Dezember 2016, irgendwo in den italienischen Alpen.
"Ja, es war nicht schlecht, es war schön, Essen war auch gut", erinnert sich der heute 51-jährige Jens Töpfer. Strahlend blauer Himmel über Pisten mit knirschendem Neuschnee, der perfekte Urlaub vom stressigen Job in einer metallverarbeitenden Firma am Niederrhein.
Schade nur, dass Töpfer sich auf der Heimfahrt einen grippalen Infekt zuzieht. Schon im Auto geht es ihm schlecht, zu Hause sollten sich die Ereignisse aber überschlagen.
"Im Bett, es war früh, bin da aufgewacht, klitschnass, konnte nichts sagen, Gott sei Dank meine Frau lag neben mir, ich konnte sie nur schütteln, ja, und dann rief meine Frau sofort den Krankenwagen, innerhalb von fünf Minuten war der da."
Drastischer Verfall des Blutzuckerwerts
Die Notfallsanitäter finden schon nach wenigen Untersuchungen die Ursache für den misslichen Zustand des 51-jährigen. Sein Blutzuckerwert ist mit 38 Milligramm pro Deziliter Blut extrem niedrig. Normal sind je nach dem ob vor dem Essen gemessen oder danach 80 bis 140 Milligramm pro Deziliter Blut.
"Ich war nicht mehr ansprechbar, nix mehr."
Jens Töpfer kommt sofort ins Krankenhaus, wo alle möglichen Tests durchgeführt werden - leider nur ohne Ergebnis. Warum der Blutzuckerspiegel des Metallbauers ohne Vorwarnung abstürzt, weiß niemand. Er bekommt ein paar Ernährungsregeln mit auf den Weg, das war's. Erledigt war der Fall damit aber noch lange nicht.
"Auf Arbeit ist es dann das zweite Mal passiert, umgekippt während der Arbeitszeit. Also ich hab da nicht mehr viel mitbekommen, meine Kollegen sagten das bloß."
Zusammenbrüche treten nur nach dem Essen auf
Wieder wird er als Notfall in eine Klinik gefahren, wieder findet niemand die Ursache. Allerdings kristallisiert sich nach und nach ein Muster heraus. Die extreme Unterzuckerung inklusive der Zusammenbrüche treten immer nach dem Essen auf, niemals vorher. Woran leidet Jens Töpfer?
"Es könnte sich um einen Diabetiker handeln, der sich Insulin injiziert hat, aber das ist hier nicht der Fall gewesen."
PD Dr. Lars Möller, Oberarzt an der Klinik für Endokrinologie, Diabetologie und Stoffwechsel am Universitätsklinikum Essen:
"Wenn man dann denkt, jemand unterzuckert, obwohl er sich kein Insulin spritzt, dann denkt man an ein Insulinom, also an einen Tumor der Bauchspeicheldrüse, der zu viel Insulin ausschüttet. Danach wurde bei Herrn Töpfer auch geguckt in den auswärtigen Krankenhäusern, aber nichts in der Richtung gefunden."
Die Ursache für die extremen Blutzuckerschwankungen kann auch der Essener Stoffwechselspezialist Lars Möller nicht klären. Nur so viel ist klar: Es muss eine außergewöhnlich starke Ursache sein. Der Blutzuckerspiegel ist zu wichtig, dass der Organismus ihn dem Zufall überlässt.
Sind Antikörper die Übeltäter?
"Deswegen hat der Körper ganz verschiedene Systeme, dass der Blutzuckerspiegel immer aufrecht erhalten wird, und bei Herrn Töpfer muss etwas vorgelegen haben, was das alles überrannt hat und den Zucker so stark abgesenkt hat."
Lars Möller und sein Team starten lange Untersuchungs- und Messreihen. Teilweise mit haarsträubenden Resultaten. Bei einer Untersuchung sinkt der Zuckergehalt kurze Zeit nach dem Trinken von Glukose auf 14 Milligramm pro Deziliter Blut herunter. Ein lebensbedrohlich niedriger Wert, für den sich nach und nach aber eine Theorie herausbildet.
