Februar 2014, irgendwo in Baden-Württemberg. Die kleine Bar am Rande der Altstadt ist nur mäßig besucht. Wein, Bier, Knabbereien – die Bestellungen der vielleicht 20 Gäste halten sich in Grenzen. Wenig Arbeit für die Mitarbeiter. Nur einer schleppt sich müde durch die Schicht.
"Es geht um einen 33-jährigen Patienten, der männlich ist, rauchte und Kellner war, ..."
... erinnert sich Dr. Olaf Nestler, Assistenzarzt am Städtischen Klinikum Dresden-Friedrichstadt, ...
"... er hatte so seit zwei Monaten ein Krankheitsgefühl, so grippeartig mit Fieber beziehungsweise mit erhöhten Temperaturen, gab an, dass ihm die Lymphknoten geschwollen seien und hat an Gewicht zugenommen, und dies vornehmlich an den Beinen, die zunehmend geschwollen waren."
Massiv geschwollene Beine
Liegt's am Alkohol, den der Mann in riskanten Mengen konsumiert? Hat er sich mit irgendeinem Erreger infiziert?
"Und eines Morgens wachte er auf mit einem Bein mit ganz vielen roten Punkten, die so ins Bläuliche gingen."
Ein Schock: Sofort geht der Kellner zu seinem Hausarzt. Der schaut sich die roten, massiv geschwollenen Beine an, erkennt die Schwere der Symptome und überweist ihn umgehend in eine Klinik.
"Die Kollegen haben damals an eine infektiöse Ursache gedacht und sehr breit Diagnostik betrieben bezüglich Viruserkrankungen der Leber, Virenerkrankungen des Allgemeinsystems und auch Syphilis und HIV gesucht, die aber sämtlich negativ waren.
Sind Infektionen für das Krankheitsbild verantwortlich?
Was die Ärzte auch unternehmen, sie kommen der Diagnose keinen Schritt näher. Also orientieren sich die Mediziner an den äußeren Symptomen, den rot-bläulichen Punkten an den Beinen, entnehmen Gewebeproben und können so immerhin Entzündungen der kleinen Blutgefäße nachweisen. Erschwerend kommt allerdings hinzu, dass mit den Nieren etwas nicht stimmt. Die untersuchten Urinproben zeigen eine große Menge ausgeschiedener Eiweiße. Daraufhin veranlassen die behandelnden Ärzte eine Nierenbiopsie. Resultat: Die kleinen Nierenkörperchen sind in Mitleidenschaft gezogen. Dies alles führt zur Diagnose "Kleingefäßvaskulitis", deren Ursache aber nicht eindeutig ist, so Dr. Leonore Unger, Chefärztin am Städtischen Klinikum Dresden-Friedrichstadt.
"Manchmal sind das auch Medikamente, die Unverträglichkeitsreaktionen machen, manchmal sind es auch bösartige Erkrankungen, Tumoren zum Beispiel können das sein, und manchmal sind es auch Rheumaerkrankungen selbst, Bindegewebserkrankungen, andere Gefäßerkrankungen."
Der Mann leidet an einer lebensgefährlichen Erkrankung, weshalb die Ärzte rasch mit sehr starken Medikamenten reagieren müssen. Sie behandeln ihn mit hochdosiertem Prednisolon, einem Kortisonmedikament, und mit Cyclophosphamid, einem Präparat für die Krebstherapie und besonders schweren Verläufen bei Autoimmunerkrankungen. Die Nierenfunktion und der Allgemeinzustand des Patienten bessern sich zwar daraufhin, allerdings nicht in zufriedenstellender Weise. Irgendetwas schlummerte weiter im Körper des Kellners.
In diesem sehr geschwächten Zustand überweist ihn schließlich ein Arzt an das Städtische Klinikum Dresden-Friedrichstadt – der Mann ist mittlerweile in die sächsische Landeshauptstadt umgezogen, ...
