Archiv

"Der beste Roman des Jahres"
Zwischen Witz und Wirklichkeit

In der britischen Presse wird der Roman als Rache eines übergangenen Autors gehandelt: Denn "Der beste Roman des Jahres" des britischen Autors Edward St Aubyn ist eine Komödie um den wichtigsten Literaturpreis der englischsprachigen Welt, den Man Booker Prize, für den St Aubyn mehrfach nominiert war - aber nie ausgezeichnet wurde.

Von Brigitte Neumann |
    Der Journalist und Roman-Autor Edward St Aubyn
    Der Journalist und Roman-Autor Edward St Aubyn (picture alliance / dpa / Fabio Frustaci / Eidon)
    Einer der letzten Sätze in der fünf-bändigen Saga um Patrick Melrose lautet sinngemäß: Und als er daran dachte, sein Leben nicht mehr so persönlich zu nehmen, begriff er, dass darin ein Spielraum an Freiheit lag. Und genau um diesen Spielraum an Freiheit ging es Edward St Aubyn beim Schreiben seines neuen Romans "Lost for Words", zu Deutsch "Der beste Roman des Jahres". Denn mit diesem Buch verabschiedet er sich von dem einen Thema, das ihn bislang nicht losließ: die eigene grauenvolle Kindheit und ihre Nachwirkungen.
    "Der beste Roman des Jahres" ist eine Komödie um den finanziell einträglichsten und wichtigsten Literaturpreis der englischsprachigen Welt, den Man Booker Prize. Da aber die Melrose-Bücher sowohl Vorgeschichte als auch Ursache von St Aubyns Ausflug in die Komödie sind, soll hier kurz noch einmal davon die Rede sein: 22 Jahre lang hatte der Autor über das Leben von Patrick Melrose geschrieben, den vom eigenen Vater vergewaltigten und von einer stets betrunkenen Mutter vernachlässigten Jungen. Umrahmt ist die Geschichte des später schwer heroinabhängigen Mannes und Familienvaters von Szenen bizarrster Dekadenz aus dem englischen Hochadel, dem sowohl der Autor als auch sein Protagonist angehören.
    In Interviews hatte Edward St Aubyn schon damals immer wieder darauf verwiesen, dass er hier um sein Leben schreibe:
    "Ich war 28, da sagte ich mir, entweder ich schreibe, vollende und veröffentliche einen Roman oder ich bringe mich um. Bis zu dieser Zeit habe ich nichts hingekriegt, worauf ich stolz war. Ich schämte mich für alles, was ich getan hatte und alles, was mir passiert war. Als ich nun einen Roman schrieb und er tatsächlich veröffentlicht wurde, da wagte ich es nicht, an diesem Vertrag, etwas zu ändern. Ich schrieb ein Buch nach dem anderen wie ein Schriftsteller, auf dem ein Fluch lastet: Wenn er aufhört zu schreiben wird er verrückt und muss sich umbringen. Aber nach acht Büchern fragte ich mich: Muss das wirklich immer so sein?"
    Also wagte Edward St Aubyn das Experiment, ob auch rein spielerisches und freudvolles Schreiben möglich sei, ohne Kontrakt auf Leben und Tod.
    "Und der Versuch ist gelungen. In diesem Sinne ist "Lost for Words" befriedigender gewesen als jedes andere Buch, das ich jemals zuvor geschrieben habe. Aber ganz klar, verglichen mit diesem einen sehr langen Roman, den ich über einen Zeitraum von 22 Jahren geschrieben habe, kann das, was eben in eineinhalb Jahren entstand, nicht so gewichtig sein."
    Genau dies ist der wunde Punkt am Experiment. Denn die Leichtigkeit dürfte all jene Leser irritieren, die Edward St Aubyns bisherige Arbeiten lieben.
    "Der beste Roman des Jahres" ist ein schnelles, tatsächlich sehr witziges Buch, das vor allen Dingen die Jury-Mitglieder des Elysion Preises aufs Korn nimmt. Außer der Oxbridge Literaturprofessorin Vanessa Shaw stellt uns St Aubyn einen Haufen "Kulturheuchler" vor - so nannte Sigmund Freud Leute, die sich aus Prestigegründen zwar gern im Bannkreis der Kunst aufhalten, ihr aber weiter keine Bedeutung fürs Leben beimessen.
    Verwandlung zum Trash-Autor
    Der Vorsitzende und Hinterbänkler im Parlament, Malcolm Craig, will endlich mal Sendezeit in den Abendnachrichten; die Presse-Kolumnistin Jo Cross, "ein sprudelnder Quell mit Inbrunst vorgetragener Meinungen", wie St Aubyn schreibt, lässt nur Literatur mit gesellschaftspolitischer Relevanz gelten; Penny Feathers, die frühere Mätresse eines Vorstandsmitglieds der Firma Elysion, favorisiert Bücher mit einer zügigen Handlung und möglichst vielen Spannungsbögen. Die Literaturkompetenz des mäßig erfolgreichen Schauspieler Tobias Benedict erschöpft sich darin, dass er "schon von frühester Kindheit an ein begeisterter Leser war". Edward St Aubyn:
