Anja Reinhardt: Als Heinrich der VIII, König von England, sich 1534 per Parlamentsbeschluss von der römischen-katholischen Kirche lossagte, war das ein Sonderweg, der durchaus eine Erfolgsgeschichte war. Heinrich konnte sich scheiden lassen und neu heiraten – und zusätzlich füllten sich die Kassen, denn das, was bislang an den Papst Rom gezahlt wurde, floss nun in die königlichen Schatzkammern.
Premierministerin Theresa May hat knapp 500 Jahre später den Brexit zwar nicht gewollt, aber auch sie will eine Erfolgsgeschichte aus der Scheidung von der Europäischen Union machen, schon alleine, weil der innenpolitische Druck so hoch ist. Deswegen ist heute in Großbritannien ein öffentlicher Brief an die Nation von May zu lesen, in dem sie ein "neues Kapitel im nationalen Leben" und die Einheit des Landes heraufbeschwört.
Die EU kann allerdings kein Interesse an einem Happy Brexit haben, denn dann könnte der Anreiz für andere Staaten wachsen, genau das gleiche zu tun. Für Italien zum Beispiel. Über den Sonderweg Großbritanniens und seine historischen Voraussetzungen habe ich mit dem Historiker Magnus Brechtken gesprochen, stellvertretender Direktor des Instituts für Zeitgeschichte in München, der gut zehn Jahre in Großbritannien beziehungsweise in England gelebt hat. Ich habe ihn gefragt, wie sich denn nun das Verhältnis zwischen der EU und Großbritannien entwickeln wird?
"Vor allem ideologische Auseinandersetzungen"
Magnus Brechtken: Ja, es ist ja so, dass die Briten entschieden haben mit ungefähr 52 zu 48 2016, dass sie die Europäische Union verlassen wollen. Und die Europäische Union ist an sich, auch wenn das manche Leute bezweifeln mögen, ein sehr erfolgreiches und gut funktionierendes Unternehmen, das seit 1945 vieles für die Menschen in Europa geschaffen hat. In Großbritannien war die Haltung immer so, dass man meinte, aufgrund des Weltreiches, das man mal hatte, dieser europäischen Einigungsbewegung sich nicht anschließen zu müssen und dass man durch seine globale Ausrichtung sehr viel erfolgreicher sein könnte.
Das hat sich dann in den 60er- und 70er-Jahren als dann doch nicht so erfolgreich herausgestellt, und aus wirtschaftlichen Gründen, vor allem aus wirtschaftlichen Gründen, ist man seinerzeit dann Teil der Europäischen Gemeinschaften geworden. Seither hat es in Großbritannien immer eine heftige Diskussion darüber gegeben, ob man denn nun genug Nutzen aus Europa zieht oder nicht, und diese Diskussion ist nie abgeschlossen gewesen. Aber das sind wirklich vor allem ideologische Auseinandersetzungen, weil diejenigen, die den Brexit befürworten, meinen, man kann alleine besser zurechtkommen.
Traum vom "British Empire" und Nationalismus
Reinhardt: Die EU wurde ja schon doch lange eigentlich in England kritisiert, und zwar nicht nur von der Politik, sondern auch von den Medien.
Brechtken: Ja.
Reinhardt: Ist das wirklich immer noch der Traum vom "British Empire", der da nachwirkt?
Brechtken: Das ist sowohl der Traum vom "British Empire" als auch ein klarer Nationalismus als auch - und das muss man wirklich dann deutlich ansprechen - deutliche wirtschaftliche Interessen derjenigen, für die diese Zeitungen stehen. Das ist sowohl die "Daily Mail" als auch natürlich der "Daily Telegraph", aber auch die "Times", aber auch die "Sun". Das sind Unternehmen, die große wirtschaftliche Macht haben und die auch großes wirtschaftliches Interesse daran haben, eine bestimmte Form von vor allem reiner marktwirtschaftlicher globaler Orientierung zu befördern. Weil sie meinen, dass sie davon selbst am stärksten profitieren.
Das hat natürlich etwas mit dem angelsächsischen Modell des Kapitalismus zu tun, von dem man in Großbritannien, aber auch in den Vereinigten Staaten meint, dass das Individuum und das persönliche marktwirtschaftliche Streben der Ausweis von generellem Erfolg ist. Und, dass das Individuum die Möglichkeit haben sollte, sich in der Welt zu beweisen, und dass so etwas wie Gesellschaft, gesellschaftliche Verantwortung, der Ausgleich innerhalb einer Gesellschaft, eigentlich etwas ist, was man nicht unbedingt anstreben muss.