"... Bei uns haben wir dann noch so dezente schuppige Stellen gefunden und auch so bläschenartige Stellen und eine vermehrte Venenzeichnung im Bereich der Hände, im Bereich der Finger, aber auch im Bereich der Füße, der Fußsohlen und der Fußrücken."
Hautärzte sehen sich den Befund genauer an und tippen auf Infektionen – zumal der riskante Alkoholkonsum des Mannes in den Fokus gerät, so Olaf Nestler.
"Alkohol führt einerseits durch Mangelernährung und andererseits durch andere Prozesse, die der Körper mit dem Abbau des Alkohols zu tun, zu einer Verschlechterung der Immunabwehr. Somit können Infektionen schlechter abgewehrt werden und brauchen manchmal länger, bis sie richtig ausbrechen beziehungsweise der Körper überhaupt eine Abwehr schaffen kann."
Kann eine Geschlechtskrankheit die Ursache sein?
Und noch etwas gerät in's Visier der Dresdner Mediziner: die Homosexualität des Patienten.
"Wenn man hört 'homosexueller Kellner', dann denkt man sofort an HIV und Geschlechtskrankheiten, oder andere sexuell übertragbare Krankheiten, wie zum Beispiel Hepatitis, aber das war ja im Vorkrankenhaus alles ausgeschlossen worden, ..."
... ratlos steht Chefärztin Leonore Unger am Bett des Patienten, ...
"... und das ist der Punkt an dem man sich als Arzt sagen muss, irgendwo gibt es ein Problem, irgendeiner von unseren Befunden stimmt vielleicht nicht. Und dann sagt man sich, los, noch mal zurück zum Anfang, wir müssen nochmal die Tippel-Tappel-Tour gehen und alle Befunde noch mal überprüfen."
Alles auf Anfang! Zurück auf null! Während die Untersuchungen anlaufen, schaut sich Leonore Unger noch einmal die Beine des Patienten an: geschwollen sind sie und überzogen mit einem rot-bläulichen Netz aus Punkten und Linie. Irgendwo hat sie dieses Bild schon einmal gesehen. Aber wo? Sie recherchiert im Internet, blättert in medizinischen Lehrbüchern – bis sie schließlich in einem Standardwerk aus dem 19. Jahrhundert eine Zeichnung findet, die exakt dem Symptombild entspricht. Sie sieht die dazugehörige Diagnose, veranlasst umgehend einen Test – und landet einen Volltreffer.
Syphilis mit atypischem Verlauf
"Wir haben einen positiven Syphilistest gefunden, was ja eigentlich nicht verwunderlich ist bei der Geschichte, relativ logisch, aber der Test im Vorkrankenhaus war eben negativ, ..."
... die beobachtbaren Symptome zeigten einen atypischen Verlauf, ...
"... im frühen Stadium hat man meist ein Geschwür an der Eintrittsstelle, entweder am Penis oder am Enddarm, manchmal auch am Mund, und Lymphknotenschwellungen, die gehen dann zurück, es kommt dann, wenn man das nicht behandelt, zu einer Aussaat über die Blutbahn oder über die Lymphe, und dann können auch andere Organe betroffen sein, und im Spätstadium kommt auch dazu, dass auch das Zentrale Nervensystem befallen ist mit Gangstörungen bis hin zu Lähmungen."
Sofort bekommt der 33-Jährige ein Antibiotikum – mit Erfolg. Binnen weniger Wochen bessert sich sein Zustand, außerdem normalisieren sich die Nierenfunktionen. Bleibt die Frage, warum der erste Syphilistest ohne Befund war.
"Warum er negativ war, wissen wir nicht genau, vielleicht ist er zu früh gemacht worden, manchmal dauert das zwei, drei Wochen bis der Test positiv ist, vielleicht lag es am Testsystem, keine Ahnung, wissen wir nicht!"
Egal! Hauptsache der Patient ist auf dem Weg der Besserung! Also alles gut? Leider nein!
"Inzwischen haben wir ihn wieder aufgenommen, weil es offensichtlich eine neue Ansteckung gab."
Auch das ist medizinischer Alltag.