"Um 2.12 Uhr waren wir mit der Arbeit fertig, um 2.15 Uhr sagen wir Horst und Guido zueinander!"
Es beginnt alles so friedlich und freundlich. Vermutlich ist es schon damals allzu dick aufgetragen. Die Wunschpartner haben sich gefunden. Wie sehr das insbesondere von Guido Westerwelle und Horst Seehofer beim Abschluss der Koalitionsverhandlungen zur Schau getragen wird, macht schon Ende Oktober stutzig.
"Wie immer in unserer Geschichte werden wir im Rahmen unserer Möglichkeiten diese Regierung stärkstens unterstützen!"
Angela Merkel lächelt damals verlegen, beinahe so als sei ihr dieses Schauspiel peinlich.
"Da ist nun die Freude wieder ganz auf meiner Seite!"
Die CDU-Chefin scheint zu ahnen, dass das Regieren mit CSU und FDP nicht leichter werden dürfte als in Zeiten der Großen Koalition. Jetzt prägen Kompromisse und Kommissionen so sehr den Koalitionsvertrag, dass der Ärger vorprogrammiert ist.
"Nach intensiven, harten, aber sehr konstruktiven Verhandlungen ist uns ein gutes Kursbuch für die nächsten Jahre gelungen!"
Doch dieses Kursbuch gibt die grobe Richtung vor, mehr nicht. Letztlich bleibt die Frage unbeantwortet: Wer sind die Partner, die sich dort gegenübersitzen – und in Rekordtempo eine Koalition vereinbaren, anders als 2005, anders als in den quälend langen Verhandlungen zwischen Christ- und Sozialdemokraten, die schließlich zur Großen Koalition führten.
Wunschpartner – auch diese Nachricht soll von den Koalitionsverhandlungen ausgehen – streiten nicht, zumindest nicht grundsätzlich. Doch die vermeintlich idealen Partner haben sich auseinandergelebt in der Zeit der Großen Koalition, vermutet der Politikwissenschaftler Gero Neugebauer von der Freien Universität Berlin.
"Das hat dazu geführt, dass beide mit unterschiedlichen Erwartungen in diese Koalition eingetreten sind, das aber nicht zur Kenntnis genommen haben - sie hätten darauf kommen können, als sie gemerkt haben, wie viele Vorbehalte in den Koalitionsvertrag eingebaut worden sind, in Form von: 'Da gründen wir Kommissionen, da lassen wir Arbeitskreise Vorbereitungen machen'. Das heißt, sie haben sich eigentlich getäuscht über das Maß an Übereinstimmung, das zwischen beiden herrscht."
Guido Westerwelle
"Das ist der Beginn einer großen Freundschaft!"
Zu spüren ist von dieser großen Freundschaft bisher nur wenig. Zunächst ist es die Steuerpolitik, die zum größten Stolperstein der neuen Koalition wird.
"Ein niedrigeres, einfacheres und gerechteres Steuersystem, das haben wir versprochen, das halten wir auch hier mit diesem Koalitionsvertrag."
Dass es ohne massive Steuersenkungen nicht gehen würde, war von Beginn an klar. Erst der Erfolg der Liberalen hatte die schwarz-gelbe Koalition überhaupt möglich gemacht, und der Triumph der FDP liegt ganz wesentlich im unaufhörlich vorgetragenen Steuersenkungscredo ihres Vorsitzenden begründet. Völlig klar, dass die Chefin etwas einlösen musste:
"Die neue Regierung hält Wort, wir erhöhen keine Steuern und Abgaben, sondern wir setzen auf Wachstum. Wir entlasten die Bürgerinnen und Bürger!"
Es ist eine ökonomische Mehrheit, die Schwarz-Gelb im September 2009 zum Wahlsieg verhilft. So nennt es Gero Neugebauer. Das Vertrauen in Union und FDP, mit der ihr zugesprochenen Kompetenz in Wirtschaftsfragen besser durch die Krise zu fahren und aus ihr herauszukommen, habe vor allem den Liberalen ihren Erfolg eingetragen, sagt der Politologe. Der große programmatische Wurf wäre eine tiefgreifende Steuerreform - so wie sie Union und FDP einst auf Bierdeckeln inklusive Stufentarif konzipierten.
"Aber da die Union weiß, dass sie mit einer konsequent marktorientierten, neoliberalen Politik Wähler verschreckt - und zwar nicht nur in Erinnerung an die Blamage von 2005, auch an das Ergebnis von 2009 - da die Union dieses weiß, wird sie gegensteuern. (Dabei erwirbt sie sich den Anschein sozialdemokratischen Handelns.)"
Trotz der schwarz-gelben Mehrheit, so die Analyse des Parteienforschers Neugebauer, fehlten dennoch die gesellschaftlichen Mehrheiten, um eine radikale Steuerreform durchzuführen. Ganz zu schweigen vom Geld. Das reicht zunächst immerhin für erste Geschenke - beschlossen mit dem sogenannten Wachstumsbeschleunigungsgesetz, mehr Geld für Unternehmer und Erben, Entlastungen für Familien. Doch schnell entbrennt ein heftiger Streit darüber, wie die für 2011 geplante große Steuerreform mitsamt eines Stufentarifes realisiert werden soll.
Schuldenbremse und EU-Stabilitätspakt bringen den Finanzminister in die Bredouille. Schon 2010 muss der Christdemokrat Wolfgang Schäuble mit knapp 100 Milliarden Euro eine Rekord-Neuverschuldung verantworten. Kanzlerin Merkel ist klar, wie schwer es da sein wird, weitere Steuersenkungen umzusetzen.
