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Der Begriff des Westens
"Historisch gesehen gibt es den Westen ohne die USA nicht"

Der Westen müsse nicht nur als Wertegemeinschaft verstanden werden, sondern auch historisch, sagte der Historiker Ulrich Herbert im DLF. Denn der Begriff sei eigentlich erst nach dem Ersten Weltkrieg aufgekommen, als die USA sich mit den westeuropäischen Ländern verbündet hätten. "Was ohne die USA übrig bleibt, wissen wir gar nicht."

Ulrich Herbert im Gespräch mit Dina Netz |
    Der Historiker Ulrich Herbert
    Der Historiker Ulrich Herbert (Imago / Gerhard Leber)
    Dina Netz: Das hatten sich viele in Europa und auf der ganzen Welt anders vorgestellt. US-Präsident Donald Trump hat sich bei seinem ersten Spitzentreffen mit den NATO-Verbündeten nicht hinter die gegenseitige Beistandsgarantie gestellt, anders als alle seine Vorgänger. Stattdessen hat er die NATO-Mitglieder wegen ihrer Schulden gescholten.
    Reaktionen ließen nicht lange auf sich warten. Bundeskanzlerin Angela Merkel hat die europäischen Partner zu mehr Eigenständigkeit aufgefordert und heute noch mal die Partnerschaft mit Großbritannien betont. SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz hat Trumps Finanzforderungen an die NATO heute als völlig überzogen bezeichnet und Außenminister Sigmar Gabriel hat am Montag schon den Satz gesagt, der uns jetzt beschäftigen soll: "Der Westen ist kleiner geworden." Wie zum Beleg von Gabriels Satz verdichten sich heute die Anzeichen dafür, dass Donald Trump auch das Pariser Klimaschutzabkommen kündigen will.
    Ulrich Herbert ist Professor für neuere und neueste Geschichte an der Universität Freiburg und jetzt am Telefon. Guten Tag, Herr Herbert.
    Ulrich Herbert: Guten Tag!
    Netz: Herr Herbert, ist der Westen am Wochenende oder zumindest in den letzten Monaten tatsächlich kleiner geworden?
    Herbert: Was der Außenminister damit meint ist natürlich, dass die USA in dieser Form nicht mehr dazugehören und dass der Westen dann als, wie mein Kollege Winkler sagte, normatives Projekt gewissermaßen sich nur noch auf die europäischen Länder bezieht.
    "Was ohne die USA übrig bleibt, wissen wir gar nicht"
    Netz: Entschuldigung! Sie sprechen von Heinrich August Winkler, der ein großes Werk über die Geschichte des Westens geschrieben hat.
    Herbert: Von dem stammt der Begriff, der Westen sei ein normatives Projekt, das an Werte gebunden sei. Und wenn ich den Außenminister richtig verstanden habe, dann sieht er das Gebaren des amerikanischen Präsidenten so, dass die USA sich aus diesem wertebezogenen Projekt gewissermaßen verabschiedet haben.
    Ich bin da skeptisch. Ich glaube, dass der Westen nicht nur als ein solches normatives Projekt verstanden werden kann, sondern eher auch historisch, denn der Begriff ist eigentlich erst nach dem Ersten Weltkrieg aufgekommen, als die USA sich mit den westeuropäischen Ländern im Ersten Weltkrieg dann verbündet haben und danach eine wichtige Rolle international gespielt haben, viel mehr noch natürlich nach dem Zweiten. Ich glaube, historisch gesehen gibt es den Westen ohne die USA nicht. Der Begriff Westen ist an die transatlantische Verbindung geknüpft und was ohne die USA übrig bleibt, wissen wir gar nicht. Es bliebe vielleicht ein demokratisches Europa oder eine Verbindung verschiedener Staaten. Aber dieser feste Begriff, der Westen, ist, glaube ich, an die transatlantische Brücke gebunden und kann davon nicht getrennt werden. Und ich glaube auch nicht, dass das, was derzeit geschieht, in diesen Kategorien wirklich analysiert werden kann.
