Einige Tage vor ihrem 45. Geburtstag, am 10. März 1974, schreibt Christa Wolf an die sechs Jahre jüngere Dichterin Sarah Kirsch:
"Kennst Du die Stelle bei Kafka, wo er schreibt, daß sein Gehirn nicht mehr allein die Last tragen konnte – und die Lunge nun mittels Tuberkulose einen Teil übernahm... Dies tun bei Dir die Relaisstellen Deines Kreislaufs, sie stellen einfach ihre Tätigkeit ein... Wer kann was für seine Kindheit? Für ein Zuviel oder Zuwenig an Wärme und Zuwendung, die er da bekommen hat... Sich selbst muß man von einem bestimmten Alter an für alles selbst verantwortlich machen. (Dies alles ist in dir, laß deinen eitlen Wahn...) Später, denke ich (und vielleicht ist dieses Später schon jetzt, bei mir hat es angefangen) bereut man bitter jeden Tag, den man nicht gelebt hat, jeden Frühling zum Beispiel, den man einfach nicht gesehen hat...
Vielliebe Sarah, das Beste ist, man verwandelt sich allmählich in eine Kunstfigur."
Vielliebe Sarah, das Beste ist, man verwandelt sich allmählich in eine Kunstfigur."
Existentieller Gefährdung und Sehnsucht nach Balance
Rückblickend markiert das Jahr 1974 eine wichtige Zäsur. Drei Jahre später wird Sarah Kirsch die DDR verlassen und Christa Wolf eine ihrer schwersten Sinn- und Schreibkrisen durchleben. Die Vorzeichen des Kommenden deuten sich unüberhörbar an. Es berührt, wie unverstellt offen Sarah Kirsch von ihrer scheinbar ausweglosen Lebenssituation spricht, von existentieller Gefährdung und der Sehnsucht nach Balance. Nach der gescheiterten Ehe mit dem Lyriker und Übersetzer Rainer Kirsch und einer mehrjährigen Beziehung zum Schriftsteller und Dramaturgen Karl Mickel, aus der 1969 der gemeinsame Sohn Moritz hervorgeht, scheint ihr alles über den Kopf zu wachsen und sie in Selbstzweifeln zu ersticken.
"Ich sehe überhaupt keinen Sinn mehr in mir... Ich sitze in einem innerlichen und äußerlichen Chaos, ... was ich mir von Karl hab gefallen lassen, wie er mich fortwährend als Dreck beschimpft hat, auch zuletzt, als ich hier richtig zusammengerutscht war und man sehen mußte, daß michs nicht interessierte warf er mir 2 Stunden meine Schlechtigkeit vor + ich konnte mich nicht wehren. Alles in Allem hab ich 7 Jahre ein rechtes Schwein geliebt...
Ich werde auch einfach eine Kunstfigur aus mir machen und mich so sehen, wie, wenn ich Glück habe, nach 100 Jahren in meiner Biographie alles zu lesen sein wird."
Ich werde auch einfach eine Kunstfigur aus mir machen und mich so sehen, wie, wenn ich Glück habe, nach 100 Jahren in meiner Biographie alles zu lesen sein wird."
Ein vertrauensvoller Briefwechsel
In Kunstfiguren haben sich beide Autorinnen nicht verwandelt. Aber sie hatten zu lernen, sich in der Kunst der Verstellung zu üben. Unverstellt und vertrauensvoll, jenseits gestanzter Rhetorik, läßt sich dagegen in den Briefen sprechen, in denen schonungslose Selbstbetrachtung und Sinnsetzung von zentraler Bedeutung sind. Wahrhaftigkeit wird zum Sehnsuchtswort.
Doch ist die Korrespondenz, welche die Jahre zwischen 1962 und 1992 umfasst und nun in einer sorgfältig edierten und sachkundig kommentierten Ausgabe vorliegt, mehr als das vielschichtige Dokument eines privaten Austauschs in drei Jahrzehnten. Die Briefe sind Zeitdokumente aus einer Distanz. Oder wie es Christa Wolf 1995 anlässlich der Veröffentlichung ihres Briefwechsels mit Franz Fühmann formuliert: "Zeugnisse aus einer Periode, die inzwischen als abgeschlossene Geschichte betrachtet" wird, gewissermaßen ein "versunkenes Kapitel".
Inwieweit die Schreibenden als historische Figuren hervortreten, hängt von dem Wissen um diese Epoche ab. Christa Wolf hat diesen vielschichtigen Vorgang in ihren Texten mehrfach durchgespielt. Seit "Nachdenken über Christa T." interessiert sie die Vergegenwärtigung historisch verbürgter wie mythologischer Personen. Über die Figur der Medea schreibt sie im gleichnamigen Roman: "Neben uns, so hoffen wir, die Gestalt mit dem magischen Namen, in der die Zeiten sich treffen, schmerzhafter Vorgang. In der unsere Zeit uns trifft".
