren oder gewesen wären, wenn er je über dieses oder jenes nachgedacht hätte - sie gehört zu dieser Sorte Frauen(...)Sie zelebriert den Tod und ihre Trauer überall im Land. Sie hinterlässt eine Klagespur aus Statuen und Straßennamen, Museen und Galerien(...)Sie trauert öffentlich, unsere Victoria, und alle Welt trauert mit ihr. Auch aus diesem Grund spricht man von der guten alten Zeit. Damals empfanden die Menschen unisono, wie der jähe Gesang, der aus einer ländlichen Kirche erschallt, wenn der Chor einsetzt.
Das Schauprügeln in diesem Monument Viktorianischer Trauerarbeit endet mit der vorhersehbaren Niederlage Giant Haystacks und dem für alle außer für ihn selber unvorhersehbaren Tod von Li-Jin. Ein Hirntumor, den er vor seiner Familie geheimgehalten hat, rafft Li-Jin dahin. Fünfzehn Jahre später ist Alex-Li noch nicht über den Verlust seines Vaters hinweggekommen. Den größten Teil seinerzeit verbringt er im rosaroten Nebel, den gewisse Pillen bei Bedarf und Einnahme hervorrufen. Den Rest bei obskuren Auktionen auf der Jagd nach "Kitty Alexander", der Unterschrift einer vergessenen Hollywoodschönheit, die 1952 im Musical "The Girl from Peking" brillierte, gemäß Alex-Li der beste Film aller Zeiten.
Im Übrigen zählt übermäßige Begeisterungsfähigkeit nicht eben zu Alex-Lis Wesenszügen. Er befindet sich konstant in hypochondrischer Abwehrstellung, ob es nun um westliche Medizin oder fernöstlichen Mystizismus handelt. Er hadert mit sich, der Welt und dem lieben Gott. Besonders mit letzterem. Alex-Lis Lebensmaxime lautet, Zitat: "Lebe immer in der Vergangenheit und bereue alles." Er ist zwar durchaus auf der Suche nach dem Guten, Wahren und Schönen, aber weil er alles schon aus dem Fernsehen kennt, glaubt er nicht mehr an dessen Vorhandensein. Zadie Smiths "Autogrammhändler" ist ein Kind jener Generation, die sich abgefunden hat mit dem Schwinden der Grenzen zwischen Fakten und Fiktion und in einer Art frustrierter Aufgeklärtheit vor sich hin dümpelt. Was soll das Streben nach Erkenntnis, wenn sie einem an jeder Ecke im Multipack angeboten wird. Wo alles meta- ist, ist nichts mehr authentisch. New York zum Beispiel:
Taxi Driver(...)Manhattan, Letzte Ausfahrt Brooklyn, Die Faust im Nacken, Hexenkessel, Das Wunder von Manhattan, West Side Story, Heut gehen wir bummeln, Serpico, Die Sunny-Boys, Sophies Entscheidung...
...so Alex-Li bei seinem ersten Besuch. Im Gegensatz zu seinen Freunden, die ein zugegebenermaßen recht eigenwillig ausgelegtes Judentum vor dem definitiven Versinken in existentieller Lethargie bewahrt, im Gegensatz zu Adam und Rubinfine also sieht Alex-Li in keinem Gott den Erlöser und in keiner Religion eine Alternative zur totalen Passivität. Seine kabbalistischen Anstrengungen erschöpfen sich im Erstellen diverser Listen, Listen über Präferenzen oder Todesarten oder präferierte Todesarten. Nicht dass er gänzlich untätig wäre. Zumindest was seine Verbissenheit in Sachen Kitty Alexander betrifft, braucht Alex-Li einen Vergleich mit Parzival und seinem Gral nicht zu scheuen. Wenn schon Selbsttäuschung, dann wenigstens richtig.
Zadie Smith hat eine Unheilsgeschichte geschrieben über eine Zeit, in der Transzendenz dort aufhört, wo Tommy Hilfiger erst beginnt. "Der Autogrammhändler" ist eine geistreiches Capriccio über die Mythen der Popkultur. Smith arbeitet mit dem Understatement jener, die durch die Schule der Post- und der Postpostmoderne gegangen sind und verwendet Versatzstücke im Wissen darum, dass es Versatzstücke sind: hier ein bisschen Walter Benjamin, da einen Werbeslogan, hier akademisch, dort sentimental, Kitsch, Klatsch und Kafka, Grundsatzkritik und Gänsefüßchen. Das Judentum mit seinen Symbolen und Riten, oder genauer, die stereotypen Vorstellungen, die damit verbunden sind, liefern hervorragendes Material für einen Roman, der das 21. Jahrhundert als virtuelles Fertigprodukt porträtiert. Man hat Zadie Smith vorgeworfen, dass sie keine Jüdin ist.
