"Das erste Mal, dass ich mich erinnern kann, ist, dass ich im Wohnzimmer auf dem Sofa lag, mit Fieber. Und da lag ich zusammen mit meinem Vater da und meine Mutter hat sich dann um uns gekümmert."
Johannes, damals sieben Jahre und sein Vater Jochen, beide krank und umsorgt von der Mutter. Es klingt fast ein wenig heimelig. Doch diese Familienszene ist bei den Kassels nicht Ausnahme, sondern Regel.
"Da haben wir uns schon dran gewöhnt sozusagen", sagt der heute 14-jährige Johannes Kassel. Vor allem seinen Vater hat dauernd diese Fieberschübe.
"Abends, nachmittags fing es an, abends war es dann ganz heftig und am Morgen war es dann meistens wieder weg."
Das Schlimmste ist nicht mal das hohe Fieber
Bis auf 40 Grad steigt das Fieber. Und er hat diese Anfälle schon, seit er denken kann. Wobei das Schlimmste nicht mal das hohe Fieber ist.
"Man hat Gelenkschmerzen ziemlich heftige, als Kind bin ich dann durch die Wohnung gerobbt, Augenentzündungen schwere, das hat mich am Schluss am meisten belastet, weil man praktisch, weil man ein, zwei manchmal sogar drei Tage in einem abgedunkelten Raum sitzen musste, das Auge war total rot, man war lichtempfindlich, man konnte eigentlich nur im abgedunkelten Raum sitzen, Radio hören und hoffen, dass es vorbei geht."
Als Kind hat er viele viele Fehltage in der Schule. Doch so schwer diese merkwürdigen Symptome auch sind - Ärzte tappen völlig im Dunkeln.
"Es war dann auch so, dass man mehr oder weniger immer so ein bisschen verdächtigt wurde, man möchte nicht in die Schule oder ist gar nicht so wirklich krank. Und wenn man von Arzt zu Arzt pilgert und es kommt nie was raus – ich zumindest habe damit aufgehört."
Jochen Kassel schließt die Schule ab, Ausbildung und Beruf folgen, er gründet eine Familie. Doch das Leben bleibt eine ständiges Pendeln zwischen Normalität und Ausnahmezustand, auch für seine Frau Alexandra.
"Mein Mann ging in die Frühschicht und kam um halb drei nach Hause und legte sich ins Bett bis 18 Uhr, weil es gar nicht anders möglich war. Also er war so fertig dann, körperlich auch, dass es nicht ging."
Die Ärzte tippen zunächst auf Rheuma
"Entweder man springt von einer Brücke oder man nimmt es mit Humor", sagt Jochen Kassel, der versucht, letzteren zu bewahren - trotz des Fiebers, trotz Augenentzündungen und zu allem Überfluss noch ständigen roten Punkten und Quaddeln auf der Haut. Auch die gehören mit zum Leidenspaket. Als Sohn Johannes geboren wird, ist leider schnell klar: Auch er wird nicht verschont bleiben.
"Bei Johannes war es dann so: Man gab ihn ab im Kindergarten oder auf einem Kindergeburtstag und sagte dann nur den Satz: 'Wenn der müde ist, dann kriegt er rote Flecken, aber das ist normal. Das hat er vom Papa, das ist halt so'."
Alexandra Kassel versucht, diesen Wahnsinn, den sich niemand erklären kann, irgendwie zu akzeptieren.
"So lange, bis es nicht mehr ging. Als Johannes so dicke Knöchel kriegte in der Schule, als ich ihn abholen wollte, dass ich gesagt habe: Jetzt ist Schluss. Wir müssen irgendwas unternehmen, es muss irgendeine Ursache haben. Beide Knöchel waren ja Handball-groß."
Sie sucht mit Johannes umgehend eine Klinik in der nächsten Stadt auf.
"Damals hatte ich noch richtig panische Angst vor Spritzen. Und da habe ich dann eine Spritze bekommen, daran kann ich mich bis heute erinnern."
