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Der Blick des Engels

Ein Engel, der mit aufgerissenen Augen auf die Trümmer der Geschichte starrt - das zeigt das Bild "Angelus Novus" von Paul Klee. Für einige Tage ist das Werk im Zentrum Paul Klee in Bern zu sehen - begleitet von einer Ausstellung, in der sich Gegenwartskünstler mit den Schrecken der Geschichte, mit Krieg und Terror auseinander.

Von Christian Gampert | 30.05.2008
    Es ist dunkel, sehr dunkel im Untergeschoß des "Zentrum Paul Klee". Tunnelartig führen Trennwände in einen riesigen Saal, auf dessen schwarzen Wänden Bilder, Zeichnungen, Fotos aller Formate neben- und übereinander hängen, unterbrochen von Filminstallationen, die ausgemergelte Menschen in den gerade befreiten KZs oder schreiende Hiroshima-Opfer zeigen. Der dokumentarische Zugang ist aber nur ein Teil, wesentlich ist die künstlerische Auseinandersetzung mit den Katastrophen des 20.Jahrhunderts.

    Fixpunkt ist Paul Klees "Angelus Novus" von 1920, jenes zarte, erschreckt schauende, flügelschlagende Mischwesen aus Mensch und Engel, das in Walter Benjamins Sicht hinweggepustet wird von Sturm der Geschichte - und das uns anschaut, uns, die politischen Akteure.

    Der Einsatz dieser Ikone der Moderne, überhaupt von Klee-Zeichnungen und Bildern als Leitfaden der Ausstellung ist dramaturgisch geschickt, wenngleich er nicht überall aufgeht. Am ehesten noch am Anfang, wenn Klees "Fliegersturz" mit Francis Alys' Blick auf das World Trade Center gekoppelt wird, fünf Minuten Videoflimmern, und wenn Anselm Kiefer den Engel der Geschichte als Bomberflugzeug interpretiert. Historisch geht es also bewusst durcheinander, auf Alfred Kubins Angstfantasien aus dem ersten Weltkrieg folgen Nebelbilder aus dem Berlin der Zeit der Mauer, ein Leuchtkasten von Jeff Wall über Schleichwege, eine verkohlte Baumwurzel von Fischl und Weiss, ein KZ-Legobaukasten und verfremdete Pressebilder von Zbigniew Libera, der fliehende nackte vietnamesische Kinder mit den Köpfen von Wohlstandsbürger versieht.

    Es sind also die besten Geister der Gegenwartskunst, die hier auf Klees emblematischen Engel antworten. Die Mixtur unterschiedlicher künstlerischer Strategien wirkt aber keineswegs beliebig; die politischen Themen bleiben immer erkennbar, es sind vor allem Weltkrieg, Nazizeit, Atombombe, Zusammenbruch des Ostblocks, zu dem der Fotograf Boris Mikhailov eine beeindruckende Montage zu Armut und Prostitution in der Ex-Sowjetunion beisteuert.

    Vor allem aber ist die Kakofonie der Bildeffekte, die hier über einen großen weiten, gespenstisch abgedimmten Raum entfaltet werden, selber schon eine Installation: Alptraumartig scheinen die Werke auf in dieser Dunkelkammer der Geschichte. In einer Inszenierung von Fernando Sanchez Castillo, der Kopf eines Diktatorendenkmals von einem Auto über leere Felder geschleift. Dann stolpert man über geschmolzene Atombombenopfer, liegende Skulpturen aus Bronze, und über Tony Ourslers verformte, missgebildete, auf ein Kissen projizierte Menschenköpfe, die stöhnen, schreien und flüstern.

    Einen Stock höher befindet man sich in einer anderen Welt: in Paul Klees "Zaubergarten", einem magischen Labyrinth, in dem Pflanzen und Menschen wachsen und sich dehnen dürfen. In dieser kunsthistorisch exzellent aufbereiteten Ausstellung erfährt man zunächst, dass Klee ein großartiger Zeichner nach der Natur war, bevor um 1900 das abstrakte Denken sich einschleicht, Strichfiguren und biologische Formen geschichtet werden, eine gestrüppartige Vielfalt der Stile und Farbgebungen sich entwickelt.

    Gerda Steiner und Jörg Lenzlinger ziehen den Zuschauer mit einer poetischen Installation in diese zweite Ausstellung hinein, mit realem Geäst und surrealem Baumschmuck, und die Klee-Werke entfalten dann ein derart buntes, bisweilen melancholisches botanisches Kindheits-Theater durch alle Werkphasen hindurch, dass man lange dort verweilt.

    Unten dagegen, im Halbschatten des verlorenen Paradieses und der gefallenen Engel, sieht man noch Bilder über Afghanistan und Ruanda, Sebastiao Salgado zeigt ameisenhaft arbeitende Menschlein in Brasilien, und Paul Klees "Luftungeheuer" senkt sich wie ein fliegender Fisch auf einen Kinderwagen herab.

    Der empfindliche "Angelus Novus" wird schon nach fünf Tagen wieder heimfliegen ins Israel-Museum. Die ihm gewidmete Ausstellung wird übrigens von einem Spruch Osama bin Ladens eingeleitet: "Ihr liebt das Leben, wir lieben den Tod." So kann man es auch sagen.