Stimmt, Zadie Smith hat einen Britischen Vater und eine Jamaicanische Mutter und vielleicht überhaupt keinen Glauben. Aber warum soll es nur Juden erlaubt sein, über Juden zu schreiben und Realsatire als Stilmittel einzusetzen? Das hieße doch, dass nur Katholiken über den Papst lachen und nur Muslime Mohammed karikieren dürfen. Einmal abgesehen davon, dass bisher weder Katholiken noch Muslime eine besondere Affinität zu Humor oder auch nur Humor-Ähnlichem gezeigt haben, geht derlei Kritik am Kern der Sache vorbei. Sind Philip Roth oder KurtVonnegut glänzende Schriftsteller, weil sie Juden sind? Sind sie es, obwohl sie Juden sind? Oder sind sie einfach glänzende Schriftsteller? Ist die ironische und oft selbstironische Schärfe ihrer Werke, ein auschließlich jüdischer Literatur vorbehaltenes Charakteristikum? Oder zeugt dieses Element einfach von literarischem Können?
Konfessionelle Engstirnigkeit und falsch verstandene political correctness sind das eine. Literaturkritik ist etwas anderes. Zadie Smith schreibt über eine Welt, in der alles den Gesetzen der (Re-)Produktion folgt und somit auch alles (re-)produzierbar ist. Konfessionen ebenso wie Schuhcreme und Schafe. Sie demonstriert, dass alles für alles verwendet werden kann, Pflanzenmargarine zum Seligwerden und Gottvertrauen zum Düngen des heimischen Gemüsegartens. Wer so ungezwungen mit Trivia und Tradition umspringt wie diese Autorin, gerät leicht in Gefahr, vor lauter Luftsprüngen den festen Boden unter den Füßen zu verlieren.
Zadie Smith bildet da keine Ausnahme. So virtuos sie ihr Spiel mit Hybris und Hagiographie betreibt, so wenig überzeugt der Plot dieses Romans. Alex-Li Tandem sucht der Einfachheit halber oder aus purer Verzweiflung statt nach dem Sinn des Lebens nach einem Fetzchen Papier. Das Schicksal ist ihm gängig und beschert ihm das begehrte Autogramm mitsamt der angebeteten, freilich inzwischen bejahrten Autogrammgeberin, die Alex-Li kurzerhand den Klauen ihres übergeschnappten Managers entreißt und mit sich nach Hause nimmt, nach Mountjoy, einem Vorort Londons, dessen Bewohner, Zitat "ihr Leben auf dem Prinzip Kompromisses begründet haben." Um es vorsichtig zu formulieren: Das Kitty-Alexander-Halali ist ungefähr so aufregend wie ein Live-Bericht über den Dalai Lama beim Fliegenfischen. Dass Zadie Smith an einem derart dünnen Handlungsfaden festhält, hängt vermutlich mit dem Wunsch zusammen, der Episodenhaftigkeit ihres Romans eine Form zu verleihen und für ihre bunten Charaktere einen einheitlichen Hintergrund zu schaffen. Wie unnötig. Als würde man einem ungeschliffenen Edelstein eine Haube aufsetzen mit der Begründung, er sehe sonst zu sehr wie ein ungeschliffener Edelstein aus. Gerade in seinen Auswüchsen besteht der Reiz dieser Geschichte: die Ausrufe, die Anzüglichkeiten, die Üppigkeit der Prosa. Und vor allem die verrückten Dialoge, die die Siebenmeilen-Gedankensprünge der nicht minder verrückten Figuren widerspiegeln:
Alex griff sich eine große Flasche polnischen Wodka vom Sideboard, packte sie am Hals und richtet sie auf Joseph Klein. In der Flasche dümpelte ein gelber Faden Bisongras und stieß immer wieder gegen den Hals. "Siehst du das hier? Zehn Punkte für die richtige Antwort. Was ist das?" - "Das ist polnischer Wodka. Was? Was soll ich sagen? Was - das ist ein Getränk? Was?" - "Ja, aber nicht nur. Es ist ein Getränk, ja. Aber überleg noch mal. Wir wollen doch unser Studium nicht vergessen. Wir wollen doch unseren LUDWIG WITTGENSTEIN nicht vergessen. Wie war das noch mal mit dem Wesen der Proposition?" - "Alex - krieg dich wieder ein - nein, nein, also gut - beruhige dich - okay, okay. Die Bedeutung einer Proposition liegt in ihre Gebrauch." - "Also?" - "Die Flasche könnte als Waffe gebraucht werden." - "Zehn Punkte! Wir trinken jetzt so viel davon, dass wir so richtig unzivilisiert werden. Und dann, wenn wir unzivilisiert sind, zieh ich dir eins über den Schädel. Hiermit. Mein Freund. Mein lieber Freund aus Kindertagen. Verstanden? Haben wir uns verstanden? Wir werden so eine Art Wrestling-Kampf machen. Das ist ein Ehrenwort auf meinen Schein(...)Das ist ein Gebot.