Angesichts der entzündeten und geschwollenen Gelenke tippen die Ärzte zunächst auf Rheuma. Aber die Hautquaddeln und die Blutwerte sind völlig untypisch. Ratlos überweisen sie Johannes an eine Rheuma-Spezialklinik in Sendenhorst. Dort versuchen die Kollegen zunächst, die akute Entzündung der Fußgelenke zu bekämpfen, und verabreichen Kortison. Aber sie machen auch viele Tests.
"Da wir vermutlich nicht die ersten waren, die damit in Sendenhorst aufgetaucht sind, haben die irgendwann gedacht, es könnte ja eine Immunkrankheit sein, die sich nur wie Rheuma äußert."
Die Diagnose lautet: CAPS
Die Ärzte schicken eine Blutprobe in ein Speziallabor nach München. Der Auftrag: eine genetische Untersuchung.
"Ich kann mich noch an den Tag erinnern als das kam, was ich hatte. Da wollten die mir gerade wieder so eine Kortisonspritze geben, eine große (lacht), und dann ist die reingekommen und hat gesagt: Halt, stopp, wir wissen jetzt, was es ist."
Die Diagnose lautet: CAPS, das steht für Cryopyrin-Assoziierte-Periodische-Syndrome, eine Gruppe sehr seltener Erbkrankheiten, die erst seit rund 15 Jahren überhaupt bekannt sind. Das Tückische: Die Krankheit ist Rheuma in einigen Symptomen zum Verwechseln ähnlich, sagt Dr. Helmut Wittkowski, Oberarzt an der Klinik für Kinderimmunologie und Kinderrheumatologie am Uniklinikum Münster.
"Die Symptome Gelenkschmerzen mit Gelenkschwellungen unter Umständen und das Ganze kombiniert mit Fieber ist etwas, was wir durchaus bei Rheuma sehen."
Aber CAPS hat ganz andere molekularen Ursachen. Als Folge eines Gendefekts wird nämlich ein Botenstoff verstärkt im Körper ausgeschüttet, das Interleukin 1. Und Interleukin 1 wirkt auf Entzündungen wie Benzin auf Feuer. Es heizt die Reaktion kräftig an. Folge: Die üblichen Rheumamedikamente wie Kortison wirken kaum oder gar nicht. Dennoch gibt es eine Therapie, ein brandneues Medikament, einen sogenannten monoklonalen Antikörper, der das Interleukin 1 neutralisiert. Helmut Wittkowski:
"Dieses Medikament ist kurz bevor Johannes diagnostiziert wurde, zugelassen worden und das war dann das große Glück, dass wir das auch direkt anwenden konnten. Seitdem er das hat, ist eigentlich keine relevante Entzündung mehr aufgetreten."
Vater und Sohn können inzwischen ein ganz normales Leben führen
Dann gehen die Ärzte den nächsten Schritt: Sie veranlassen auch bei Jochen Kassel einen Bluttest. Und wie erwartet stellt sich seine 40 Jahre andauernde Leidensgeschichte ebenfalls als die Erbkrankheit CAPS heraus. Auch er nimmt sofort das neue Medikament.
"Das war dann auch für meinen Vater und mich – also eher für meinen Vater, weil er hat es ja schon viel länger – eine Neugeburt. Es war halt ein neues Leben, was er wieder angefangen hat. Ohne die Schmerzen, ohne die Punkte, ohne die Augenentzündungen und alles."
"Die erste Frühschicht war ganz überraschend für mich. Er kam nach Hause und sagte: Ich gehe jetzt Rasen mähen. Und ich sagte: Du gehst was? Ja, ich fühle mich fit, hat er gesagt."
Jochen und Johannes Kassel müssen nun zwar für den Rest ihres Lebens alle drei Monate eine Spritze bekommen. Doch dann sind sie völlig ohne Symptome und können ein ganz normales Leben führen. Sollte sie jetzt mal wieder beide ein Fieber erwischen - dann ist es höchstens eine ganz normale Grippe.