"Eigentlich würde nach Glukoseaufnahme auch Insulin ausgeschüttet werden, sodass der Zucker wieder absinkt und immer im gleichen Niveau gehalten wird. Wir haben also parallel das Insulin gemessen und gesehen, dass es enorm ansteigt, aber der Zucker nicht absinkt. Das Insulin hat nicht gewirkt. Dann rauscht der Zucker nach drei Stunden aber wieder runter. Und da war unsere Erklärung, vielleicht gibt es im Blut von Herrn Töpfer Antikörper, die das Insulin, das auf die Glukoseaufnahme ausgeschüttet wird, abfangen, sodass es nicht wirkt, und dann eine Stunde später aber freisetzen, sodass dann viel zu viel Insulin da ist und dann der Blutzucker stark absinkt."
"Das ist mein Messgerät, ich hab jetzt wieder zu viel Zucker, ich hab jetzt über 200, dann geht es wieder runter, also hoch und runter geht das."
Sind tatsächlich Antikörper für die Blutzuckerschwankungen verantwortlich?
"Im Zweifel hat der Patient mit seinen Symptomen Recht"
"Antikörper sind Eiweiße, die von den Immunzellen des Körpers gebildet werden und eigentlich Viren und Bakterien angreifen können, also eigentlich was Gutes. Dummerweise können sich die Antikörper auch gegen körpereigene Strukturen wenden in seltenen Fällen, dann gibt es eine Autoimmunerkrankung. Und bei Herrn Töpfer gehen wir davon aus, dass er Antikörper gegen das Insulin selbst gebildet hat."
Eine überzeugende Theorie, aber lässt sie sich auch beweisen? Der Essener Endokrinologe verschickt Blut seines Patienten an ein deutsches Labor mit dem Auftrag, nach Antikörpern zu suchen. Das Resultat ist ernüchternd: Es gibt keine Antikörper. Ein zweites Labor wird eingeschaltet, ein Speziallabor im US-Bundesstaat Colorado. Fehlanzeige auch dort, keine Spur von Antikörpern. Liegt Lars Möller falsch?
"Wir haben trotzdem an unserer Diagnose festgehalten, weil im Zweifel hat erst einmal der Patient mit seinen Symptomen Recht, und wenn man eine gute Erklärung hat, darf man sich nicht unbedingt von den Laborergebnissen abbringen lassen und haben dann weitergesucht und letzten Endes ein Labor in Cambridge in Großbritannien gefunden, die das Blut dann auch noch mal gemessen haben und dann nachweisen konnten, dass Antikörper gegen Insulin vorliegen."
Das Leiden hat einen Namen
Jens Töpfer leidet an einem Insulin-Autoimmunsyndrom. Endlich hat das Leiden einen Namen, vor allem lässt es sich endlich behandeln. Und zwar mit einem Medikament, dass das überschießende Immunsystem dämpft.
"Und das kann man mit Glukokortikoiden machen, mit Prednisolon. Das haben wir dann Herrn Töpfer verschrieben, und das hat den Vorteil, dass das Prednisolon auch den Blutzuckerspiegel anhebt, wir haben also einen zweifach günstigen Effekt: Wir haben einmal eine Erhöhung des Blutzuckerspiegels, was die Unterzuckerung verhindert, und eine Bekämpfung des Immunsystems, sodass wir hoffen, dass die Antikörperspiegel sinken und das Insulin wieder sofort wirken kann und nicht überschießend produziert wird."
Die Behandlung greift, heute geht es Jens Töpfer wesentlich besser.
"Durch die Tabletten, die ich nehme, habe ich bis jetzt keinen Rückfall bekommen, die gehen zwar manchmal runter, aber ich kann mich noch halten, ich habe noch Kontrolle über meinen Körper. Also, es macht schon was aus!"