Menschenleiber. Sie taumeln, fallen, stürzen hinunter. Einzeln, in Paaren oder wie in Trauben dicht aneinanderhängend. Männer, Frauen, Alte, Junge. Sie taumeln, fallen, stürzen. Hinunter in eine haltlose Tiefe.
186 Figuren sind es insgesamt. Untergebracht sind sie auf einem riesigen Bronzeportal. Mehr als sechs Meter ist es hoch und vier Meter breit. Wir stehen vor "Dem Höllentor" des Bildhauers Auguste Rodin. Es gilt als sein bedeutendstes Werk, obwohl es unvollendet blieb.
37 Jahre arbeitet Rodin an diesem Werk. Erst nach seinem Tod – er stirbt 1917 – wird "Das Höllentor" in Bronze gegossen.
Motive aus Dantes Göttlicher Komödie
Am 16. August 1880 erhält Rodin den staatlichen Auftrag, ein Prachtportal für den geplanten Neubau des Musée des Arts Décoratifs in Paris zu schaffen. Der Bildhauer schlägt eine monumentale Bronzetür vor: mit Motiven aus Dantes "Göttlicher Komödie". An einen Freund schreibt der 40-jährige:
"Ich bin mit dem Studium des Dante'schen Werks beschäftigt. Bevor ich mit der eigentlichen Arbeit beginne, muss ich versuchen, mich in den Geist dieses bemerkenswerten Dichters hineinzuversetzen."
Schnell wird Rodin klar, dass er weder auf den zweiten noch auf den dritten Teil der "Göttlichen Komödie" eingehen will – weder auf das "Purgatorio" noch auf das "Paradiso". Lediglich das "Inferno", der erste Teil, soll der Ausgangspunkt für sein monumentales Tor werden. An ein solches Tor gelangt auch Dante, der Dichter, bevor er seinen Weg durch die Hölle antritt. Auf diesem Tor sind hoch oben die Worte zu lesen:
"Durch mich geht es zur Stadt der Leiden,
Durch mich geht es zum ewigen Schmerz ,
Durch mich geht es zu den verlorenen Menschen.
Lasciate ogni speranza, voi ch'entrate!
Die ihr hereinkommt: Lasst alle Hoffnung fahren!"
Durch mich geht es zum ewigen Schmerz ,
Durch mich geht es zu den verlorenen Menschen.
Lasciate ogni speranza, voi ch'entrate!
Die ihr hereinkommt: Lasst alle Hoffnung fahren!"
Als bohrten sich die Worte immer tiefer in das Gehör der taumelnden Menschen, als brandeten Dantes Worte immer stärker gegen ihre Leiber, als löschten sie alles Licht in ihren Seelen aus, als rissen sie sie fort ins Nichts. In ein Nichts, so dunkeldüster wie die Bronze, deren opake Masse die Menschen zu verschlucken scheint.
Fast 600 Jahre liegen zwischen dem Dichter der "Göttlichen Komödie" und dem Schöpfer des "Höllentors". Sechs geschichtsträchtige Jahrhunderte zwischen Dante Alighieri, in dessen Werk sich zu Beginn des 14. Jahrhunderts der Geist des Spätmittelalters vollendet und Renaissance und Humanismus ankündigen. Und Auguste Rodin, dessen Schaffen im Ausklang des 19. Jahrhunderts Antwort sucht auf Fragen, welche die "conditio moderna" des Menschen aufwirft. Denn eins steht auch für den Bildhauer außer Frage:
"Die Kunst enthüllt den Menschen den Sinn ihrer Existenz. Es ist wie ein Sprudeln intellektueller Kräfte, das in vielfachen Kaskaden herunterfällt, bis es das große stets bewegte Gewässer bildet, das den geistigen Zustand einer Zeit darstellt."
Welch verstörende Gebärden bringt jetzt die Zeit hervor! Welch ein aufgewühltes Sich-Bewegen allenthalben – nun für alle Zeit in die schwarze Bronze des "Höllentors" gebannt!
Gebärden der Mutlosigkeit, der Trauer um Verlorenes
1902 reist der Dichter Rainer Maria Rilke nach Paris – begierig, das Werk Auguste Rodins aus nächster Nähe zu sehen. 1902 entsteht auch eine Prosastudie über den Bildhauer. Darin schreibt Rilke:
"So sind die Gebärden der Menschheit, die ihren Sinn nicht finden kann. Gesten, bei denen nur der Ausgangspunkt und der Endpunkt wichtig waren. Das Ergreifen war anders geworden; viel mehr Mutlosigkeit und ein Angehen gegen Widerstände, viel mehr Trauer um Verlorenes. Rodin schuf diese Gebärden."
