Mitte Mai 2000, Universitätsklinikum Freiburg. Zwei Männer bringen eine Frau zur Notaufnahme. Sie sei psychisch krank, berichten die beiden der Krankenschwester, Genaues wisse man aber auch nicht. 39 Jahre alt sei sie, Professorin für Kunstgeschichte an einer ostdeutschen Hochschule, zurzeit privat in Freiburg.
"Diese Patientin wurde initial in der Psychiatrischen Klinik der Universität Freiburg aufgenommen mit einer Wesensveränderung, Verwirrtheit, Desorientiertheit, teilweise ganz agitierte Phasen dabei."
Erinnert sich Professor Thomas Els, damals Leitender Arzt der Neurologischen Intensivstation. Apathisch verfolgt die Patientin das Anmeldeprozedere, weder über sich noch über ihre Krankheit kann sie Erhellendes beitragen.
"Wenn jemand so eingewiesen wird, versuchen wir erstmal, uns selbst ein Bild zu machen."
Dr. Heinrich Knott, Chefarzt der Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie am Evangelischen Krankenhaus Bergisch Gladbach.
"Man versucht dann, mit dem Patienten in Kontakt zu kommen, den zu interviewen, ihn zu fragen, was ist denn da passiert, was kann er selbst sagen, und das ist manchmal ein Puzzlespiel, die ganzen Sachen zusammenzubekommen, um sich dann ein Bild zu machen."
Grand-Mal-Anfall
Pfleger begleiten die Patientin auf ihr Zimmer, wo sie einige Tage beobachtet werden soll. So zumindest sieht der Plan aus, der aber eine unerwartete Wendung erfährt: Noch am gleichen Tag erleidet die Frau von der einen Sekunde zur anderen einen epileptischen Anfall.
"Das sieht so aus, dass sie sich auf den Boden stürzte, wie ein Baum gefällt, an allen Gliedmaßen zuckte, Blut kam aus dem Mund, weil sie auf die Zunge gebissen hatte, Urinabgang, dieser Anfall war gar nicht zu stoppen."
Zunächst unklare Symptome – Wesensveränderung, Verwirrtheit, Desorientiertheit – münden in einer vermeintlich klaren Diagnose: Epilepsie. Die Patientin erleidet einen Grand mal, den stärksten epileptischen Anfall. Sofort verlegen Notärzte die 39-jährige in die Neurologische Klinik der Universität Freiburg.
"Wo sie auch ankam mit einem grauen Gesichtsausdruck oder Hautturgor, Blut auf den Lippen und die ganze Zeit mit myokloniformen Entäußerungen an den Extremitäten, das sind abrupte akute Bewegungen, wie man sie bei einem großen epileptischen Anfall, bei einem Grand mal, findet."
Thomas Els behandelt die Patientin zunächst intravenös mit hochwirksamen Medikamenten, um den Anfall zu stoppen. Dies gelingt aber nur unzureichend. Immer wieder treten Krämpfe auf, phasenweise fällt sie ins Koma. Um die Therapie zielgenauer zu gestalten, wird in einem zweiten Schritt die in solchen Fällen übliche Diagnostik durchgeführt. Das Elektroenzephalogramm etwa, mit dem sich Hirnströme messen lassen. Bei der Auswertung des EEG erleben die Ärzte allerdings eine Überraschung.
"Wir waren ganz überrascht, dieses Hirnstromkurvenbild war vollkommen normal, wie bei jedem Gesunden auch."
Sofort leiten die Freiburger Neurologen andere Untersuchungen ein.
"Zum Beispiel eine Kernspintomografie des Schädels, die einen vollkommen unauffälligen Befund zeigte, auch die Durchblutung des Gehirns war vollkommen unauffällig gewesen."
Epileptischer Anfall als Hilferuf der Seele
Die Neurologen stehen vor einem Rätsel: Ihre Patientin zeigt alle Symptome einer schweren Epilepsie – wie im Lehrbuch, betont Thomas Els – diagnostisch nachweisen lässt sich das Leiden aber nicht. Münchhausensyndrom, fragt einer der Ärzte in die Runde? Also ein bewusstes Vortäuschen von Krampfanfällen? Eigentlich sei das nicht möglich, die Frau liege ja tatsächlich im Koma. Der Spiegeltest, bei dem der Patientin bei geöffneten Augen ein Spiegel vorgehalten wird, ist negativ. Ihre Pupillen reagieren nicht auf Licht, was bei Patienten mit Münchhausensyndrom nicht möglich ist.
Bleiben Krampfanfälle, die durch psychische Prozesse ausgelöst werden, nicht durch neurologische Störungen, im Fachjargon heißen sie "psychogene Epilepsien", so Heinrich Knott,
"Häufig ist es keine bewusste Aktion, sondern es ist eine unbewusste Reaktion des Betroffenen, um im Endeffekt Aufmerksamkeit zu bekommen, aufgrund der Unfähigkeit des Betroffenen, direkt um Hilfe zu bitten."
So ist es tatsächlich. Wochen später berichtet die Frau ihrem Psychotherapeuten von einer Kindheit voller Missbrauch und emotionaler Vernachlässigung. Zuwendung erfahre sie nur als Patientin von Schwestern und Ärzten.
"Da stellte sich heraus, dass das ein zwanghaftes Verhalten ist, was häufig darauf basiert, dass diese Menschen in der Kindheit Dinge erlebt haben, wie zum Beispiel Inzest und Ähnliches, die dann zu dieser Notsituation für diesen individuellen Menschen führt."
Wie groß die Not der Kunsthistorikerin war, offenbarte sich erst Monate später nach intensiven Recherchen der Universitätsklinik Freiburg.
"Wir haben später eine Akte gehabt, die fast einen gesamten Schreibtisch ausfüllte, mit Krankheitsberichten aus ganz Europa. Die Patientin war bekannt in vielen Intensivstationen von Skandinavien, England, Deutschland, Frankreich, Italien."
Internisten und Neurologen hat sie aufgesucht, Dermatologen und Lungenspezialisten. Nur eine Fachrichtung hat sie gemieden: die Psychiatrie.
"Dem Psychiater geht man weit aus dem Weg, weil der Psychiater schnell die Grundsymptome dieser Erkrankung erkennen kann."