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Der Balkan und die Kriegsverbrechen
"Wir müssen befreit werden von diesem kriminellen Netzwerk"

Die kosovo-albanische Guerillaarmee UCK kämpfte für die Loslösung des Kosovo von Serbien. Mutmaßlich von der UCK begangene Kriegsverbrechen sind nur unzulänglich aufgearbeitet: Zeugen wurden bedroht, verfolgt, ermordet. Mancher hofft nun auf ein neues Sondergericht in Den Haag - wie Fetah Rudi.

Von Dirk Auer |
Fetah Rudi im Rollstuhl vor seinem Wohnhaus
Fetah Rudi im Rollstuhl vor seinem Wohnhaus (Dirk Auer / Deutschlandradio)
Auf dem Hof von Fetah Rudi bei Malishevo, eine Gemeinde gut eine Autostunde von der Hauptstadt Pristina entfernt: Der Bruder ist gekommen, ein Cousin, ein paar Kinder springen herum. Gleich kommt das Mittagessen auf den Tisch, doch zur Begrüßung gibt es erst einmal hausgemachten Rakija, einen Pflaumenschnaps.
"Wir sind moderne Muslime", sagen die Gastgeber schmunzelnd. An der Wand hängen Bilder von Ibrahim Rugova, dem 2006 verstorbenen Präsidenten des Kosovo, der für den gewaltfreien Kampf der Kosovo-Albaner gegen das Regime von Slobodan Milosevic stand.
Fetah Rudi ist ein Anhänger der ersten Stunde. Er blieb es auch, als es während des Kriegs zu Rivalitätskämpfen mit der neu gegründeten albanischen Untergrundarmee UCK kam. Und auch nach dem Krieg, als es darum ging, wer die Macht im Kosovo übernimmt. Im Oktober des Jahres 2000 fanden die ersten Kommunalwahlen statt. Fetah Rudi wurde für die LDK, die Partei Rugovas, in den Stadtrat von Malishevo gewählt.
"Ich war einer der Kandidaten mit den meisten Stimmen. Wir kamen an die Regierung, aber es gab immer noch Druck. Auch auf mich persönlich: Ich sollte rausgehen aus meiner Partei und mich der PDK anschließen, die aus der UCK hervorgegangen war. Aber ich blieb fest mit der LDK verbunden, ich habe immer weitergemacht - bis zum 15. Dezember 2000."
Rudi überlebte einen Anschlag nur knapp
Es war ein Freitag. Fetah Rudi war auf dem Rückweg von einem Treffen mit Parteichef Ibrahim Rugova.
"Wir waren zu dritt, ich saß hinten. Und dann, es war 14.35 Uhr, hörten wir von vorne plötzlich eine Gewehrsalve. Da war ein schnell heranfahrendes Auto: ein Opel Astra, rot, mit getöntem Glas. Und als es näher kam, fielen Schüsse. Meine beiden Kollegen sind sofort raus aus unserem Auto. Ich wollte hinterher, aber ich konnte mich nicht bewegen."
Ein UCK-Denkmal im Kosovo
Ein UCK-Denkmal im Kosovo (Dirk Auer / Deutschlandradio)
13 Kugeln trafen Fetah Rudis Körper. Er hat überlebt. Doch seit diesem Attentat sitzt er im Rollstuhl. Ich weiß, wer die Leute waren, die auf mich geschossen haben, sagt Fetah Rudi mit fester Stimme, während die Kinder das Essen herbeitragen: eine Suppe, Rührei, Brot, eine kräftige Wurst, eingelegte Paprika und ein weicher Schafskäse, alles hausgemacht.
"Ich habe sie genau gesehen: den Fahrer und den Typ mit dem Gewehr. Uns wurde dann gesagt, dass sie auf der Flucht einen Unfall hatten. Und dass alle drei tot sind."
Fetah Rudi aber glaubt:
"Das war alles nur inszeniert, um die Spuren zu verwischen. Angeblich gab es einen Zusammenstoß mit einem Lkw. Aber: Der Lkw ist verschwunden, und den Fahrer gab es auch nicht."