Das unterscheidet das britische und das amerikanische Modell von Zentraleuropa, von den Skandinavien-Staaten, von Deutschland und von Frankreich, wo in Deutschland immer auch die Vorstellung mitschwingt, der Staat, die Gesellschaft haben die Aufgabe, auch dafür zu sorgen, dass die Menschen in dieser Gesellschaft als Gesellschaft insgesamt durch Sozialversicherung, durch Krankenversicherung, Arbeitslosenversicherung, Fürsorge eine größere Einheit und Identifikation mit dem Gesamten bilden.
"Der Brexit repräsentiert die Spaltung der britischen Gesellschaft"
Reinhardt: Lassen Sie uns noch mal über die innenpolitische Situation sprechen. Denn was bedeutet der Brexit für die Innenpolitik im United Kingdom? Die Schotten haben sich ja zum Beispiel mit über 60 Prozent für einen Verbleib in der EU ausgesprochen.
Brechtken: Ja. Der Brexit repräsentiert im Grunde die Spaltung der britischen Gesellschaft, und das zeigt sich natürlich auch in dem knappen Ergebnis zwischen 52 zu 48, das wir 2016 gesehen haben. Die britische Gesellschaft ist von je her stark gespalten und innerlich zerklüftet, vor allem, weil sie immer noch eine Klassengesellschaft ist und, dass sich diese Klassengegensätze in den vergangenen Jahrzehnten noch sehr viel stärker entwickelt haben, als man das vielleicht auch auf der Insel wahrhaben möchte.
Diejenigen, die davon profitieren, unterstützen den Weiterbestand und fördern auch den Weiterbestand dieser Klassengesellschaft. Diejenigen, die nicht davon profitieren, suchen nach Lösungen, und die finden sie unter anderem auch in nationalistischen Versprechen.
Politisches System "zentral verantwortlich für die heutigen Probleme"
Reinhardt: Das politische System in England, das ist ja auf eine gewisse Art und Weise doch relativ antiquiert. Das haben Sie kürzlich in einem Artikel auch noch mal zusammengefasst. Es geht bis ins 17. Jahrhundert eigentlich zurück. Inwiefern ist dieses System auch verantwortlich für die heutigen Probleme?
Brechtken: Das ist zentral verantwortlich für die heutigen Probleme, weil es zweierlei bewirkt. Zum einen sind die Briten insgesamt zurecht stolz darauf, dass sich der britische Parlamentarismus seit dem 17. Jahrhundert so erfolgreich entwickelt hat. Dass waren damals vor allem Aristokraten, die sich gegenüber der Krone durchgesetzt haben, und "Volkes Stimme" (das waren nur sehr wenige), die im Parlament die Dinge durchsetzen konnten gegen einen Absolutheitsanspruch der Krone. Diese Erfolgsgeschichte geht, wenn Sie so wollen, bis Anfang des 20. Jahrhunderts, wo die Wähleranteile immer weiter erweitert wurden und dadurch im Parlament sehr viel mehr Menschen repräsentiert waren als in vielen Ländern des Kontinents. Seither hat sich das im Grunde umgekehrt.
Es gibt immer noch das Mehrheitswahlrecht in Großbritannien. Das heißt, die Wahlen von 2015, als Beispiel genannt: Sie hatten 650 Abgeordnete, diese 650 Abgeordnete sind 650 Wahlkreise und in jedem Wahlkreis brauchen sie aber nur eine relative Mehrheit der Stimmen. Das hat dazu geführt, dass beispielsweise bei der Wahl 2015 die Grünen 1,1 Millionen Stimmen zwar bekommen haben, aber nur einen einzigen Sitz im Parlament. Die Schottische Nationalpartei hatte nur 300.000 Stimmen mehr; die haben aber 56 Sitze bekommen. Noch schlimmer aus der Sicht der parlamentarischen Repräsentation war das für UKIP. UKIP hat 3,8 Millionen Wähler erhalten, auch aber nur einen Sitz, weil sie nur einen einzigen Wahlkreis gewonnen haben. Die Konservativen hatten etwas über elf Millionen Stimmen, also nur dreimal so viel; die haben aber 331 Sitze gewonnen, das über 300fache an Repräsentation im Parlament, und die konnten mit 36 Prozent die absolute Mehrheit im Parlament gewinnen.