Was für ein Unterschied gegenüber den christlichen Jahrhunderten davor, als die Ausgangs- und Endpunkte aller Lebensbewegungen noch vorgezeichnet waren. Und in denen die Fragen der Menschen nach Sinn und Zweck ihres Daseins ihre wohlbegründete Antwort fanden. Hatte doch alles, was ist, seinen festen Grund in einer göttlichen Schöpfungs- und Heilsordnung. Entschlossene Geradheit kennzeichnet daher auch den Weg, den der Dichter Dante Alighieri in der "Göttlichen Komödie" durchläuft. So kann der Dichter am Ende seines langen Wegs durch "Inferno" und "Purgatorio" – durch "Hölle" und "Fegefeuer" – im dreiunddreißigsten und letzten Gesang des "Paradiso" schreiben:
"Ich näherte mich dem Ziel all meines Verlangens,
denn immer reiner wurde mein Blick.
Und mehr und mehr trat er ein
in den Strahl des hohen Lichts,
das aus sich selbst Wahrheit ist."
denn immer reiner wurde mein Blick.
Und mehr und mehr trat er ein
in den Strahl des hohen Lichts,
das aus sich selbst Wahrheit ist."
Dante inspiriert zur Gestalt des "Denkers"
Einige Jahre schon arbeitet Auguste Rodin an seinem Auftragswerk. Als 1887 der Plan für den Neubau des Musée des Arts Décoratifs fallengelassen wird, hat Rodin längst beschlossen, dass das Tor ein eigenständiges, in sich geschlossenes Kunstwerk werden soll.
Auch die Gestalt des Dichters Dante soll einen Platz finden in seinem Höllentor-Ensemble. Rückblickend schildert der Bildhauer seine ursprüngliche Absicht:
"Dante saß vor diesem Tor auf einem Felsen und in seinen Gedanken entstand das Gedicht. Hinter ihm waren alle Personen der Divina Commedia. Aber das ging nicht. Dann hatte ich die Eingebung für einen anderen "Denker", der nackt auf einem Felsen kauert und die Füße anspannt."
Schwer und massig hockt er da. Auf blankem Fels. Alles an ihm wirkt schwer – sein muskelschwerer Körper, sein Kopf, der schwer auf seiner aufgestützten Rechten lastet, schwer die Gedanken, in die er versunken.
Nicht vor dem Tor, sondern oberhalb des "Höllentors" platziert Rodin seinen "Denker". In einem eigenen Feld über dem Türsturz – im Tympanon – sitzt er hoch über dem Geschehen tief unter ihm.
Er hockt da, ein wenig nach vorn geneigt. Der kräftige Ellbogen seines rechten Arms bohrt sich in den linken Schenkel, gibt dem Oberkörper Halt. Auch mit seinen angespannten Füßen und gekrümmten Zehen scheint er am glatten Felsen Halt zu suchen, während sein Blick hinunterfällt. Hinunter auf die Gestalten, die auf den beiden Flügeln des großen Tors in die Tiefe stürzen.
Existentielle Verlorenheit wie bei Baudelaire
Doch Rodin liest nicht nur Dante. Er vertieft sich ebenso in die zeitgenössische Literatur, liest Charles Baudelaire, den bereits 1867 verstorbenen "poète maudit" – den "verfemten Dichter". Liest dessen Gedichtsammlung "Blumen des Bösen". Darin stößt er auf ein Gedicht mit dem Titel "De profundis clamavi". Baudelaire zitiert damit den Anfang des 130. Psalms aus dem Alten Testament:
"De profundis clamavi ad te Domine – Aus der Tiefe rufe ich, Herr, zu Dir."
Während aus dem Psalm Hoffnung und Vertrauen auf den rettenden Gott sprechen, erklingen die Worte bei Baudelaire aus der Tiefe existentieller Verlorenheit:
"De profundis clamavi
Dein Erbarmen ruf ich an, du einzige Geliebte,
Aus der Tiefe des dunklen Abgrunds, in den mein Herz gestürzt ist.
Welch eine düstre Welt mit einem Horizont aus Blei,
Wo in der Nacht das Grauen und die Lästerung treiben."
