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Der besondere Fall
Das SSADH-Defizit

Das Succinat-Semi-Aldehyd-Dehydrogenase-Defizit (SSADH-Defizit) ist eine extrem seltene Stoffwechselerkrankung bei Kindern. Gerade einmal elf Patienten leben in Deutschland, weltweit sind es weniger als 400. Therapiemöglichkeiten gibt es kaum - und auch die Diagnose ist äußerst schwierig.

Von Mirko Smiljanic |
    Die Hände des Kleinen Miraç Artikarslan, der an der seltenen Krankheit Hyperinsulinismus leidet, werden am 20.02.2017 im Universitätsklinikum in Magdeburg (Sachsen-Anhalt) von Prof. Dr. med. Klaus Mohnike, aktiver Mediziner im Kampf gegen seltene Kinderkrankheiten, untersucht. Sie irren durch das Gesundheitssystem auf der Suche nach der richtigen Diagnose und der passenden Behandlung. Menschen mit seltenen Erkrankungen haben es besonders schwer - aber es gibt Hilfe. (zu dpa «Mit der Lotsin seltenen Erkrankungen auf der Spur» vom 23.02.2017) | Verwendung weltweit
    Die Diagnose des SSADH-Defizits, einer äußerst seltenen Erkrankung bei Kindern, ist langwierig und schwierig (dpa)
    Köln, Alter Markt, ein sonniger Sonntagnachmittag. Viel Betrieb auf dem 18. Kölner Ehrenamtstag. An Ständen präsentieren Bürgerinnen und Bürger ehrenamtliches Engagement in Sportvereinen und Museen, in Schulen und Selbsthilfegruppen. Carina und Claudio Cinquemani zum Beispiel, ein Kölner Ehepaar, das den Verein SSADH-DEFIZIT E.V., vorstellt.
    "Wir sind hier mit sechs Leuten am Stand, alles Freunde, die uns helfen, und wir haben eigentlich schon relativ viel Laufkundschaft gehabt bisher."
    "Also, mal kommen hier Leute in der Gruppe vorbei und mal stehen wir hier und haben nichts zu tun, aber im Großen und Ganzen läuft es besser als wir dachten, fürs erste Mal."
    Interessiert aber auch ein wenig ratlos schauen sich die Passanten Plakate und Flyer an. SSADH-Defizit lesen sie, kaum jemand kann mit dem Kürzel etwas anfangen, und in der ausgeschriebenen Version erst recht nicht: Succinat-Semi-Aldehyd-Dehydrogenase-Defizit. SSADH-Defizit ist eine extrem seltene Stoffwechselerkrankung bei Kindern. Elf Patienten leben in Deutschland, weltweit sind es weniger als 400.
    "Die Symptome zeigen eine sehr breite Vielfalt erstmal, aber man kann eingrenzend sagen, dass die Schwerpunkte neurologische Symptome sind, und da insbesondere ist die Körperspannung deutlich vermindert, sodass die Patienten sich motorisch langsamer entwickeln, sie zeigen auch meist eine verlangsamte Sprachentwicklung und auch eine Einschränkung ihrer kognitiven Fähigkeiten", erklärt PD Dr. Birgit Assmann, Oberärztin an der Universitätskinderklinik Heidelberg.
    Ein fehlendes Enzym als Auslöser
    Auslöser dieser komplexen Symptome ist der Mangel eines Enzyms. Enzyme sorgen dafür, dass im menschlichen Organismus überhaupt Stoffwechselreaktionen ablaufen können. Das Problem: Stoffwechselreaktionen benötigen Energie. Normalerweise funktionieren sie nur bei Temperaturen weit oberhalb der Körpertemperatur von 37 Grad Celsius. Damit sich trotzdem Lungen- und Hautzellen, Nieren- und Leberzellen und so weiter bilden und ihre Funktionen erfüllen, sind Katalysatoren erforderlich, eben Enzyme. Mit ihnen können Stoffwechselreaktionen auch bei niedrigen Temperaturen ablaufen.
    Und eines dieser Enzyme, das SSADH, fehlt bei Carina und Claudio Cinquemanis Sohn Dario.
    "Hi Dari, alles klar?" - "Ja!" - "Wie bist du denn hier her gekommen? Mit der Bahn?" - "Ja." - "Ist das aufregend hier auf dem Ehrenamtstag." - "Laut!" - "Oh, ist das laut."
    Die Diagnose "SSADH-Defizit" kennen die Grundschullehrerin und der Ingenieur erst seit knapp drei Jahren. In den ersten beiden Lebensjahren hatten sie zwar auch den Eindruck, als würde Dario sich langsamer entwickeln als andere Kinder, Handlungsbedarf sah ihr Kinderarzt aber nicht.