"Wir fahren natürlich mit allem, was wir zur Zeit machen, ein ganzes Stück auf Sicht. Garantien gibt es nicht!"
Der Finanzminister relativiert seit den ersten Tagen dieser Koalition die Steuersenkungsbegehrlichkeiten des Partners und kann sich dabei auf den vielleicht wichtigsten Satz des gemeinsamen Arbeitspapiers berufen – nachzulesen auf Seite 12: "Alle Maßnahmen des Koalitionsvertrages stehen unter Finanzierungsvorbehalt." Rückendeckung erhält Schäuble schon früh selbst von unionsgeführten Landesregierungen. 3,9 Milliarden Euro der Entlastungen durch das Wachstumsbeschleunigungsgesetz müssen von Ländern und Kommunen getragen werden. "Ihr habt sie doch nicht alle!" ereifert sich Peter Harry Carstensen. Der Ministerpräsident von Schleswig-Holstein wirft als erster den Stein, und erklärt im November die Ausfälle für sein Bundesland als nicht vertretbar:
"Wenn ich dann feststelle, dass durch eine solche Entscheidung wie sie jetzt ansteht, dem Land 70 Millionen verlustig gehen und den Kommunen noch einmal 60 Millionen auch verlustig gehen, dann ist das ein Geschäft, das ich mir nicht leisten kann."
Kontrovers, konzeptionslos, chaotisch – so stellt sich die Koalition in den Augen ihrer Kritiker vor der Weihnachtspause dar. Und vielleicht muss es so anfangen, wenn Wunschpartner endlich vom Wähler gemeinsam auf die Regierungsbank geschickt werden - Rückblick auf eine andere Wunsch-Konstellation – der Start von Rot-Grün 1998: "Nachbessern" war das Schlüsselwort der ersten 100 Tage, kaum etwas schien Sozialdemokraten und Grünen beim ersten Versuch zu gelingen. Noch in der Schonfrist ging mit Hessen die erste Landtagswahl verloren, die Umfragewerte waren im Keller und die Moral der Truppe sowieso. Rot-Grün strauchelte – doch auf andere Weise als Schwarz-Gelb heute, meint Gero Neugebauer:
"Rot-grün war das Pech von Anfängern. Das waren handwerkliche Fehler. Hier haben wir es mit einer Kanzlerin zu tun, die vier Jahre Regierungserfahrung hinter sich gebracht hat. Wir haben eine andere Partei, die Gelben, die gesagt hat, wir sind prädestiniert dafür. Und da hätte man erwarten müssen, dass sie sozusagen eine Art Schattenkabinett bilden und simulieren, was machen wir denn, wenn wir in die Regierung kommen."
Atomausstieg, Homoehe oder Staatsbürgerschaftsrecht – eine gemeinsame gesellschaftspolitische Reform-Agenda war bei Rot-Grün vorhanden, konstatiert Parteienforscher Neugebauer. Und dafür sei diese Koalition auch gewählt und wiedergewählt worden. Schwarz-Gelb hingegen, sagt Neugebauer, muss ökonomisch reüssieren. Dafür hätten die Deutschen dieser Koalition das Mandat erteilt.
Wie aber will Deutschland mit einer derartigen Politik jemals von dem angesichts der Wirtschaftskrise weiter wachsenden Schuldenberg herunterkommen? Eine Frage, die immer drängender auch von Experten, etwa dem Vorsitzenden des Sachverständigenrates, Wolfgang Franz, gestellt wird:
"Statt einer konsequenten Konsolidierungsstrategie finden sich lediglich Ankündigungen. Konkrete Angaben fehlen völlig. Schlimmer noch: Ohne auf die Finanzierung einzugehen, werden zusätzliche steuerliche Entlastungen in einem Gesamtvolumen von 24 Milliarden Euro versprochen."
In der Tat wird die Koalition angreifbar, weil sie die Frage nach der Finanzierung nicht beantworten kann. Schwarz-gelb flüchtet sich auf die Steuerschätzung im Mai. Erst danach könne eingeschätzt werden, wie sehr der Konjunktureinbruch den Haushalt belastet. Die Opposition sieht schon in diesem Datum einen Wählerbetrug – denn am 9. Mai wird in Nordrhein-Westfalen ein neuer Landtag gewählt. Wohl kalkuliert – so die SPD – würden die Bürger darüber im Unklaren gelassen, wie denn welche Steuerversprechen tatsächlich zu realisieren sind. Und gern wird die Kanzlerin in diesem Zusammenhang daran erinnert, wie deutlich sie sich in Steuerfragen einst als Oppositionsführerin positionierte. Angela Merkel im Jahr 2003:
"Jawohl! Wir sind immer die Partei gewesen, die Steuersenkungen für richtig gehalten hat, aber Steuersenkungen angesichts der Sparanstrengungen unserer Ministerpräsidenten völlig auf Pump, das kann und wird es mit der Union nicht geben, liebe Freunde!"