Dein Erbarmen ruf ich an, du einzige Geliebte,
Aus der Tiefe des dunklen Abgrunds, in den mein Herz gestürzt ist.
Welch eine düstre Welt mit einem Horizont aus Blei,
Wo in der Nacht das Grauen und die Lästerung treiben."
Wie in zähflüssiger Schwärze scheinen die Menschen ebenso auf der dunklen Bronze des Höllentors dahinzutreiben. Vereinzelt in ihrem Leid oder zu Paaren vereint.
Der Aufschrei aus der Tiefe dringt hinauf bis zum "Denker" über dem "Höllentor". Auch für den Bildhauer ist der Aufschrei unüberhörbar, während seine Hände die vielen Gestalten des Leidens und der Leidenschaften formen, die mit der Zeit auf seinem Tor Platz finden.
Junge, blühende Körper, längst verwelkte und verdorrte Leiber. Angestoßen und in Bewegung gehalten von ihren Lüsten wie von ihren Lastern, vom unstillbaren Drang zu leben. Auf der ewigen Suche nach Erfüllung und gezeichnet am Ende von Vergeblichkeit, Elend und Verzweiflung.
Aber wozu das alles? Worin liegt der Sinn dieser "Comédie humaine", wie der Schriftsteller Honoré de Balzac das Schauspiel des Lebens bezeichnet hat? Dies sind auch die Fragen des Bildhauers – in all den Jahren, in denen er das "Höllentor" ersinnt:
"Wozu das Gesetz, das die Kreaturen ans Dasein kettet, um sie leiden zu lassen? Wozu die ewige Lockung, die sie das Leben mit allen seinen Schmerzen so lieben lässt? Das ist und bleibt ein quälendes Problem."
Denn wozu das alles, wenn ihr "De profundis" ohne Antwort bleibt? Wenn sich kein sinnerhellendes Licht am Horizont abzeichnen will und kein Ausgang aus der Tiefe sichtbar wird. So wie noch Dante am Ende seines Schreckenswegs durch das düstere "Inferno" aufatmend hatte schreiben können:
"Wir stiegen aufwärts,
Bis ich durch ein rundes Loch die schönen Dinge sah,
Die der Himmel trägt.
E quindi uscimmo a riveder le stelle.
Dann traten wir hinaus und sahen die Sterne wieder."
Bis ich durch ein rundes Loch die schönen Dinge sah,
Die der Himmel trägt.
E quindi uscimmo a riveder le stelle.
Dann traten wir hinaus und sahen die Sterne wieder."
Das Leben – ohne Antwort auf sein "Wozu"
Doch Dantes Vision – vor christlichem Erlösungshorizont entworfen – hat nicht erst in der säkularen Moderne ihre wegweisende Kraft verloren. Längst muss das Denken ohne sinn- und heilsgewisse Aussichten auskommen. Stattdessen rechnet es mit Ungewissem, Fragwürdigem, Abgründigem in allen Schattierungen.
Darin gleicht es dem "Denker", der über dem Tor seinen sinnenden Blick auf das haltlose Fallen der Menschen richtet. Menschen, die vom ersten Tag ihrer Geburt an ins Dasein stürzen, die Bahn ihres Lebens so oder so durchlaufen und es in unterschiedlichen Fallhöhen oder -tiefen beenden.
Für Rodin bleibt das Leben – ohne Antwort auf sein "Wozu" – eine quälende Frage, und es bleibt ein Rätsel, ein Mysterium. In einem Gespräch über Religion und Kunst erläutert der Bildhauer:
"Religion ist das Gefühl für alles, was in der Welt unerklärt und zweifellos auch unerklärlich ist. Sie ist die dunkle Ahnung all dessen, was weder unser leibliches noch geistiges Auge erschauen kann. So dringen alle Meister bis zu der verschlossenen Pforte vor, die ins Unergründliche führt."
Auch deshalb muss sein Tor geschlossen sein – undurchdringlich wie dessen Bronze.
Im Frühsommer 1900 präsentiert der inzwischen 60-jährige Bildhauer der Öffentlichkeit eine erste Gipsfassung des "Höllentors". Der Besucherandrang ist groß. Auch der Schriftsteller Anatole France besucht die Ausstellung. In der Zeitung "Le Figaro" schildert er seinen Eindruck:
Hölle des Zartgefühls und des Erbarmens
"Monstern werden Sie in der Hölle Rodins nicht begegnen. Die Hölle, das ist das menschliche Dasein, das ist der unaufhaltsame Ablauf der Zeit, das ist dieses ganze Leben, in dem man unaufhörlich stirbt. Man wird nicht umhin können, diese Traurigkeit und diese Schmerzen aus dem Werk eines Meisters herauszulesen, der es verstanden hat, die geradezu spürbare Ermüdung des Fleisches, das vom Leben unaufhörlich verzehrt wird, mit unvergleichlicher Kraft auszudrücken."
