Christine Heuer: Am Telefon begrüße ich Anthony Glees, Politikwissenschaftler, auch Historiker, Zeithistoriker an der Buckingham University. Guten Tag, Herr Glees.
Anthony Glees: Guten Tag, Frau Heuer.
Heuer: Verliert das United Kingdom nun Schottland wegen des Brexits?
Glees: Es ist möglich! – Es ist möglich! – Was ganz klar ist, dass Frau Sturgeon auf sehr dramatische Weise die Initiative von Theresa May einfach gestohlen hat und dass Frau Sturgeon jetzt für sich die Entscheidung genommen hat, ob der Brexit-Deal, den Mrs. May in zwei Jahren vorbringen wird, gut für Schottland, aber auch gut für Großbritannien ist oder nicht. Die Sachen im Pokerspiel über den Brexit sind plötzlich zugunsten von Nicola Sturgeon abgegangen.
Heuer: Weil sie die Initiative ergriffen hat?
"Für Theresa May ist es nicht so furchtbar, wie es scheint"
Glees: Weil sie die Initiative errungen hat, genau, und gerade zu der richtigen Zeit. Am großen Tag von britischer Unabhängigkeit – das sollte es ja gestern sein – zeigte Frau Sturgeon plötzlich, dass die Schotten, das ist ja ein Volk, das klar über sich denkt, auch hier Rechte hat. Denn Frau May wollte Schottland ganz ausschließen aus den Verhandlungen. Auf der einen Seite sagte Frau May, die Union ist sehr wichtig für mich; auf der anderen Seite: Alle sollen den Mund halten, während Frau May ihr Pokerspiel weitertreibt.
Heuer: Und, Herr Glees, ist das jetzt nicht mehr möglich, die anderen, zum Beispiel die Schotten aus den Verhandlungen rauszuhalten? Hat Nicola Sturgeon mit ihrer Initiative diesen Weg eröffnet, dass die Schotten nun doch mitreden dürfen?
Glees: Ich glaube, ja, denn auch wenn sie nicht da am Tisch sind, sitzen sie jetzt da in der öffentlichen Meinung, auch wenn das "Daily Mail", wie Sie berichtet haben, dagegen ist und sagt, bitte, Schotten, ihr sollt uns unseren Brexit nicht wegnehmen. Dabei weiß kein Mensch, auch das "Daily Mail" nicht, was unter Brexit zu verstehen ist. Ich würde aber auf eines hindeuten. Für Theresa May ist das vielleicht nicht so ganz furchtbar, wie es zu sein scheint. Denn Frau May wird gegen ihre eigenen harten Brexitiers in der Partei und im Kabinett durch Nicola Sturgeon geholfen, denn die Tories sind auch Unionists. Die glauben sehr an das Vereinigte Königreich.
Heuer: Herr Glees, das überrascht mich jetzt ein bisschen, weil ich habe das immer so wahrgenommen, dass Theresa May selber ein ziemlich harter Brexitier ist. Sie ist ja diejenige, die immer sagt, einen harten Brexit wollen wir haben.
"Die große Mehrzahl der Briten will immer noch im Binnenmarkt handeln"
Glees: Wissen Sie, was Theresa May zu diesem Thema sagt, sieht man sehr genau aus ihrer großen Rede zu dieser Sache am 17. Januar dieses Jahres in Lancaster House. Wenn man die Rede genau anguckt, dann sieht man zwei Sachen. Erstens: Sie will die Vorteile der Europäischen Union, besonders des Binnenmarktes und der Zollunion, irgendwie behalten, wenn sie das kann, also nicht den harten Brexit. Und zweitens: Wenn das ihre große Politik ist, dann ist das auch die große Politik der britischen Bevölkerung insgesamt. Denn obwohl Ungewissheit in Großbritannien besteht, die große Mehrzahl der Briten wollen immer noch im Binnenmarkt handeln und wollen immer noch irgendwie die Zollunion beibehalten.
Heuer: Wenn diese Analyse stimmt, Herr Glees, dann hat Nicola Sturgeon gestern Theresa May eigentlich einen Gefallen getan. Warum ist die dann so sauer?