Heute dagegen dominieren Steuergeschenke die Politik Merkels, von Sparvorschlägen ist nichts zu hören. Stattdessen sorgen die Steuererleichterungen für Hoteliers für zusätzlichen Ärger. Der Mehrwertsteuersatz für Übernachtungen gesenkt auf sieben Prozent, fürs Frühstück gilt weiter der volle Satz. Das sorgt für mehr Bürokratie und Einnahmeausfälle in Höhe von einer Milliarde Euro. Der Reputation der Koalition schadet dieses Gesetz, meint vor Jahresfrist ein prominenter Christdemokrat. Im Deutschlandfunk-Interview liest Bundestagspräsident Norbert Lammert den eigenen Leuten die Leviten:
"In dieses Gesetz sind neben manchen sinnvollen auch manche zweifelhafte und einige – wie ich finde – schlicht misslungene, auch nicht vertretbare Regelungen hereingekommen"
Besonders groß ist die Empörung allerdings, als bekannt wird, dass die
FDP eine Millionenspende aus dem Mövenpick-Umfeld erhalten hat. Klientelpolitik! – keine Partei sieht sich diesem Vorwurf so häufig ausgesetzt wie die FDP. Dass Parteien Interessen bestimmter Gruppen bedienten, sei zwar zunächst ihre natürliche Rolle, sagt Parteienforscher Neugebauer. Aber:
"Die Gemeinwohlorientierung taucht in dem Moment auf, wo diese Parteien zu Regierungsparteien werden. Und dann müssen sie (– was Gemeinwohl ist, kann im Parlament mehrheitlich beschlossen werden –) aber dann müssen sie so etwas formulieren können. Und wenn unter einer Regierungsüberschrift 'Zusammenhalt' dann die ersten Entscheidungen doch eher Gruppeninteressen bedienen, dann haben sie zurecht den Vorwurf geerntet, dass sie noch nicht in der Lage sind, ihre Verantwortung als Regierungsparteien wahrzunehmen und weiterhin Klientelpolitik zu machen."
Für die Opposition ist die Diskussion über die Spende aus dem Hotel-Gewerbe ein gefundenes Fressen. Genüsslich legen die Sozialdemokraten nach, halten der FDP vor, sich auch in der Gesundheitspolitik dem Druck von Lobbyisten zu beugen. Dass mit Peter Sawicki der Chef eines pharmakritischen Bundesinstitutes gehen muss, bringt den liberalen Gesundheitsminister in Erklärungsnöte.
Vor allem aber gerät Philipp Rösler wegen der geplanten Gesundheitsreformzunehmend in Bedrängnis. Die von der FDP geforderte Umstellung des Gesundheitssystems auf eine einkommensunabhängige Prämie wird erhebliche Steuergelder in Anspruch nehmen. Schätzungen reichen von 20 bis 40 Milliarden Euro, die für einen Solidarausgleich bereitgestellt werden müssen. Dass sich die CDU überhaupt noch einmal auf eine solche Kopfpauschale einließ, hatte schon bei Vorstellung des Koalitionsvertrages für Erstaunen gesorgt – 2003 hatte sie dieses Modell auf dem Leipziger Parteitag ins Auge gefasst und war dafür viel gescholten worden. Jetzt hält insbesondere die CSU dagegen. Parteichef Horst Seehofer hat die Prämie inzwischen für tot erklärt – Gesundheitsminister Philip Rösler bleibt wenig anderes, als auch in diesem Punkt auf die Koalitionsvereinbarung zu verweisen. Und der forsche Minister geht aufs Ganze, verbindet sein politisches Schicksal mit der Kopfpauschale:
"Wenn es nicht gelingen kann, ein vernünftiges Gesundheitsversicherungssystem auf den Weg zu bringen, dann will mich keiner mehr als Gesundheitsminister haben, davon gehe ich jedenfalls fest aus."
Den bisher größten Gau erlebt Schwarz-gelb allerdings auf außenpolitischem Feld. Der Luftangriff auf zwei Tanklaster im afghanischen Kundus, Anfang September von einem deutschen Oberst angeordnet, holt die junge Regierung Merkel Wochen später wieder ein. Ex-Verteidigungsminister Franz Josef Jung muss sich dafür verantworten, dass ein Bericht von Bundeswehr-Feldjägern über zivile Opfer des Angriffs zwar vorlag, aber nicht auf seinem Tisch landete:
"Konkrete Kenntnis von diesem Bericht habe ich allerdings nicht erhalten!"
Dass Angela Merkel Jung überhaupt mit ins neue Kabinett geholt und zum Arbeitsminister gemacht hatte, wird vor allem dem landsmannschaftlichen Proporzdenken in der CDU zugeschrieben. Hessen sollte nach dem Willen von Ministerpräsident und Parteivize Roland Koch im Kanzleramt weiter prominent vertreten sein. Ende November bringt Jung die Kanzlerin durch seine zweifelhafte Selbstverteidigung in Bedrängnis, als er uneinsichtig daran festhält:
"Dass ich sowohl die Öffentlichkeit als auch das Parlament korrekt über meinen Kenntnisstand hinsichtlich dieser Vorgänge informiert habe."
Merkel hält sich zunächst zurück, zieht erst nach 36-stündiger Hängepartie die Reißleine. Jung muss gehen, auch wenn die Chefin das anders darstellt:
"Ich habe die Entscheidung von Franz Josef Jung, vom Amt des Bundesverteidigungs- ... oh (lacht kurz), vom Amt des Bundesarbeitsministers zurückzutreten, mit Respekt und Hochachtung zur Kenntnis genommen."
Gerade mal einen Monat im Amt, muss Jung am 27. November seinen Hut nehmen, der rascheste Ministerrücktritt aller Zeiten. Ursula von der Leyen übernimmt das Arbeitsressort. Die erst 32-jährige kinderlose Kristina Köhler wird Familienministerin. Dass sie das mühsam auf Druck der CSU vereinbarte Betreuungsgeld gleich im ersten Interview in Frage stellt, bleibt zunächst ein kleiner Kollateralschaden der Kabinettsumbildung. Vielmehr konzentriert sich bald alles auf den Shootingstar der Christsozialen, Karl-Theodor zu Guttenberg, den neuen Verteidigungsminister. Er hatte seinem Vorgänger in der Bewertung der Luftangriffe von Kundus lange Zeit den Rücken gestärkt und erklärt,
" ... dass die Militärschläge als militärisch angemessen zu sehen sind."