Das heißt: Diejenigen, die die Grünen gewählt haben, die UKIP gewählt haben, oder viele andere kleine Parteien gewählt haben, sind nicht im Parlament vertreten. Es sind im Parlament vor allem immer zwei Parteien vertreten, nämlich Konservative und Labour, die sich abwechseln und die immer darauf hoffen, bei der nächsten Wahl wieder einen Swing in die andere Richtung zu erhalten und dadurch die Mehrheit zu gewinnen. Das bedeutet, dass das, was wir heute in den Parlamentsdebatten sehen, eigentlich nur eine Wählerschaft repräsentiert, von denen, ich sage mal, ein Drittel ungefähr, die abgestimmt haben, nie zu Wort kommen - weil sie keine Chance haben, sowohl Minister zu werden, oder in einer Regierung zu sein.
Warnung vor Geschichtsvergessenheit
Reinhardt: Ich würde gerne zum Schluss noch mal über die europäische Situation beziehungsweise was das für Europa bedeutet sprechen. Denn die EU ist ja - Sie haben es am Anfang auch gesagt - eigentlich eine Erfolgsgeschichte, auch ein Projekt, das man als Lehre aus den Totalitarismen des 20. Jahrhunderts ins Leben gerufen oder gegründet hat, sich dagegen zusammenzuschließen.
Brechtken: Ja.
Reinhardt: Wie konnte es denn eigentlich dazu kommen, dass wir jetzt nicht nur in England den Brexit haben, sondern dass es überhaupt doch viele rechtsnationale Bewegungen gibt? Teilweise sind sie an der Regierung, teilweise sind sie aber auch stark spürbar.
Brechtken: Ja, das hat mehrere Gründe. Zum einen ist es natürlich so, dass es immer rechte und linke dogmatische Bewegungen gegeben hat, auf der linken starke marxistische Bewegungen, die immer eine sozialistische Gesellschaft wollten, nach dem Vorbild auch der Sowjetunion bis 1990. Und auf der rechten hat es auch immer diese nationalistischen Strömungen gegeben, auch in Europa, auch in der Bundesrepublik. Aber die haben nie so stark in das Zentrum politischer Entscheidungen gedrängt. Das hat sich nach dem Ende des Kalten Krieges 1990 gewandelt, weil jetzt vielen Wählerinnen und Wählern offensichtlich die Europäische Union und die Erfolge, die wir seit 1945 hatten, so selbstverständlich erscheinen, dass sie über die historischen Ursachen, warum das so erfolgreich ist, nicht mehr nachdenken beziehungsweise das vergessen haben.
Wenn wir 2018 jetzt 73 Jahre in Frieden leben und zurückschauen in die Geschichte: Es hat niemals, niemals, für niemanden in Europa, der jemals gelebt hat, eine 73-jährige Friedensperiode in Europa gegeben. Das heißt: Jeder unserer Vorfahren, die jemals in Europa oder auch sonst lebten, hatten nie eine Phase von 73 Jahren des Friedens, wie wir sie erlebt haben.
Woher das kommt, das ist leider etwas, was heute aus dem Bewusstsein geschwunden ist, und man schaut auf die Probleme des unmittelbaren Alltags und dass das Leben nicht so grandios ist, wie man sich das vielleicht mal erträumt hat. Dass aber die Errungenschaften, ob das Rechtsstaatlichkeit ist, ob das freie Bewegung ist innerhalb Europas, ob das Pressefreiheit ist, ob das politische und persönliche Freiheiten sind, dass all dieses Dinge sind, die relativ schnell auch wieder verschwinden können, wenn man sich dieser Dinge nicht mehr bewusst ist und wenn man sie nicht aktiv verteidigt. Das ist etwas, das man, glaube ich, sehr viel stärker wieder ins Bewusstsein der Gegenwart bringen muss.
Das ist unser aller Aufgabe. Das gilt für diejenigen, die im öffentlichen Raum sprechen, wie für die Zivilgesellschaft insgesamt. Wir selber sind dafür verantwortlich, dass das, was sich in den vergangenen Jahrzehnten entwickelt hat, auch stabil so weiterkommt. Da kann man nur davor warnen, nationalistischen Versprechungen oder anderen dogmatischen, ideologischen oder religiösen Versprechungen nachzurennen. Jeder, der das tut, kann sich eigentlich in der Geschichte anschauen, wohin das führt, und die Erfahrungen haben wir eigentlich alle gemacht; wir dürfen die nur nicht vergessen.
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