"Porte de la passion humaine" – "Tor der Passion des Menschen" – so könnte das "Höllentor" ebenso gut heißen. Denn alles menschliche Leben ist diesen Bedingungen unterworfen. "Leben ist Bewegung", wird Rodin nicht müde zu wiederholen. Ist ein dunkler Drang, den keine Vernunft erhellt, ein unaufhörliches Werden und Vergehen, ist Leidenschaft, die zugleich Leiden schafft, ohne auf irgendeinen letzten Sinn oder Endzweck hinauszulaufen.
So blickt auch der "Denker" nicht als ein Verurteilender auf die menschliche Passion herab. Nicht als ein oberster Weltenrichter, der im Glanz seiner Allmacht zwischen den Verdammten und den Auserwählten scheidet. Die christliche Einteilung der Sünden und ihrer Strafen, die bei Dante noch Gültigkeit besitzt, hat ihre heilsgeschichtliche Relevanz verloren.
Rodin hat auf seinem Tor einer anderen Vision Ausdruck verliehen. Anatole France schreibt am Schluss seines Artikels:
"Und voller Anteilnahme entdecke ich, dass die Hölle Rodins nicht mehr die Hölle der Rache ist, sondern eine Hölle des Zartgefühls und des Erbarmens."
Mit welcher Nachsicht hat er seine Gestalten geformt. Ihre sich aufbäumenden Leiber, ihre sinnverstörenden Gebärden, ihre Gesichter voll Schmerz und Traurigkeit.
Natürlich kennt Rodin all die Höllen, die in der Kunst Darstellung fanden. Kennt die Kunst, die nicht zuletzt unter dem Einfluss von Dantes Dichtung in der Renaissance entstanden ist. Er lernt bereits in jungen Jahren die Werke Michelangelos kennen, wird gefesselt von den Fresken in der Sixtinischen Kapelle, vor allem von seinem "Jüngsten Gericht". In einem Gespräch kommt der Bildhauer später darauf zurück:
"In meinen Werken ist sicher etwas von dieser Leidenschaft zu spüren. Die Lieblingsthemen Michelangelos, die Tiefe der menschlichen Seele, die Heiligkeit des Leidens und des Strebens nach Überwindung sind unsagbar groß und hehr. Aber ich billige nicht seine Lebensverachtung. Wir müssen das Leben lieben."
So lautet das Fazit Auguste Rodins. Zu Beginn des 14. Jahrhunderts hatte Dante Alighieri über das Tor zu seinem "Inferno" die Worte geschrieben:
"Die ihr hereinkommt: Lasst alle Hoffnung fahren!"
Der "Denker" ist nackt, wie auch das Denken stets nackt ist
Vor dem säkularen Horizont der Moderne spricht auch Rodin nicht von Hoffnung. Über sein Tor aber hat er die Gestalt des "Denkers" gesetzt. Und dieser schaut zwar ohne Hoffnung, jedoch mit Nachsicht und "compassion" auf die "passion humaine". Auf das Schauspiel des endlichen, sterblichen Daseins des Menschen, dessen Geschick – entblößt von allen Kleidern – sich vor seinen Blicken abspielt.
Auch die Gestalt des "Denkers" ist nackt, wie auch das Denken stets nackt ist, sobald es sich besinnt auf die alte und ewig neue Frage nach dem "Wozu" des Lebens.
Deshalb sitzt er da – der Denker. Sein Denken ist vorgedrungen bis zu jener verschlossenen Pforte, die ins Unergründliche führt. Nun sitzt er da – nackt, während sein Geist Halt zu fassen sucht an dieser Frage, um nicht wie die Körper auf dem Bronzetor fassungslos ins bloße Nichts zu stürzen.
Das Unergründliche – darum kreist das Werk Rodins – oder in seinen Worten:
"Die Werke der Kunst sagen zwar alles, was man über den Menschen sagen kann, machen aber außerdem begreiflich, dass es noch etwas gibt, das man nicht erkennen kann. Man findet in ihnen immer etwas, das schwindelig macht."