Dann die Korrektur. Für zu Guttenberg ...
"War es aus heutiger, objektiver Sicht militärisch nicht angemessen."
Was zu dieser Neubewertung führte, wer wann etwas über zivile Opfer gewusst hat, ist nun Gegenstand eines Untersuchungsausschusses. Auch dieses frühe Einsetzen eines solchen Gremiums zeugt nicht unbedingt von einem reibungslosen Start der neuen Regierung. Differenzen in der Außenpolitik zwischen Verteidigungsminister und dem Chef des Auswärtigen Amtes treten in der Folge der Kundus-Affäre verstärkt zu Tage. Wochenlang steht die Afghanistanstrategie der Bundesregierung im Fokus. Merkel schweigt, und kann erst Ende Januar nach einer Ministerrunde im Kanzleramt die deutsche Marschrichtung ausgeben: 850 zusätzliche Soldaten, die vor allem die Militär- und Polizeiausbildung in Afghanistan sichern und bis 2014 zumindest einen Teilrückzug der Bundeswehr ermöglichen sollen. Das Problem Afghanistan ist damit – zumindest vorerst – vom Tisch. Ein anderer, seit Wochen schwelender Streit ist dagegen vertagt und könnte die Koalition bald wieder einholen: Die Personalie Erika Steinbach Der Vizekanzler wehrt sich vehement dagegen, dass die Vertriebenen-Präsidentin einen Posten im Beirat der Stiftung Flucht, Vertreibung und Versöhnung erhält, Westerwelle verweist darauf, dass Steinbach 1991 gegen die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze stimmte und es nicht zuletzt deshalb Protest aus Polen gibt:
"Dementsprechend ist es aus meiner Sicht ganz klar, dass wir alles unterlassen müssen, was aus einer solchen Personalie eine große Konfliktfrage zwischen unseren Ländern werden lässt."
"Für den Fall, dass Herr Westerwelle sich nicht in der Lage sieht, ist dies eine Belastung der Koalition."
CSU-Chef Horst Seehofer geht auch in dieser Frage auf Konfrontation zum Koalitionspartner, die Kanzlerin schweigt, scheint das Thema wohl auch mit Blick auf den konservativen Flügel ihrer Partei aussitzen zu wollen. Für ihren Parteifreund Norbert Lammert ist dieser Streit ein weiteres Mosaiksteinchen, das die Koalition in einem schlechten Licht dastehen lässt. Die Partner brächten zu sehr ihre jeweiligen Steckenpferde gegeneinander in Stellung, beklagt der Bundestagspräsident:
"Damit ist tatsächlich das gemeinsame Projekt hinter einer Reihe von eben keineswegs identischen Zielvorstellungen versteckt worden."
Anfang des Jahres versucht die Koalition einen Neubeginn – Merkel lädt Seehofer und Westerwelle ins Kanzleramt. Was unter dem Strich nach 100 problematischen Tagen in der Regierungsverantwortung an Veränderungen ansteht, ist allenfalls ein Wechsel in der Rhetorik:
"Die langen Linien, die großen Linien, darum geht es. Und deswegen wollen wir eine geistige politische Wende in diesem Land!"
Mit dieser Wende knüpft FDP-Chef Westerwelle an erfolgreiche schwarz-gelbe Jahre an, an die von Helmut Kohl 1982 ausgegebene "geistig-molarische Wende". Und auch andere variieren die Farbenlehre durch neue – alte – Attribute: von der christlich-liberalen Koalition hört man die Koalitionäre allenthalben wieder sprechen – was nach mehr klingt als nur schwarz-gelb. – Auf der Suche nach Identität helfen zunächst die Worte. Eine bestimmte gemeinsame Werteorientierung in Fragen des Verhältnisses vom Bürger zum Staat vermag Gero Neugebauer denn auch zu erkennen -
"Aber es ist nichts, was tatsächlich den großen Wurf darstellt oder was auch deutlich macht, es gibt eine Gesamtlinie, und wenn diese Legislaturperiode vorbei ist, dann wissen wir, welche neue Gesellschaft nun entstehen soll oder wie die Gesellschaft sich entwickeln soll."
Ein bisschen mehr Konservatismus dürfte es gerne sein – das hatten Unionspolitiker aus den Ländern im Verein mit Kirchenkreisen im Januar eingefordert. Denn der klassischen Unionsklientel – so analysiert auch Neugebauer – fehlt es an identitären Projekten. Schon allein personell ist die Koalition mit einer Frau an der Spitze und einem schwulen Vizekanzler Ausdruck eines "modernen Konservatismus", sagt der Parteienforscher.
"Das bedeutet für die, die Orientierung erwarten, es gäbe ein bestimmtes schwarz-gelbes Projekt, und dass die Orientierung auch versehen wird mit konkreten Bezugspunkten, dass sie immer wieder sehen müssen, es ist nicht da, es wird erarbeitet. Wie wird es eigentlich erarbeitet? Welche Perspektiven hat es? Und da fehlen die Hinweise darauf. Und das kann man nicht nur an den Personen festmachen. Das muss man dann auch an der Politik festmachen."