Gute Komödien sind immer einen Tick übermütiger, als sie sein dürften. "Der Autogrammhändler" ist eine sehr gute Komödie, auch weil ihr Übermut Ernsthaftigkeit nicht außchließt. Alex-Li ist ein armer Tropf, der zwischen Selbstmitleid und Selbsthass schwankt, ohne genau zu wissen, ob er überhaupt über etwas verfügt, das zu bemitleiden oder zu hassen sich lohnt. "Sein Leben war nicht wie ein Trichter geformt", sinniert er einmal, "durch den Dinge hindurchgingen und sich vielleicht dabei verfeinerten, es war eher ein, wie hießen die Dinger noch gleich? Stressbälle? Ganz aus Gummibändern, und jeden Tag fügte man ein Gummiband hinzu? Fester. Dicker. Verwickelter." Alex-Li, das Emotionsknäuel im freien Fall. Er ist ein Akteur für den das Drehbuch allzu oft nur der Part .Auftritt, Abgang, kein Text' übrig hat.
Zadie Smith mag ihre Figuren, keine Frage. Die Ironie, mit der sie sie betrachtet, ist keine bösartige. Und wie kann man einen Typen wie Alex-Lis Jugendfreund Rubinfine auch nicht mögen. Der ist seinem Vater zuliebe Rabbiner geworden, wenn auch ein ultra-progressiver, und pflegt jeweils am FUß einer Statue aufzutreten, um mit drei Kollegen ein riesiges Möbelstück von einer Nutzlosigkeit zur nächsten zu hieven. Ein running gag im Geiste Sisyphos'. Oder Adam, der seine Situation als Schwarzer und Jude mit den Worten kommentiert: "Ich sterbe bestimmt in der Mitte des Films." Im Grunde genommen versuchen alle in "Der Autogrammhändler" dasselbe: sich der Tyrannei des Ersatzes zu entziehen. Sie sehnen sich nach Gesprächen in einer Welt, in der nur noch mit Worthülsen geschossen wird, und nach Beziehungen, die nicht schon den Stempel der Soapopera XY tragen. Das Buch endet mit dem Kaddish, das Alex-Li nach 470 Seiten und mindestens so vielen und nur teilweise bewältigen inneren Widerständen für seinen Vater sagt Wort. Ist Alex-Li, der pikareske Tolpatsch, dem Wesen allen Seins also doch auf die Spur gekommen? Ausgerechnet mit Hilfe der perfidesten aller Illusionsmaschine, der Religion?
Es stand der Autogrammhändler Alex-Li Tandem. Von seiner Position aus konnte er sie alle sehen. Er konnte alles sehen, was sie taten. Es saßen seine Freunde Adam Jacobs, Rabbi Mark Rubinfine und Joseph Klein, seine Freundin Esther Jacobs, Rabbi Green, Rabbi Darvick, Rabbi Burston und seine Mutter Sarah Tandem. Es saßen außerdem zwei ihm unbekannte Menschen, Eleanor Loescher und Jonathan Verne. - Erhoben und geheiligt (sagte Alex-Li, aber nicht in diesen Worten) - Werde Sein großer Name Auf der Welt, die nach Seinem Willen Von Ihm erschaffen wurde, Rubinfine pulte sich mit dem Nagel des Zeigefingers Der linken Hand die Haut vom rechten Daumen, Sein Reich soll in eurem Leben - Und in den eurigen Tagen Und im Leben des ganzen Hauses Israel, - Joseph bearbeitete sein Nase mit einem Fingerknöchel - Und versuchte, es dann nicht zu tun, und tat es dann doch wieder, - Schnell und in nächster Zeit erstehen. - Und wir sprechen: Amen! - Esther strich sich mit den Händen - Den Rock glatt und zog am Saum, bis - Er richtig saß! - Amen (sagten die Sitzenden, aber nicht in diesem Wort) - Sein großer Name sei gepriesen - In Ewigkeit und Ewigkeit der Ewigkeiten! - Gepriesen sei (sagte Alex-Li, aber nicht in diesen Worten) - Und gerühmt - Verherrlicht - Rabbi Burston wippte - Zu einem inneren Takt mit den Füßen - Erhoben - Erhöht - Rabbi Green zog die Nase hoch - Gefeiert - Hocherhoben - Rabbi Darvick schloss die Augen - Und öffnete sie doppelt so weit, - Und gepriesen - Sei der Name des Heiligen - Adam lächelte und machte - Diskret das Daumen-Hoch-Zeichen - Gelobt sei Er! - Über jedem Lob - Und Gesang und Verherrlichung und Trostverheißung - Die je in der Welt gesprochen wurde - Sprechet Amen! - Fülle des Friedens und leben möge - Vom Himmel herab - Uns und Israel zuteil werden - Sahra weinte und unternahm keinen Versuch, - Es zu verbergen. - Sprechet Amen! - Der Frieden stiftet in Seinen Himmelshöhen - Eleanor Loescher hielt ihren kleinen - Bauch mit beiden Händen - (Und Alex fragte sich, was das bedeutete) - Sprechet Amen!
Nein. Aus diesem Amen spricht nicht gerade der religiöse Eifer eines endlich Erleuchteten. Bis Alex-Li seine Frieden gefunden hat, wird es noch eine Weile dauern. Aber eines steht fest: Zadie Smith ist das Kunststück gelungen, einen höchst originellen Roman über ein höchst unoriginelle Zeit zu schreiben. In diesem Sinn: Fortsetzung folgt. Hoffentlich.