Jenny Rabe ist nahe daran, zu verzweifeln: immer wieder Durchfälle, immer wieder Fieber. Und das geht schon seit Wochen so. Ihr Hausarzt behandelt sie zunächst auf Magen-Darm-Infekt. Und macht damit grundsätzlich erst mal das, was nahe liegt.
"Man würde fragen, ob sie im Ausland gereist ist, ob sie sich irgendwas geholt hat. Ich würde sicher auch nach Unverträglichkeiten gucken, ich würde schauen, gibt es irgendwo Unverträglichkeiten gegen Zucker und solche Dinge. Das wäre tatsächlich der erste Gedanke in meiner Eigenschaft als Hausarzt."
Katja Römer, Fachärztin für Allgemeinmedizin, Köln. Jenny Rabe ist 22, sie studiert, will Ingenieurin werden. Doch erst mal ist an Uni nicht zu denken. Denn die Medikamente helfen nicht. Die junge Frau verliert langsam ihre Kräfte. Prof. Norbert Brockmeyer von der Universitätsklinik Bochum kennt ihren Fall sehr genau:
"Sie konnte nicht richtig essen wegen dieser Magen-Darm-Probleme, sie hat an Gewicht abgenommen, sie war von daher schon relativ schnell in einem sehr schlechten Gesundheitszustand."
Weitergehende Untersuchungen wären dringend angeraten. Doch Jennys Arzt zögert noch. Dann bekommt sie hohes Fieber, sogar Fieberkrämpfe und sogar bedrohliche Herzrhythmusstörungen. Sie kommt ins Krankenhaus. Und sie hofft inständig, dass man dort dem Aufruhr, der in ihrem Körper herrscht, auf die Spur kommt.
"Es ist eine breite Diagnostik gemacht worden, vom Herzen, vom Blutbild – Verdacht auf Leukämie natürlich bei einer so jungen Patientin. Es ist eine Liquorpunktion, also Punktion des Rückenmarks gemacht worden, um zu schauen, ob sie Veränderungen am Gehirn hat, die so was erklären konnten."
Doch das Ergebnis: nichts. Außer weiterhin hohen Entzündungswerten im Blut. Spätestens jetzt, sagt Katja Römer, wäre es an der Zeit, den Blick zu öffnen. Tiefer gehende Fragen zu stellen, wenn nötig auch unangenehme.
"Gab es denn ein Risiko? Drogengebrauch, was gibt es denn da? Da gibt es natürlich oftmals Vorbehalte, Menschen darauf anzusprechen, weil, die sehen ja vielleicht toll aus, haben einen tollen Job, kommen aus gutem Hause – das ist sicherlich etwas, was in den Köpfen viele Ärzte und auch vieler Menschen herumspukt."
Doch die Ärzte wollen sie sogar wieder nach Hause schicken. Das kostet sie fast das Leben.
"Und als sie dann entlassen werden sollte, hat sie dann ganz plötzlich, quasi noch im Bett liegend beim Mittagessen, einen Herzstillstand bekommen."
Ärzte heilen herbei, sie versuchen sofort, sie zu reanimieren. Nach ein paar Minuten dann Entwarnung. Ihr Herz schlägt wieder. Doch die Ärzte in der Klinik aus dem Ruhrgebiet sind schockiert. Und ratlos. Sie bitten schließlich die Uniklinik Bochum, die Patientin zu übernehmen. Hier nimmt sich Norbert Brockmeyer ihrer sofort an.
"Es war eine schwerstkranke Patientin, die auf der Intensivstation gelegen hat und wo die Rätsel waren: Wie ist diese Situation zu erklären und wie können wir da jetzt auch therapeutisch in diesem wirklich sehr sehr schwierigen Zustand, wie können wir diese Patientin retten?"
Brockmeyer, unter anderem Spezialist für sexuell übertragbare Krankheiten, folgt nun seiner Intuition: Er veranlasst einen HIV-Test für die junge Frau. Zwar hat sie seit Jahren eine festen Freund, nimmt keine Drogen, kommt aus einem wohlsituierten Umfeld - so sehen normalerweise keine HIV-Infizierten aus. Auch ihr fast tödlicher Herzstillstand will nicht ins Bild passen. Aber Brockmeyers Verdacht erweist sich als Volltreffer: Jenny Rabe ist HIV-positiv. Und wie sich weiter herausstellt: Das Virus hat offenbar ihr Herz mit befallen - eine sehr seltene, aber eben doch mögliche Komplikation.
Damit war nun Klarheit geschaffen. Und endlich die Möglichkeit zu einer gezielten und heutzutage auch rasch und effektiv wirksamen antiviralen Therapie.
"Sie ist jetzt einem hervorragenden Zustand, sie hat keine Nebenwirkungen von der Therapie, so dass man sagen kann, dass wir wirklich auf den letzten Metern es noch geschafft haben, diese Patientin gesundheitlich wieder einzufangen."
Dennoch: Jenny wäre fast gestorben – völlig unnötigerweise. Ein Grund dafür: Ärzte mit Scheuklappen. Auch Katja Römer, die in ihrer Praxis viele HIV-Patienten behandelt, erlebt immer wieder solche Mediziner.
"Die erste Fragen von Kollegen, die wenig damit zu tun haben ist oft: Wo hat er das denn her? Das ist auch ungewöhnlich, wo ich sage: Das ist eine Frage, die stelle ich eigentlich gar nicht. Weil das interessiert mich ja nicht wirklich."
Vorbehalte, die verhindern, die entscheidenden Diagnoseschritte zu gehen und damit Patienten in Gefahr bringen.
"Wenn es an die eigene Unterhose geht, dann haben wir Probleme, darüber zu reden", sagt Norbert Brockmeyer. Er plädiert für Offenheit im Umgang mit Patienten und für die Bereitschaft, auch mal quer zu denken. Denn HIV ist heute sehr erfolgreich behandelbar. Nicht erkannt, kann die Infektion aber als tragischer Fall enden.
Wo teilweise ein oder zwei Tage über Leben und Tod entscheiden. Das ist auf der einen Seite diese maximale Verantwortung, die man hat, aber dann natürlich, wenn es erfolgreich verlaufen ist, natürlich auch das, was einem die Freude und den Spaß am Beruf gibt.