Identität, sagt Neugebauer, kann diese Koalition letztlich nur über die Wirtschaftspolitik herstellen.
Es beginnt alles so friedlich und freundlich. Vermutlich ist es schon damals allzu dick aufgetragen. Die Wunschpartner haben sich gefunden. Wie sehr das insbesondere von Guido Westerwelle und Horst Seehofer beim Abschluss der Koalitionsverhandlungen zur Schau getragen wird, macht schon Ende Oktober stutzig.
"Wie immer in unserer Geschichte werden wir im Rahmen unserer Möglichkeiten diese Regierung stärkstens unterstützen!"
Angela Merkel lächelt damals verlegen, beinahe so als sei ihr dieses Schauspiel peinlich.
"Da ist nun die Freude wieder ganz auf meiner Seite!"
Die CDU-Chefin scheint zu ahnen, dass das Regieren mit CSU und FDP nicht leichter werden dürfte als in Zeiten der Großen Koalition. Jetzt prägen Kompromisse und Kommissionen so sehr den Koalitionsvertrag, dass der Ärger vorprogrammiert ist.
"Nach intensiven, harten, aber sehr konstruktiven Verhandlungen ist uns ein gutes Kursbuch für die nächsten Jahre gelungen!"
Doch dieses Kursbuch gibt die grobe Richtung vor, mehr nicht. Letztlich bleibt die Frage unbeantwortet: Wer sind die Partner, die sich dort gegenübersitzen – und in Rekordtempo eine Koalition vereinbaren, anders als 2005, anders als in den quälend langen Verhandlungen zwischen Christ- und Sozialdemokraten, die schließlich zur Großen Koalition führten.
Wunschpartner – auch diese Nachricht soll von den Koalitionsverhandlungen ausgehen – streiten nicht, zumindest nicht grundsätzlich. Doch die vermeintlich idealen Partner haben sich auseinandergelebt in der Zeit der Großen Koalition, vermutet der Politikwissenschaftler Gero Neugebauer von der Freien Universität Berlin.
"Das hat dazu geführt, dass beide mit unterschiedlichen Erwartungen in diese Koalition eingetreten sind, das aber nicht zur Kenntnis genommen haben - sie hätten darauf kommen können, als sie gemerkt haben, wie viele Vorbehalte in den Koalitionsvertrag eingebaut worden sind, in Form von: 'Da gründen wir Kommissionen, da lassen wir Arbeitskreise Vorbereitungen machen'. Das heißt, sie haben sich eigentlich getäuscht über das Maß an Übereinstimmung, das zwischen beiden herrscht."
Guido Westerwelle
"Das ist der Beginn einer großen Freundschaft!"
Zu spüren ist von dieser großen Freundschaft bisher nur wenig. Zunächst ist es die Steuerpolitik, die zum größten Stolperstein der neuen Koalition wird.
"Ein niedrigeres, einfacheres und gerechteres Steuersystem, das haben wir versprochen, das halten wir auch hier mit diesem Koalitionsvertrag."
Dass es ohne massive Steuersenkungen nicht gehen würde, war von Beginn an klar. Erst der Erfolg der Liberalen hatte die schwarz-gelbe Koalition überhaupt möglich gemacht, und der Triumph der FDP liegt ganz wesentlich im unaufhörlich vorgetragenen Steuersenkungscredo ihres Vorsitzenden begründet. Völlig klar, dass die Chefin etwas einlösen musste:
"Die neue Regierung hält Wort, wir erhöhen keine Steuern und Abgaben, sondern wir setzen auf Wachstum. Wir entlasten die Bürgerinnen und Bürger!"
Es ist eine ökonomische Mehrheit, die Schwarz-Gelb im September 2009 zum Wahlsieg verhilft. So nennt es Gero Neugebauer. Das Vertrauen in Union und FDP, mit der ihr zugesprochenen Kompetenz in Wirtschaftsfragen besser durch die Krise zu fahren und aus ihr herauszukommen, habe vor allem den Liberalen ihren Erfolg eingetragen, sagt der Politologe. Der große programmatische Wurf wäre eine tiefgreifende Steuerreform - so wie sie Union und FDP einst auf Bierdeckeln inklusive Stufentarif konzipierten.
"Aber da die Union weiß, dass sie mit einer konsequent marktorientierten, neoliberalen Politik Wähler verschreckt - und zwar nicht nur in Erinnerung an die Blamage von 2005, auch an das Ergebnis von 2009 - da die Union dieses weiß, wird sie gegensteuern. (Dabei erwirbt sie sich den Anschein sozialdemokratischen Handelns.)"
Trotz der schwarz-gelben Mehrheit, so die Analyse des Parteienforschers Neugebauer, fehlten dennoch die gesellschaftlichen Mehrheiten, um eine radikale Steuerreform durchzuführen. Ganz zu schweigen vom Geld. Das reicht zunächst immerhin für erste Geschenke - beschlossen mit dem sogenannten Wachstumsbeschleunigungsgesetz, mehr Geld für Unternehmer und Erben, Entlastungen für Familien. Doch schnell entbrennt ein heftiger Streit darüber, wie die für 2011 geplante große Steuerreform mitsamt eines Stufentarifes realisiert werden soll.
Schuldenbremse und EU-Stabilitätspakt bringen den Finanzminister in die Bredouille. Schon 2010 muss der Christdemokrat Wolfgang Schäuble mit knapp 100 Milliarden Euro eine Rekord-Neuverschuldung verantworten. Kanzlerin Merkel ist klar, wie schwer es da sein wird, weitere Steuersenkungen umzusetzen.
