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Der besondere Fall
Die Murmel am Ohr

Der Schreck war groß, als die 46 Jahre alte Frau aus Rheinland-Pfalz eines Morgens einen Knubbel unterm rechten Ohr entdeckt. Ein bösartiger Lymphknotengeschwulst, eine Atypische Tuberkulose? Die Ärzte rätseln, der Zustand der Patientin verschlechtern sich zusehends. Erst ein Infektiologen trägt zur Lösung des Rätsels bei.

Von Mirko Smiljanic |
    Ostern 2013, Obersteinebach in Rheinland-Pfalz. Graue Wolken hängen über dem Westerwald, nasskalte Temperaturen.
    "Ja, ein ganz normaler Morgen, die ganze Familie war geplant bei uns zu Besuch."
    Gegen neun Uhr steht die 46-Jährige auf – der Namen spielt keine Rolle – und geht ins Bad.
    "Und ich wasche mir das Gesicht – und habe dieses Knubbelchen, diese kleine Murmel unterm Ohr, es war kein Pickel, es war einfach nur diese Murmel."
    Eine "Murmel" unterm rechten Ohr: Sie verursacht zwar keine Schmerzen, versetzt die Rheinland-Pfälzerin aber trotzdem in Angst und Schrecken. Aus gutem Grund: 14 Jahre zuvor hatten Ärzte bei ihr ein niedrigmalignes Non-Hodgkin-Lymphom diagnostiziert, eine bösartige Lymphknotengeschwulst, die aber nach einer Tumortherapie verschwunden schien. Kehrt der Krebs zurück? Viel Zeit zum Nachdenken bleibt nicht.
    "Weil, die Kinder waren alle da, unser erstes Enkelchen war da, und dann habe ich die Murmel erst einmal ignoriert. Und nach Ostern bin ich zum Hals-Nasen-Ohrenarzt gegangen. Die konnten nicht sehr viel damit anfangen und habe mir eigentlich nur erklärt, dass, wenn es was ist, das ganz schön übel ist, weil das an einer Stelle ist, die keiner operieren will, Ohrspeicheldrüse, und da sind ja alle Gesichtsnerven, da kann man nicht viel machen."
    "Ja, die Ohrspeicheldrüse, die sondert Sekrete, also Speichel in die Mundhöhle ab und führt zur ersten Phase der Verdauung", erklärt Professor Friedrich Bootz, Direktor der Hals-Nasen-Ohrenklinik am Universitätsklinikum Bonn.
    "Ja, die ist schon wichtig, aber man hat insgesamt sechs große Kopfspeicheldrüsen, sodass man auf eine durchaus verzichten kann."
    Nach den wenig ermutigenden Auskünften des niedergelassenen HNO-Arztes lässt sich die 46-Jähige sofort einen Termin bei Professor Yon Dschun Ko im Onkologischen Zentrum Bonn/Rhein-Sieg geben, von dem sie schon wegen ihres Lymphdrüsenkrebses behandelt wurde. Doch auch der Krebsspezialist kann keine eindeutige Diagnose stellen.
    Im besten Fall – so der Onkologe nach einer Ultraschalluntersuchung – sei es nur ein Sekretstau in der Ohrspeicheldrüse. Was aber wenig wahrscheinlich ist, weil ebenfalls angefertigte MRT-Bilder wucherndes Gewebe auch im Rachen- und im Halsbereich zeigen.
    "Ich hatte also auch schon ein deformiertes Gesicht."
    Sofort wird die Patientin in die HNO-Klinik am Universitätsklinikum Bonn überwiesen. Friedrich Bootz soll die Patientin operieren und Klarheit schaffen.
    "De Patientin kam mit der Verdachtsdiagnose eines Rezidives, des eines Wiederauftretens eines bösartigen Lymphknotentumors, einer bösartigen Lymphknotenerkrankung."
    Ein komplizierter Eingriff, weil mitten durch die Drüse der Gesichtsnerv verläuft.
    "Wenn der geschädigt werden würde, würde sich auf der einen Seite das Gesicht nicht mehr richtig bewegen können."
    Eine Stunde operieren Friedrich Bootz und sein Team die Patientin, Komplikationen treten nicht auf, den Tumor können sie komplett entfernen.