    Netz: Das wollte ich Sie gerade fragen, Herr Herbert. Das Projekt Westen ist ja immer wieder von schweren Erschütterungen heimgesucht worden, unter anderem von zwei Weltkriegen. Sie haben es gesagt. Ist denn das, was wir da jetzt erleben, nur eine ganz normale Krise, nach der alles weitergeht wie zuvor?
    Herbert: Ich glaube, dass die Handlungsweise des gegenwärtigen amerikanischen Präsidenten und seines ja doch ziemlich obskuren Beraterkreises gar nicht richtig in klassischen Kategorien analysiert werden kann. Ganz offenbar spielen hier taktische Elemente eine viel größere Rolle. Es scheint auch so, als sei das alles nicht so ernst und auch nicht so ehrlich gemeint, etwa wenn er zunächst davon spricht, dass die NATO obsolet sei. Dann gilt das nicht mehr, dann spricht er von zwei Chinas, dann gilt das nicht mehr. Er redet ja offenbar sehr stark im Hinblick auf seine Wählerschaft und ist der Dealmaker, der auftritt wie ein Autoverkäufer und erst mal harte Preise nennt, um dann im Gespräch womöglich wieder kulanter zu werden. Das macht ihn so unberechenbar. Insofern ist Vertrauen als Grundlage eines bilateralen oder multilateralen Verhältnisses hier in der Tat gefährdet.
    Andererseits sollten wir nicht vergessen, dass ähnliche Diskussionen vor etlichen Jahren im Zusammenhang mit Ronald Reagan hier in Deutschland auch geführt worden sind, der etwa gegenüber der Sowjetunion ja eine massive Aufrüstungspolitik, eine nie da gewesene Aufrüstungspolitik betrieben hatte und mit harschen Worten gegenüber der Sowjetunion nur so um sich warf und hier in Deutschland ernsthafte Besorgnisse über einen nahestehenden Krieg, auch einen Atomkrieg aufkamen. Da hatten wir manche dieser Diskussionen ja schon geführt.
    Ich glaube, die USA sind insgesamt doch deutlich stärker und wichtiger und fester als einzelne Präsidenten. Das klingt jetzt ein bisschen wie ein Pfeifen im Walde, weil ich die Bedenken gegenüber der Politik von Trump oder dem Gebaren des Präsidenten auch teile. Aber die historische Erfahrung zeigt doch, dass die Institutionen und auch die Öffentlichkeit der USA sehr, sehr viel stärker sind, als sie gewissermaßen ein einzelner Präsident in kurzer Zeit zugrunde richten könnte, obwohl zugegebenermaßen er alles daran setzt, das zu tun.
    "Ein Appell an die Europäer"
    Netz: Noch kurz, Herr Herbert. Was müssen die, die noch übrig bleiben – und das sind ja auch in Europa bei weitem nicht alle -, denn jetzt tun? Enger zusammenrücken, oder müssen die sich ein ganz neues Projekt einfallen lassen?
    Herbert: Ich habe die Bundeskanzlerin mit ihrer vielbeachteten, wenn auch sehr kurzen Rede so verstanden, dass sie die Mahnung, nach diesen Erfahrungen auf dem Gipfel müssten die Europäer jetzt ihr Schicksal in die eigenen Hände nehmen, dass das nicht nach USA in erster Linie gerichtet war, sondern an die Europäer, die nun angesichts dieser Entwicklung auf diesem Gipfel sehen, was sie an sich haben und welche enormen Entwicklungen und Erfolge die Europäische Union bereits erreicht hat - das als Argument gegen die durchaus nationalistischen und selbstsüchtigen Einzelinteressen, die immer wieder auftauchen. Insofern war das ein Appell, einerseits den Westen inklusive USA zu behalten, auf der anderen Seite aber an die Europäer, wirtschaftlich-politisch enger zusammenzuarbeiten und die Widersprüche etwas auszugleichen, die in den letzten Jahren aufgekommen sind.
    Netz: Das waren Einschätzungen des Freiburger Historikers Ulrich Herbert zur Tauglichkeit des Konzepts Westen. Vielen Dank!
    Herbert: Ich bedanke mich auch.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.