"Wir fahren natürlich mit allem, was wir zur Zeit machen, ein ganzes Stück auf Sicht. Garantien gibt es nicht!"
Der Finanzminister relativiert seit den ersten Tagen dieser Koalition die Steuersenkungsbegehrlichkeiten des Partners und kann sich dabei auf den vielleicht wichtigsten Satz des gemeinsamen Arbeitspapiers berufen – nachzulesen auf Seite 12: "Alle Maßnahmen des Koalitionsvertrages stehen unter Finanzierungsvorbehalt." Rückendeckung erhält Schäuble schon früh selbst von unionsgeführten Landesregierungen. 3,9 Milliarden Euro der Entlastungen durch das Wachstumsbeschleunigungsgesetz müssen von Ländern und Kommunen getragen werden. "Ihr habt sie doch nicht alle!" ereifert sich Peter Harry Carstensen. Der Ministerpräsident von Schleswig-Holstein wirft als erster den Stein, und erklärt im November die Ausfälle für sein Bundesland als nicht vertretbar:
"Wenn ich dann feststelle, dass durch eine solche Entscheidung wie sie jetzt ansteht, dem Land 70 Millionen verlustig gehen und den Kommunen noch einmal 60 Millionen auch verlustig gehen, dann ist das ein Geschäft, das ich mir nicht leisten kann."
Kontrovers, konzeptionslos, chaotisch – so stellt sich die Koalition in den Augen ihrer Kritiker vor der Weihnachtspause dar. Und vielleicht muss es so anfangen, wenn Wunschpartner endlich vom Wähler gemeinsam auf die Regierungsbank geschickt werden - Rückblick auf eine andere Wunsch-Konstellation – der Start von Rot-Grün 1998: "Nachbessern" war das Schlüsselwort der ersten 100 Tage, kaum etwas schien Sozialdemokraten und Grünen beim ersten Versuch zu gelingen. Noch in der Schonfrist ging mit Hessen die erste Landtagswahl verloren, die Umfragewerte waren im Keller und die Moral der Truppe sowieso. Rot-Grün strauchelte – doch auf andere Weise als Schwarz-Gelb heute, meint Gero Neugebauer:
"Rot-grün war das Pech von Anfängern. Das waren handwerkliche Fehler. Hier haben wir es mit einer Kanzlerin zu tun, die vier Jahre Regierungserfahrung hinter sich gebracht hat. Wir haben eine andere Partei, die Gelben, die gesagt hat, wir sind prädestiniert dafür. Und da hätte man erwarten müssen, dass sie sozusagen eine Art Schattenkabinett bilden und simulieren, was machen wir denn, wenn wir in die Regierung kommen."
Atomausstieg, Homoehe oder Staatsbürgerschaftsrecht – eine gemeinsame gesellschaftspolitische Reform-Agenda war bei Rot-Grün vorhanden, konstatiert Parteienforscher Neugebauer. Und dafür sei diese Koalition auch gewählt und wiedergewählt worden. Schwarz-Gelb hingegen, sagt Neugebauer, muss ökonomisch reüssieren. Dafür hätten die Deutschen dieser Koalition das Mandat erteilt.
Wie aber will Deutschland mit einer derartigen Politik jemals von dem angesichts der Wirtschaftskrise weiter wachsenden Schuldenberg herunterkommen? Eine Frage, die immer drängender auch von Experten, etwa dem Vorsitzenden des Sachverständigenrates, Wolfgang Franz, gestellt wird:
"Statt einer konsequenten Konsolidierungsstrategie finden sich lediglich Ankündigungen. Konkrete Angaben fehlen völlig. Schlimmer noch: Ohne auf die Finanzierung einzugehen, werden zusätzliche steuerliche Entlastungen in einem Gesamtvolumen von 24 Milliarden Euro versprochen."
In der Tat wird die Koalition angreifbar, weil sie die Frage nach der Finanzierung nicht beantworten kann. Schwarz-gelb flüchtet sich auf die Steuerschätzung im Mai. Erst danach könne eingeschätzt werden, wie sehr der Konjunktureinbruch den Haushalt belastet. Die Opposition sieht schon in diesem Datum einen Wählerbetrug – denn am 9. Mai wird in Nordrhein-Westfalen ein neuer Landtag gewählt. Wohl kalkuliert – so die SPD – würden die Bürger darüber im Unklaren gelassen, wie denn welche Steuerversprechen tatsächlich zu realisieren sind. Und gern wird die Kanzlerin in diesem Zusammenhang daran erinnert, wie deutlich sie sich in Steuerfragen einst als Oppositionsführerin positionierte. Angela Merkel im Jahr 2003:
"Jawohl! Wir sind immer die Partei gewesen, die Steuersenkungen für richtig gehalten hat, aber Steuersenkungen angesichts der Sparanstrengungen unserer Ministerpräsidenten völlig auf Pump, das kann und wird es mit der Union nicht geben, liebe Freunde!"