    "Der Tumor war ungefähr zwei Zentimeter im Durchmesser."
    Die entscheidende Frage ist nun: Ist es bösartiges Tumorgewebe? Mit dem wenige Tage später vorliegenden Ergebnis hat keiner der Ärzte gerechnet.
    "Bei der histopathologischen Untersuchung sah die Diagnose so aus, dass es sich um eine chronische granulierende Entzündung handelt, und man dann primär an eine Tuberkulose gedacht, was nicht so ganz selten der Fall ist, weil die Tuberkulose sich über die Mundhöhle auch in die Speicheldrüsen ausbreiten kann."
    Diesen Verdacht lassen die Ärzte aber rasch fallen, weil sich unterm Mikroskop keine säurefesten Stäbchen, also keine Tuberkulosebakterien, nachweisen lassen.
    "Und dann dachte man an eine sogenannte Atypische Tuberkulose, das gibt es auch, zum Beispiel von Tieren übertragen, allerdings hat auch der Nachweis darüber gefehlt, und man dann einfach wie man sagt ex juvantibus therapiert, das heißt, man hat was ausprobiert."
    Leider ohne jeden Erfolg, die Entzündung lässt sich einfach nicht eindämmen! Schlimmer noch, der Zustand der wieder nach Hause entlassenen Patientin verschlimmert sich zusehends.
    "Eines Morgens wache ich auf und mein Kissen ist nass, so blutig-nass, dann habe ich noch gedacht, ich hätte mich gekratzt und als ich mich dann wieder wasche im Badezimmer, läuft mir das Wundsekret richtig in das Becken rein."
    Die OP-Nähte lösen sich.
    "Meine Nähte wurden immer schlimmer, die Löcher wurden immer tiefer, und dann hat Professor Ko mich nach Köln geschickt, zu Herrn Professor Fätkenheuer."
    Gerd Fätkenheuer leitet die Abteilung für Infektiologie am Universitätsklinikum Köln. Er soll endlich den Erreger finden, der so viele Ärzte in Atem hält und so viel Leid über die Patientin bringt. Normale Laboruntersuchungen reichen nicht mehr, die Kölner Infektiologen müssen Molekularbiologische Methode anwenden. Und tatsächlich: Sie finden einen Erreger.
    "Und so hat man da DNMA, Erbmaterial von dem Erreger gefunden, und wenn man die genauer identifiziert und das dann vergleicht, was man tun kann mit Datenbanken im Internet, dann stellte man fest, dass da ein Erreger rauskam, der extrem ungewöhnlich ist, den wir also auch nicht kannten bisher."
    Schuld ist das Immunsystem
    Mycoplasma salivarium heißt er, glücklicherweise lässt er sich medikamentös behandeln. Eine Frage ist aber noch unbeantwortet: Warum konnte der seltene Erreger die Patientin überhaupt befallen? An dieser Stelle kommt eine junge Assistenzärztin von Gerd Fätkenheuer ins Spiel. Sie nimmt alle Untersuchungsergebnisse noch einmal unter die Lupe und führt lange Gespräche mit der Patientin, kombiniert die Fakten, bis sie die Lösung weiß: Das Immunsystem der Rheinland-Pfälzerin ist zusammengebrochen, ihr Körper produziert zu wenig Immunglobuline.
    "Das ist etwas, was es angeboren gibt, was es aber auch erworben gibt."
    Ihr Immunsystem war zu schwach, um sich gegen von außen eindringende Keime zu schützen.
    "Die Grundtherapie des Immunmangels, die besteht in der Gabe dieser Eiweißstoffe, dieser Antikörper, die werden gewonnen aus Blutspenden, aus Plasmaspenden von anderen Menschen und die kann man dann und muss man dann in regelmäßigen Abständen den Patienten geben, damit sie einen einigermaßen normalen Spiegel an diesen Antikörpern haben."
    Heute spritzt sich die Patientin alle fünf Tage die fehlenden Antiköper unter die Haut-Entzündung und Geschwulste haben sich zurückgebildet.
    Ostern ist für sie wieder ein ganz normaler Feiertag.
    "Wenn ich Ostern in den Spiegel schaue, dann geht es mir gut!"