"Die diese Verbrechen begangen haben, sind überall"
Aber wer steckte hinter dem Attentat? "SHIK", sagt Fetah Rudi ohne zu zögern - der umstrittene Geheimdienst, der schon während des Kriegs von der UCK aufgebaut wurde. Der Chef von SHIK war damals Kadri Veseli, heute ist er Parlamentspräsident.
Das Attentat auf Fetah Rudi war zu dieser Zeit kein Einzelfall: Rund 100 LDK-Aktivisten und Politiker oder Unterstützer sollen in der unmittelbaren Nachkriegszeit entführt, ermordet oder bei Überfällen verwundet worden sein. Belangt wurde dafür fast niemand. Die ehemaligen UCK-Kämpfer wiederum stehen heute an der Spitze von Staat und Gesellschaft.
"Jedes Mal, wenn wir den Fernseher anmachen, sehen wir sie, die Leute, die diese Verbrechen begangen haben. Sie sind überall: in der Regierung, im Parlament, bei der Polizei. Und sie haben nicht aufgehört mit ihren kriminellen Aktivitäten."
Zwei Mal wurde Fetah Rudi von internationalen Ermittlern der UN und der EU verhört. Aber im Kosovo Recht zu sprechen, das ist selbst für internationale Richter schwierig: Zeugen werden eingeschüchtert oder sogar umgebracht.
Dieser Beitrag gehört zur fünfteiligen Reportagereihe "Der Balkan und die Kriegsverbrechen - Verklärte Helden, verurteilte Mörder".
Nach dem Essen wird starker Tee in kleinen Gläsern serviert. Nachdenklich rührt Fetah Rudi den Zucker um. Seit einiger Zeit hat er wieder neue Hoffnung.
"Nach dem Versagen der kosovarischen Justiz, nach dem Versagen der UN-Mission Unmik, nach dem Versagen der EU-Mission Eulex: Unsere letzte Hoffnung ist nun das neue Sondergericht in Den Haag für die Aufarbeitung der UCK-Kriegsverbrechen."
Hoffnung aufs neue Sondergericht
Aber auch das neue Gericht dürfte mit denselben Problemen zu kämpfen haben: dass Zeugen aus Angst nicht aussagen wollen. Nein, erwidert Fetah Rudi, diesmal wird es anders laufen.
"Das Gericht wird Kosovo von dieser kriminellen Klasse befreien. Früher hatten die Zeugen Angst, sie sagten selbst gegenüber Unmik oder Eulex nichts, weil die UCK-Kommandeure stärker waren. Aber das neue Sondergericht können sie nicht beeinflussen. Diese Leute werden das hinkriegen. Ich glaube fest daran."
Seine Verwandten helfen Fetah Rudi in den Rollstuhl. Niemand weiß, ob und, wenn ja, welche ehemaligen UCK-Führer Kosovo tatsächlich bald in Handschellen verlassen werden. Aber Angst haben müssen viele.
"Diese Leute sollten weg. Nicht nur wegen mir, auch viele andere Familien haben jemanden verloren, und sie wissen nicht, wer die Morde begangen hat. Wir alle warten darauf, dass endlich Licht in diese Angelegenheiten kommt."
Fetah Rudi will aussagen, natürlich, sagt er
Draußen vor der Tür: Fetah Rudi sitzt in seinem Rollstuhl, schaut über den Hof, dann auf die dahinterliegenden Berge. Es gibt keine Hoffnung, dass er jemals wieder wird laufen können. Aber Kosovo, sein Land, das brauche nun noch einmal eine letzte Katharsis.
"Wir alle müssen befreit werden von diesem kriminellen Netzwerk - damit wir endlich vorwärts gehen können."
Und Fetah Rudi wird vor Gericht aussagen, wenn man ihn fragt, natürlich, sagt er. Trotz Einschüchterungen und Drohungen, denen er nach wie vor ausgesetzt ist.