Heute dagegen dominieren Steuergeschenke die Politik Merkels, von Sparvorschlägen ist nichts zu hören. Stattdessen sorgen die Steuererleichterungen für Hoteliers für zusätzlichen Ärger. Der Mehrwertsteuersatz für Übernachtungen gesenkt auf sieben Prozent, fürs Frühstück gilt weiter der volle Satz. Das sorgt für mehr Bürokratie und Einnahmeausfälle in Höhe von einer Milliarde Euro. Der Reputation der Koalition schadet dieses Gesetz, meint vor Jahresfrist ein prominenter Christdemokrat. Im Deutschlandfunk-Interview liest Bundestagspräsident Norbert Lammert den eigenen Leuten die Leviten:
"In dieses Gesetz sind neben manchen sinnvollen auch manche zweifelhafte und einige – wie ich finde – schlicht misslungene, auch nicht vertretbare Regelungen hereingekommen"
Besonders groß ist die Empörung allerdings, als bekannt wird, dass die
FDP eine Millionenspende aus dem Mövenpick-Umfeld erhalten hat. Klientelpolitik! – keine Partei sieht sich diesem Vorwurf so häufig ausgesetzt wie die FDP. Dass Parteien Interessen bestimmter Gruppen bedienten, sei zwar zunächst ihre natürliche Rolle, sagt Parteienforscher Neugebauer. Aber:
"Die Gemeinwohlorientierung taucht in dem Moment auf, wo diese Parteien zu Regierungsparteien werden. Und dann müssen sie (– was Gemeinwohl ist, kann im Parlament mehrheitlich beschlossen werden –) aber dann müssen sie so etwas formulieren können. Und wenn unter einer Regierungsüberschrift 'Zusammenhalt' dann die ersten Entscheidungen doch eher Gruppeninteressen bedienen, dann haben sie zurecht den Vorwurf geerntet, dass sie noch nicht in der Lage sind, ihre Verantwortung als Regierungsparteien wahrzunehmen und weiterhin Klientelpolitik zu machen."
Für die Opposition ist die Diskussion über die Spende aus dem Hotel-Gewerbe ein gefundenes Fressen. Genüsslich legen die Sozialdemokraten nach, halten der FDP vor, sich auch in der Gesundheitspolitik dem Druck von Lobbyisten zu beugen. Dass mit Peter Sawicki der Chef eines pharmakritischen Bundesinstitutes gehen muss, bringt den liberalen Gesundheitsminister in Erklärungsnöte.
Vor allem aber gerät Philipp Rösler wegen der geplanten Gesundheitsreformzunehmend in Bedrängnis. Die von der FDP geforderte Umstellung des Gesundheitssystems auf eine einkommensunabhängige Prämie wird erhebliche Steuergelder in Anspruch nehmen. Schätzungen reichen von 20 bis 40 Milliarden Euro, die für einen Solidarausgleich bereitgestellt werden müssen. Dass sich die CDU überhaupt noch einmal auf eine solche Kopfpauschale einließ, hatte schon bei Vorstellung des Koalitionsvertrages für Erstaunen gesorgt – 2003 hatte sie dieses Modell auf dem Leipziger Parteitag ins Auge gefasst und war dafür viel gescholten worden. Jetzt hält insbesondere die CSU dagegen. Parteichef Horst Seehofer hat die Prämie inzwischen für tot erklärt – Gesundheitsminister Philip Rösler bleibt wenig anderes, als auch in diesem Punkt auf die Koalitionsvereinbarung zu verweisen. Und der forsche Minister geht aufs Ganze, verbindet sein politisches Schicksal mit der Kopfpauschale:
"Wenn es nicht gelingen kann, ein vernünftiges Gesundheitsversicherungssystem auf den Weg zu bringen, dann will mich keiner mehr als Gesundheitsminister haben, davon gehe ich jedenfalls fest aus."
Den bisher größten Gau erlebt Schwarz-gelb allerdings auf außenpolitischem Feld. Der Luftangriff auf zwei Tanklaster im afghanischen Kundus, Anfang September von einem deutschen Oberst angeordnet, holt die junge Regierung Merkel Wochen später wieder ein. Ex-Verteidigungsminister Franz Josef Jung muss sich dafür verantworten, dass ein Bericht von Bundeswehr-Feldjägern über zivile Opfer des Angriffs zwar vorlag, aber nicht auf seinem Tisch landete:
"Konkrete Kenntnis von diesem Bericht habe ich allerdings nicht erhalten!"
Dass Angela Merkel Jung überhaupt mit ins neue Kabinett geholt und zum Arbeitsminister gemacht hatte, wird vor allem dem landsmannschaftlichen Proporzdenken in der CDU zugeschrieben. Hessen sollte nach dem Willen von Ministerpräsident und Parteivize Roland Koch im Kanzleramt weiter prominent vertreten sein. Ende November bringt Jung die Kanzlerin durch seine zweifelhafte Selbstverteidigung in Bedrängnis, als er uneinsichtig daran festhält:
"Dass ich sowohl die Öffentlichkeit als auch das Parlament korrekt über meinen Kenntnisstand hinsichtlich dieser Vorgänge informiert habe."
Merkel hält sich zunächst zurück, zieht erst nach 36-stündiger Hängepartie die Reißleine. Jung muss gehen, auch wenn die Chefin das anders darstellt:
"Ich habe die Entscheidung von Franz Josef Jung, vom Amt des Bundesverteidigungs- ... oh (lacht kurz), vom Amt des Bundesarbeitsministers zurückzutreten, mit Respekt und Hochachtung zur Kenntnis genommen."
Gerade mal einen Monat im Amt, muss Jung am 27. November seinen Hut nehmen, der rascheste Ministerrücktritt aller Zeiten. Ursula von der Leyen übernimmt das Arbeitsressort. Die erst 32-jährige kinderlose Kristina Köhler wird Familienministerin. Dass sie das mühsam auf Druck der CSU vereinbarte Betreuungsgeld gleich im ersten Interview in Frage stellt, bleibt zunächst ein kleiner Kollateralschaden der Kabinettsumbildung. Vielmehr konzentriert sich bald alles auf den Shootingstar der Christsozialen, Karl-Theodor zu Guttenberg, den neuen Verteidigungsminister. Er hatte seinem Vorgänger in der Bewertung der Luftangriffe von Kundus lange Zeit den Rücken gestärkt und erklärt,
" ... dass die Militärschläge als militärisch angemessen zu sehen sind."