    "Ich gestehe, dass der Booker Preis mich zu diesem Buch inspirierte. Aber ich empfinde keine Feindseligkeiten dem Booker Preis gegenüber. Ich bin ihm sehr dankbar. 2006 war ich auf der Shortlist mit "Mothers Milk", und damit konnte ich der Unsichtbarkeit entkommen. Zuvor hatte ich ein paar tausend Leser. Danach 100 tausende von Lesern. Ich bin dem Booker Preis für Verschiedenes dankbar, aber das heißt ja nicht, dass ich ihn mit kritikloser Ehrerbietung betrachten muss. Und es muss ja auch nicht heißen, dass ich mir einen erfreulichen Roman darüber verkneifen müsste.
    Die Man Group, die vor 12 Jahren den Booker Preis übernahm, ist ein mächtiges Investmentunternehmen. Zu den Produkten des von St Aubyn erfundenen Literaturpreisausrichters Elysion zählen genetisch verändertes Saatgut sowie höchst wirksame Unkraut- und Insektenvernichtungsmittel. Gemeinsam ist beiden Unternehmen, dass sie dringend einer Imagepolitur bedürfen.
    "Ich glaube, man sollte unterscheiden: Es gibt Preise, die wollen etwas zur Förderung der Literatur beitragen, und dann gibt es den Booker Preis, der will nur sich selbst promoten."
    Aber nicht nur das ganze Setting, auch die bei Elysion eingereichten Werke sind ein Hohn. Darunter ein historischer Roman, der den Ton Shakespeares nachäfft, ein Gangster-Buch, das Street Credibility beansprucht, selbst ein indisches Kochbuch schafft es auf die Liste. Aus einigen dieser Bücher zitiert St Aubyn und es ist spürbar, wie viel Spaß ihm die Verwandlung zum Trash-Autor gemacht hat.
    "Ich war immer fasziniert davon Leute nachzumachen. In dem zweiten Melrose Roman "Bad News" ist der Held davon besessen, Stimmen zu imitieren. Es ist wie ein Zwang, und der Hintergrund: Er will sich als jemand anderer fühlen. 2:40 Als Jugendlicher war ich auch so. Ich konnte jede Stimme nachmachen, was mir fehlte, war die eigene. In Lost for Words wollte ich dieses Talent nutzen und mit ihm spielen, ausprobieren wie viele Stimmen für wie viele Genres in mir sind."
    Parodie mit tragikomischem Unterboden
    Aber es gibt nicht nur Trash-Literaturproben, Nonsense-Dialoge und einen reichlich karnevalesken Beziehungsreigen in "Der beste Roman des Jahres", nein da scheinen doch ein paar ernste Fragen auf. Zum Beispiel die, was gute Literatur ausmacht. "Tiefe, Schönheit, eine perfekte Struktur und Worte, die unsere ermüdete Vorstellungskraft beleben", lässt St Aubyn Vanessa sagen, die einzige in der Jury, die etwas von Literatur versteht. Und ergänzt im Interview:
    "In all meinen Romanen versuche ich zu beschreiben, inwiefern Menschen gefangen sind in ihrer Persönlichkeit, so wie sie durch bestimmte Umstände geworden ist. Und dass wir alle unter diesem Problem leiden. Nun gibt es Leute, die alles daran setzen, sich aus dieser Falle zu befreien. Andere hingegen dekorieren ihr Gefängnis so gut sie eben können."
    Was die Lektüre der Melrose Saga so immens erfreulich macht, ist die Energie, die sie ausstrahlt. Es ist die Energie des Opfers, das sich davonmacht, der Falle, die ihm andere gestellt haben, entkommt. Eine Energie, die sich aus Schönheit und Würde der Sprache von St Aubyn speist. In "Der beste Roman des Jahres" hingegen geht es nicht um das Verhältnis zwischen Schmerz und Schönheit, sondern um das zwischen Witz und Wirklichkeit.
    Es ist halt eine Parodie, aber eine mit tragikomischem Unterboden. Das heißt, die Figuren haben Abgründe - so weiß Vanessa, dass die Magersucht ihrer Tochter irgendwie mit ihrem Perfektionszwang zusammenhängt - aber über solche Abgründe geht St Aubyn mit ein, zwei theoretischen Sätzen hinweg, als müsse er schnell weiter. Und das folgt auch einer gewissen inneren Logik des Plots, denn er hat es auf seinem Literaturmarkt der Eitelkeiten mit Charakteren zu tun, die nichts wichtiger finden, als ihre Fassade zu pflegen und ihre Abgründe mit Koks, Wodka, Geschwätz und Affären zuzuschütten. St Aubyns neues Buch "Der beste Roman des Jahres" ist eine gelungene Fingerübung in Sachen Parodie und Komödie, sein Witz ist geschliffen, seine Beobachtungen scharf. Aber schon im Roman ist von der "Tyrannei der englischen Scherzhaftigkeit" die Rede. Und das ist in diesem Fall ein wahres Wort. Denn der Leser ist am Ende zwar auf hohem Niveau heiter gestimmt, aber nicht so richtig satt geworden.
    Deshalb zuletzt die Frage an Edward St Aubyn, ob er nun weiter Bücher unter dem neuen Vertrag, nennen wir ihn "Schreiben kann auch Spaß machen", verfassen wird?
    "Vielleicht nicht. Ich hab ja jetzt bewiesen, dass ich das Schreiben genießen kann. Das muss ich nicht noch mal machen."
    Edward St Aubyn: "Der beste Roman des Jahres". Aus dem Englischen von Nikolaus Hansen. Piper Verlag 2014, 253 Seiten, 16,99 Euro.