    "Ach ja, der ist ein bisschen hypoton, der ist ein bisschen faul, wie Jungs manchmal so sind, so ein bisschen hinterher, das Übliche."
    "Ja, das ist das Dilemma, in dem man steckt. Das ist nicht glasklar abzustecken bei den Säuglingen, ob das wirklich krankhaft ist. Und wenn man viele Untersuchungen macht, wird man immer auch fragliche Auffälligkeiten finden, die viel Verunsicherung schaffen, die weitere Untersuchungen nach sich ziehen, die dann belastend sind für das Kind und die Familie, die auch Geld kosten, die vielleicht auch Risiken beinhalten, wenn man die Kinder zum Beispiel in eine kleine Narkose legen muss für die Untersuchung, und dann lässt man die Kinder sich ein bisschen weiter entwickeln, weil es dann klarer wird."
    "Von Null auf 100 kriegt man dann plötzlich sowas gesagt!"
    Was bei Dario aber zunächst nicht der Fall war, so die Heidelberger Kinderärztin Birgit Assmann. Selbst als der Junge mit einem Jahr noch nicht sitzen konnte und das Sozialpädiatrische Zentrum Köln eingeschaltet wurde, waren die Ärzte zunächst ratlos, wie sich Carina Cinquemani erinnert.
    "Dann wurde ein MRT gemacht unter Vollnarkose, da haben wir mehrere Tage im Krankenhaus verbracht, um zu schauen, ob das Gehirn überhaupt komplett da ist. Von Null auf 100 kriegt man dann plötzlich sowas gesagt! Das war eine sehr, sehr schlimme Zeit für uns, denn wenn man immer gesagt bekommt, das wird schon, das wird schon, und auf einmal schaut man mal, ob das Hirn komplett ist,… dazwischen wären so ein paar Schritte schon ganz nett gewesen, die haben wir nie bekommen."
    Darios Hirn war komplett, zumindest da wurde Entwarnung gegeben! Bis zur korrekten Diagnose dauerte es aber noch mehrere Monate. Zwei Jahre alt ist der Junge, als ein Mediziner erstmals den Verdacht äußerte, das Kind leide an SSADH-Defizit. Laboruntersuchungen hatten im Urin Darios eine erhöhte Ausscheidung einer bestimmten Organischen Säure gezeigt. Die hohe Konzentration könne auf SSADH-Defizit hinweisen, müsse es aber nicht – so der behandelnde Arzt. Zur Sicherheit ließ der den Test wiederholen. Als die Werte wieder so hoch waren, bringt der Arzt einen Gentest ins Spiel. Zur Abklärung wandten sich Carina und Claudio Cinquemani an die Universitätskinderklinik Heidelberg.
    Auf einmal ging alles sehr schnell
    Und jetzt ging alles sehr schnell. Die Kinderneurologin Birgit Assmann veranlasste zunächst eine weitere Urinuntersuchung sowie eine Analyse der Gene des Jungen.
    "Und dann konnte man nachweisen, dass er in beiden seinen Genen für dieses Enzym Succinat-Semi-Aldehyd-Dehydrogenase einen Fehler hatte, einen Ablesefehler, und im Nachhinein konnte man sehen, dass es halt von den Eltern kam."
    Damit ein Säugling an SSADH-Defizit erkrankt, müssen Vater und Mutter jeweils in einem ihrer SSADH-Gene einen Fehler haben. Würde der Fehler nur bei einem Elternteil auftauchen, wäre das Kind gesund.
    Kaum therapeutisch behandelbar
    So eindeutig die Ursache der Krankheit mittlerweile auch ist, therapeutisch lässt sich beim SSADH-Defizit bis jetzt nur wenig machen.
    "Man kann im Moment nur da ansetzen, wo die Patienten ihre Symptome haben, zum Beispiel mit Physiotherapie zur Muskelkräftigung, zur Schulung der Koordination oder wenn sie epileptische Anfälle haben, dann werden sie mit antiepileptischen Medikamenten behandelt, wenn sie autistische Symptome haben, dann profitieren sie von einer speziellen autismusspezifischen Förderung."
    Es fehlen Forschung und Netzwerke
    Es fehlen, wie bei vielen anderen seltenen Krankheiten auch, Forschung sowie Netzwerke von Betroffenen und Ärzten. Aus diesem Grund haben Carina und Claudio Cinquemani den Verein SSADH-DEFIZIT E.V. gegründet.