Dann die Korrektur. Für zu Guttenberg ...
"War es aus heutiger, objektiver Sicht militärisch nicht angemessen."
Was zu dieser Neubewertung führte, wer wann etwas über zivile Opfer gewusst hat, ist nun Gegenstand eines Untersuchungsausschusses. Auch dieses frühe Einsetzen eines solchen Gremiums zeugt nicht unbedingt von einem reibungslosen Start der neuen Regierung. Differenzen in der Außenpolitik zwischen Verteidigungsminister und dem Chef des Auswärtigen Amtes treten in der Folge der Kundus-Affäre verstärkt zu Tage. Wochenlang steht die Afghanistanstrategie der Bundesregierung im Fokus. Merkel schweigt, und kann erst Ende Januar nach einer Ministerrunde im Kanzleramt die deutsche Marschrichtung ausgeben: 850 zusätzliche Soldaten, die vor allem die Militär- und Polizeiausbildung in Afghanistan sichern und bis 2014 zumindest einen Teilrückzug der Bundeswehr ermöglichen sollen. Das Problem Afghanistan ist damit – zumindest vorerst – vom Tisch. Ein anderer, seit Wochen schwelender Streit ist dagegen vertagt und könnte die Koalition bald wieder einholen: Die Personalie Erika Steinbach Der Vizekanzler wehrt sich vehement dagegen, dass die Vertriebenen-Präsidentin einen Posten im Beirat der Stiftung Flucht, Vertreibung und Versöhnung erhält, Westerwelle verweist darauf, dass Steinbach 1991 gegen die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze stimmte und es nicht zuletzt deshalb Protest aus Polen gibt:
"Dementsprechend ist es aus meiner Sicht ganz klar, dass wir alles unterlassen müssen, was aus einer solchen Personalie eine große Konfliktfrage zwischen unseren Ländern werden lässt."
"Für den Fall, dass Herr Westerwelle sich nicht in der Lage sieht, ist dies eine Belastung der Koalition."
CSU-Chef Horst Seehofer geht auch in dieser Frage auf Konfrontation zum Koalitionspartner, die Kanzlerin schweigt, scheint das Thema wohl auch mit Blick auf den konservativen Flügel ihrer Partei aussitzen zu wollen. Für ihren Parteifreund Norbert Lammert ist dieser Streit ein weiteres Mosaiksteinchen, das die Koalition in einem schlechten Licht dastehen lässt. Die Partner brächten zu sehr ihre jeweiligen Steckenpferde gegeneinander in Stellung, beklagt der Bundestagspräsident:
"Damit ist tatsächlich das gemeinsame Projekt hinter einer Reihe von eben keineswegs identischen Zielvorstellungen versteckt worden."
Anfang des Jahres versucht die Koalition einen Neubeginn – Merkel lädt Seehofer und Westerwelle ins Kanzleramt. Was unter dem Strich nach 100 problematischen Tagen in der Regierungsverantwortung an Veränderungen ansteht, ist allenfalls ein Wechsel in der Rhetorik:
"Die langen Linien, die großen Linien, darum geht es. Und deswegen wollen wir eine geistige politische Wende in diesem Land!"
Mit dieser Wende knüpft FDP-Chef Westerwelle an erfolgreiche schwarz-gelbe Jahre an, an die von Helmut Kohl 1982 ausgegebene "geistig-molarische Wende". Und auch andere variieren die Farbenlehre durch neue – alte – Attribute: von der christlich-liberalen Koalition hört man die Koalitionäre allenthalben wieder sprechen – was nach mehr klingt als nur schwarz-gelb. – Auf der Suche nach Identität helfen zunächst die Worte. Eine bestimmte gemeinsame Werteorientierung in Fragen des Verhältnisses vom Bürger zum Staat vermag Gero Neugebauer denn auch zu erkennen -
"Aber es ist nichts, was tatsächlich den großen Wurf darstellt oder was auch deutlich macht, es gibt eine Gesamtlinie, und wenn diese Legislaturperiode vorbei ist, dann wissen wir, welche neue Gesellschaft nun entstehen soll oder wie die Gesellschaft sich entwickeln soll."
Ein bisschen mehr Konservatismus dürfte es gerne sein – das hatten Unionspolitiker aus den Ländern im Verein mit Kirchenkreisen im Januar eingefordert. Denn der klassischen Unionsklientel – so analysiert auch Neugebauer – fehlt es an identitären Projekten. Schon allein personell ist die Koalition mit einer Frau an der Spitze und einem schwulen Vizekanzler Ausdruck eines "modernen Konservatismus", sagt der Parteienforscher.
"Das bedeutet für die, die Orientierung erwarten, es gäbe ein bestimmtes schwarz-gelbes Projekt, und dass die Orientierung auch versehen wird mit konkreten Bezugspunkten, dass sie immer wieder sehen müssen, es ist nicht da, es wird erarbeitet. Wie wird es eigentlich erarbeitet? Welche Perspektiven hat es? Und da fehlen die Hinweise darauf. Und das kann man nicht nur an den Personen festmachen. Das muss man dann auch an der Politik festmachen."
Identität, sagt Neugebauer, kann diese Koalition letztlich nur über die Wirtschaftspolitik herstellen.