Glees: Das sauer sein ist jetzt die britische Art. Wir sind sauer als Volk der EU 27 gegenüber, wir sind sauer den drei Millionen EU-Bürgern in Großbritannien, ohne die wir gar nicht mehr so richtig leben können, gegenüber. Die Politik bei uns ist dramatisch labil und man sieht, die Leute gebrauchen Argumente, die eigentlich – ich kann es nur so sagen – zum Wahnsinn hingehen. Dass die Briten dafür gewählt haben, ärmer zu werden, viel Arbeitslosigkeit zu haben, das, glaube ich, ist nicht der Fall gewesen. Aber wenn es zum harten Brexit kommt, obwohl Leute wie Boris Johnson sagen, es wird wunderbar, es kann wie in Singapur werden, dann, glaube ich, kann die Meinung sich groß verändern. Und wenn das geschieht, dann wird die eigentliche Opposition in Großbritannien nicht Jeremy Corbyn und seine verrückte Party, sondern Nicola Sturgeon.
Heuer: Will Nicola Sturgeon eigentlich wirklich, dass die Schotten das United Kingdom verlassen, oder ist das auch nur eine politische Strategie, um Einfluss auf Theresa May zu nehmen?
"Viele Briten würden sehr gerne auch Schotten sein"
Glees: Die SNP, die Partei von Nicola Sturgeon ist eine Partei, die dafür steht, Schottland unabhängig zu machen. Das wollte sie immer. Aber es kann sein, dass jetzt der Zeitpunkt gekommen ist, wo zum ersten Mal eine Möglichkeit besteht. Was aber sehr wichtig ist, ist, wenn Schottland immer noch in der Europäischen Union bleiben möchte – eine Mehrheit hat ja letzten Juni dafür gestimmt -, dass die Europäische Union nicht die Schotten zurückweist, wie sie das unter Manuel Barroso getan haben. Er hat gesagt, die Schotten dürfen gar nicht in die Europäische Union kommen. Das war auch Wahnsinn, ein Wahnsinn unserer Zeit. Denn die Kommission in Brüssel soll beide Arme aufhalten und Willkommen zu den Schotten sagen.
Heuer: Das klingt, als wollten Sie auch nach Schottland gehen, Herr Glees?
Glees: Ich glaube, viele Briten - es sind 48 Prozent, die in der Europäischen Union bleiben wollen – würden sehr gerne auch Schotten sein.
Heuer: Spielen wir es noch mal ganz kurz durch. Wenn die Schotten am Ende tatsächlich abstimmen und sich vom United Kingdom lossagen würden, könnten die alleine politisch in der EU als Teil der EU und auch wirtschaftlich überhaupt überleben?
"Die Leute stimmen nicht nur für ihre wirtschaftlichen Interessen"
Glees: Natürlich! – Natürlich! – Was wir gesehen haben, in der Brexit-Wahl, aber auch in der Trump-Wahl in Amerika: Es ist nicht immer der Fall, dass die Leute nur in ihren eigentlichen wirtschaftlichen Interessen wählen. Es gibt jetzt andere Sachen im politischen Leben für die Leute, die wichtig sind. Und Frau May, die Tories haben den Brexit angefangen. Wo es enden wird, das ist nicht ihre Entscheidung. Und wenn man von Auflösung, wenn man von Austritt aus einer Union spricht, dann kann man nicht sagen, dass man nicht über einen Austritt aus einer anderen Union, aus dem Vereinigten Königreich sprechen darf. Das gilt natürlich auch für Nordirland. Es ist dasselbe dort.
Heuer: Anthony Glees, wir halten mal fest aus unserem Gespräch: Durch das, was da gestern passiert ist, durch den Vorstoß von Nicola Sturgeon ist aus Ihrer Sicht jedenfalls wieder Bewegung in diese ganze Debatte gekommen und ein bisschen ist es wieder etwas aufgebrochen. Richtig?
Glees: Richtig, ja.
Heuer: Okay. – Anthony Glees, Politikwissenschaftler an der Buckingham University. Ich danke Ihnen sehr für das Gespräch heute Mittag, Herr Glees.
Glees: Gerne geschehen, Frau Heuer.
Heuer: Schönen Tag.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.