Es ist halb zehn Uhr morgens. Im Dorf Okucani, gut zwei Autostunden von Zagreb entfernt, wird die Flagge der Republik Kroatien gehisst. Auf dem Hauptplatz stehen auf einem Podest: Staatspräsidentin Kolinda Grabar-Kitarovic, einige Minister, Militärs - und in der ersten Reihe: die Veteranen des Krieges von damals. Viele von ihnen sitzen in Rollstühlen.
Es ist der 24. Jahrestag der sogenannten Operation "Blitz": Nur 31 Stunden hatte die Offensive der kroatischen Armee hier im Mai 1995 gedauert. Die Region West-Slawonien konnte so von der Armee der Republik serbische Krajina zurückerobert werden. 51 kroatische Soldaten kamen dabei ums Leben. Bei der Gedenkfeier in Okucani werden ihre Namen verlesen. Es folgt eine Schweigeminute, dann gibt es eine Kranzniederlegung.
"Bei einer Siegesfeier passen Opfer nicht rein"
Zur gleichen Zeit, nur 200 Meter entfernt, stehen ein paar Dutzend Serbinnen und Serben vor der orthodoxen Kirche. Sie wollen der zivilen Opfer der Operation "Blitz" gedenken. Boris Milosevic ist aus Zagreb angereist. Er ist Mitte 40 und sitzt seit drei Jahren für die Partei der serbischen Minderheit im kroatischen Parlament.
"Wir sind hier in der Kirche ein bisschen wie auf einer Insel. Um uns herum organisiert die Regierung eine große Zeremonie mit vielen Leuten und staatlichem Protokoll. Sie feiern die Militäroperation 'Blitz', und ich verstehe auch die Bedeutung dieses Ereignisses für Kroatien. Aber das Problem ist, dass dabei niemand an die Opfer denkt. Bei einer solchen Siegesfeier passen die Opfer einfach nicht rein."
Der Gedenkgottesdienst beginnt. Boris Milosevic hält vor dem Betreten der Kirche kurz inne und bekreuzigt sich. 83 Zivilisten sind allein bei der Operation "Blitz" ums Leben gekommen. Und bis heute ist dafür niemand zur Verantwortung gezogen worden, klagt der junge Politiker, der von Haus aus Jurist ist - weder vom Internationalen Kriegsverbrechertribunal in Den Haag noch von den kroatischen Gerichten.
"Dabei hatte Kroatien während der EU-Beitrittsverhandlungen noch große Fortschritte gemacht bei der Aufarbeitung der Vergangenheit. In den 1990er-Jahren gab es ja noch die die Maxime, dass man selbst überhaupt keine Verbrechen begangen hat. Es sei schließlich ein reiner Verteidigungskrieg gewesen, den man geführt habe. Dabei ist man geblieben, bis das Internationale Kriegsverbrechertribunal in Den Haag darauf bestanden hat, auch die kroatischen Verbrechen vor Gericht zu bringen."
2013 fiel der Reformdruck plötzlich weg
"Für die Öffentlichkeit war das zunächst nur sehr schwer zu akzeptieren. Es gab große Widerstände, und die ersten Prozesse in Kroatien wurden von großen Demonstrationen begleitet. Aber das hat sich dann etwas beruhigt. Auch die Politiker haben damals gesagt, dass alle Verbrechen verfolgt werden müssen - ungeachtet der ethnischen Nationalität der Täter."
Doch dann: ein doppelter Wendepunkt. 2013 wurde Kroatien Mitglied der EU, der Reformdruck, auch auf die Justiz, war plötzlich weg. Dazu kam, dass das Internationale Tribunal in Den Haag ein halbes Jahr zuvor das Urteil gegen Ante Gotovina und Mladen Markac aufgehoben hatte. In erster Instanz hatte das Gericht die beiden Generäle noch zu einer Haftstrafe von 24 Jahren verurteilt.
"Und nach diesem Freispruch im Berufungsverfahren wurde praktisch ein Punkt gemacht. Das Urteil wurde nicht wahrgenommen als Freispruch von Gotovina und Markac, sondern als Freispruch für alle. Und damit wurde die ganze Frage ad acta gelegt - obwohl das Gericht in seinem Urteil ja gesagt hat, dass die Verbrechen stattgefunden haben. Aber danach hat dann niemand mehr gefragt."
Dieser Beitrag gehört zur fünfteiligen Reportagereihe "Der Balkan und die Kriegsverbrechen - Verklärte Helden, verurteilte Mörder".
Nach der Liturgie fährt die kleine Gemeinde in das Nachbardorf Medari. Um sechs Uhr morgens waren hier die kroatischen Soldaten eingefallen; von den Bewohnern, die noch nicht geflohen waren, insgesamt 24 Zivilisten, überlebten nur zwei kleine Mädchen. Nur wenige Serben sind in die Region zurückgekehrt. Bis heute steht die orthodoxe Kirche zerschossen und zerbombt an der Hauptstraße.
Die serbische Kirchgemeinde hat direkt gegenüber in einem alten Gebäude eine neue Heimat gefunden. Durch den Garten führt ein Schotterweg zu einem kleinen Denkmal.
"Wir haben es vor vier Jahren aufgestellt, und jetzt versammeln wir uns hier jedes Jahr, um der Opfer zu gedenken. Über dieses Verbrechen spricht man nur wenig, es wird wenig darüber geschrieben. Besonders seit das Internationale Tribunal in Den Haag seine Arbeit beendet hat. Die Geschichte ist abgeschlossen."
Hat das Haager Tribunal zu früh seine Arbeit beendet?
Nach der Kranzniederlegung gibt es in dem kleinen Gemeindezentrum noch Kaffee, Schnaps und Kekse. Jetzt endlich ist für Boris Milosevic auch Zeit für politische Gespräche. Dass in Kroatien das Engagement bei der Verfolgung von Kriegsverbrechen stark nachgelassen hat, zumal wenn es um Verbrechen der eigenen Seite geht - das haben auch Nichtregierungsorganisationen immer wieder kritisiert.* War die Schließung des internationalen Tribunals in Den Haag also zu früh?
"Definitiv, ja. Ohne das Tribunal hätte es noch viel weniger Prozesse vor lokalen Gerichten gegeben. Denn es gab ja immer den Druck: Wenn wir das hier nicht in Kroatien erledigen, dann übernimmt Den Haag. Und jetzt gibt es diesen Druck nicht mehr."
Dann macht sich Boris Milosevic wieder auf den Weg zurück nach Zagreb. Es hängt eben alles zusammen, sagt er: Wenn in Kroatien offiziell nur vom gerechten und sauberen "vaterländischen Krieg" die Rede sei, wenn Politiker selbst verurteilte Kriegsbrecher in Schutz nähmen oder gar glorifizierten, wenn niemand über die Opfer spreche - wie könne man dann erwarten, dass die lokalen Gerichte ihre Arbeit tun?
"Aber das ist leider die Krankheit im ganzen ehemaligen Jugoslawien: Verbrecher sind keine Verbrecher, sondern unsere Helden - und die Opfer werden ignoriert."
*Anm. d. Red.: In einer früheren Manuskriptfassung war die Kritik an dem Nachlassen des Engagements bei der Verfolgung von Kriegsverbrechen falsch zugeordnet; wir haben dies korrigiert.