"We don't want to see a no-deal scenario in our exit from the EU. But it is incumbent on us to prepare in case." Noch vor einigen Monaten sah es düster aus für Patienten in Großbritannien. Ein No-Deal-Brexit, ein EU-Austritt ohne Einigung, gefährde die Versorgung mit Medikamenten, berichtete die BBC. "We ask medical suppliers to stockpile a further six weeks of supplies over and above normal levels."
Großbritanniens Gesundheitsminister Matt Hancock verkündete Anfang 2019 deswegen Notfallmaßnahmen. Der britische Gesundheitsdienst NHS begann, Medikamenten-Vorräte anzulegen. Außerdem wurden Flugzeuge für Nottransporte bereitgehalten.
Der NHS in Zeiten des neuen Coronavirus
Nun ist der No-Deal zunächst vom Tisch und beide Seiten verhandeln. Aber ist damit auch der Notstand vorbei? Leider nein, sagt Steven Bates:
"Das Coronavirus hat die No-Deal-Planung überholt. Es gibt deswegen weiterhin Forderungen der Regierung, gewisse Vorräte bereitzuhalten, um auf die Auswirkungen des Coronavirus vorbereitet zu sein."
Bates ist Geschäftsführer der Bio Industry Association, einer Vereinigung biowissenschaftlicher Firmen und Medikamentenhersteller.
Dieser Beitrag gehört zur fünfteiligen Reportagereihe "Englischer Patient - Der Gesundheitsdienst NHS und der Brexit".
Der BIA-Chef empfängt in seinem Büro in London. Die Stimmung sei angespannt, sagt er. Das liegt zum einen daran, dass das Coronavirus droht, den überlasteten NHS in die Knie zu zwingen. Die Regierung stellte jüngst zwar ein Notfallbudget von mehreren Milliarden zur Verfügung, aber Ärztinnen und Pfleger kann man nicht kaufen. Und dann ist da das Problem, das gerade fast vergessen scheint: Brexit. Bis heute ist nicht klar, was der Austritt aus dem EU-Binnenmarkt für britische Pharmafirmen und den NHS bedeutet.
"Falls es an den Grenzen für längere Zeit zu Verzögerungen kommt, könnte das problematisch werden. Zusätzliche Bürokratie beim Import würde zu Extrakosten führen. Und große Firmen, die wichtige Medikamente mit geringen Gewinnmargen von wenigen Cents handeln, dürften sich dann fragen, ob Großbritannien als Markt noch in Frage kommt."
Medikamente könnten durch Brexit teurer werden
Das hieße weniger Wettbewerb, was wiederum die Medikamente für den NHS verteuern könnte.
"And I think we've taken the NHS through the likelihood of that."
Anfang 2021 tritt der Brexit in Kraft. Die Regierung verspricht Grenz-Kontrollen ab dem ersten Tag. Logistikexperten rechnen jedoch mit einem sogenannten asymmetrischen Handel. Das hieße, Güter aus der EU würden ohne Kontrolle durchgewunken und möglicherweise nachträglich verzollt. Damit ließen sich Staus an der Grenze vermeiden. Denn in der Pharma-Industrie sind die Lieferketten eng verzahnt, so Pharma-Experte Bates:
"Manche Produkte starten beispielsweise als pharmazeutische Zutat in Indien. Es folgt eine erste Verarbeitung in Irland. Dann werden die Tabletten in Großbritannien gepresst, in Frankreich verpackt und landen dann in einem Vertriebslager in den Niederlanden. Über diese Prozesse mussten wir – zumindest zu meinen Lebzeiten – nie nachdenken."
Großbritanniens Attraktivität als Standort steht auf dem Spiel
Auch Mark Dayan rät zu einer schnellen Einigung mit der EU. Der Gesundheitsexperte arbeitet für die gemeinnützige Stiftung Nuffield Trust, die sich auf die Analyse des britischen Gesundheitswesens spezialisiert hat.
"Zwei Drittel aller in Großbritannien genutzten Medikamente kommen aus der oder über die EU. Ähnliches gilt für wissenschaftliche Zusammenarbeit und klinische Studien. Die Beziehungen weltweit sind wichtig. Aber die mit der Europäischen Union ist die wichtigste."
Aber nur weil eine enge Zusammenarbeit richtig und wichtig wäre, heißt das nicht, dass sie politisch auch wahrscheinlich ist.
"Die Einführung von rechtlichen Schranken für den Handel von Medikamenten und Medizintechnik zwischen der EU und Großbritannien ist weiterhin eine Option. Unter der neuen Regierung von Boris Johnson und seiner Haltung zum Brexit ist eine Abweichung von EU-Regeln sogar noch wahrscheinlicher."
Immer wieder hat die Johnson-Regierung betont, man verlasse die EU schließlich nicht, um weiter alle Regeln zu befolgen. Aber das könnte unerwünschte Folgen haben, glaubt Mark Dayan.
"Sollte es zu einer sehr distanzierten Beziehung kommen, in der die Freigabe von Medikamenten von der anderen Seite nicht anerkannt wird, und sollte es zu Zollkontrollen kommen, dann wird es für den NHS sehr viel schwieriger werden, an alle nötigen Produkte zu gelangen. Und Großbritannien könnte als medizinischer Forschungs- und Produktionsstandort weniger attraktiv werden."
Erste Brexitfolgen sind schon sichtbar
Im vergangenen Jahr ist die Europäische Arzneimittel Agentur EMA nach Amsterdam umgezogen. Industrievertreter Steve Bates nennt den Eurostar zwischen London und Amsterdam deswegen jetzt nur noch den EMA-Express.
"Damit hat sich für uns in der Übergangsphase schon einiges geändert. Die britische Regulierungsbehörde, die bisher Teil des europäischen Systems war, musste ihren Platz am Tisch räumen. Für unsere Firmen hat das den Umgang mit den gesetzlichen, europäischen Rahmenbedingungen sehr verändert."
Viele große Pharmakonzerne in Großbritannien haben deswegen Doppelstrukturen geschaffen. Firmen wie GlaxoSmithKline und AstraZeneca testen Medikamente nun auch in Labors auf dem europäischen Festland, um weiter in der EU verkaufen zu können. Prozesse die Millionen kosten, noch bevor klar ist, was der Brexit eigentlich bringt. Steve Bates bleibt aber trotz aller Ungewissheit optimistisch.
OTON9 BATES: "Keep calm and carry on. That's what we do."
Ruhe bewahren und weitermachen. Ein sehr britischer Slogan.