"Medea": Auch Selbstreflexion von Christa Wolf
Achronie ist für sie ein Schlüsselwort, um das Ineinander der Epochen zu veranschaulichen, bei deren Rekonstruktion die konkreten Zeitbezüge nur bedingt helfen. So kann "Medea" als ein Ereignis ohne Alter verstanden werden – ein Sehen durch die "Zeitwände" hindurch wird möglich. Der Roman, der auch als Selbstreflexion der Autorin zu lesen ist, endet mit den Sätzen: "Wohin mit mir. Ist eine Welt zu denken, eine Zeit, in die ich passen würde. Niemand da, den ich fragen könnte. Das ist die Antwort."
Das vorliegende Briefkonvolut kennzeichnet eine "starke Asymmetrie", so die Herausgeberin Sabine Wolf. 172 Briefe von Sarah Kirsch stehen 61 von Christa Wolf gegenüber. Hinzu kommen Briefe von Sarah und Rainer Kirsch sowie 15 vom Ehepaar Wolf unterzeichnete, neun sind allein von Gerhard Wolf geschrieben. Außerdem wurde ein Brief Christa Wolfs mit einer Nachschrift von Katrin Wolf aufgenommen.
All das erweitert den Briefwechsel, der vom Titel her eigentlich einen Dialog erwarten lässt, und zu Unrecht den Namen Gerhard Wolf ausspart.
Denn die Ouvertüre zum Kernstück des Bandes – dem Briefwechsel zwischen Sarah Kirsch und Christa Wolf – bilden Gespräche zwischen den "Kirschen", Sarah und Rainer Kirsch, bzw. zwischen den "Kirschen" und den "Wölfen". Die Stimme von Christa Wolf ist nur selten zu hören. Allein in der Präposition "mit" drückt sich ihre Anwesenheit aus. Das hat überwiegend pragmatische Gründe. Gerhard Wolf, der seit 1957 freischaffend als Autor, Lektor und Herausgeber arbeitet, aber auch als Vermittler und Förderer der jungen Autorengeneration agiert, lektoriert die Gedichte Sarah Kirschs mit subtiler Sachkenntnis und freundlicher Strenge. Er begleitet von Anbeginn ihre lyrische Entwicklung, zeitweilig auch die von Rainer Kirsch. Aus diesem Grund ist wohl auch sein Gutachten zu ihrem gemeinsamen Gedichtband "Gespräch mit dem Saurier" – er erscheint 1965 im Verlag Neues Leben – aufgenommen.
Sarah Kirsch bezeichnet ihn als "klugen kritischen Mentor":
"Gerhard Wolf hat uns von den großen philosophischen Themen ferngehalten und uns beigebracht, über die Sachen zu schreiben, die uns umgeben, die wir wirklich kennen. Das war der sogenannte ‚kleine Gegenstand’, wie es dann bald unter Germanisten hieß. Und wir machten Gedichte über die kleinen Gegenstände, über ein Frühstück oder über das Aufwachen, über den Marktplatz von Halle und dergleichen."
Auch ihre erste Gedichtsammlung "Landaufenthalt" von 1967 wird von Gerhard Wolf umfassend betreut.
"Ich finde es erstaunlich, was Du in den letzten Jahren gemacht hast, ... Du bist unter unseren deutschen Frauen Deiner Generation allein auf weiter Flur. Bei dieser Gabriele Wohmann allein finde ich einige Töne, die das haben. Und wenn Du alle Einflüsse an Else Lasker-Schüler oder Bachmann einmal abstreifst, die manchmal bei gewissen Traurigkeitstotalen einfließen, wenn Du selbst die Totale willst, na, wenn das, also ... Ich glaube, das wird ein ganz ausgezeichneter Band, weil nach diesem Mickel zum Beispiel endlich mal jemand ganz anders spricht, dazu eine ganz eigenartige Frau."
Wo "Quergestreiftes" zum Problem für Linientreue wird
Sarah Kirsch hatte als Lyrikerin keinen leichten Start, auch darüber geben die Briefe Auskunft. Bereits mit dem Gedicht "Quergestreiftes", das als Typoskript im Gerhard Wolf-Archiv erhalten ist, wird sie von den SED-Kulturfunktionären gemaßregelt. Der Schriftsteller Stephan Hermlin, damaliger Sekretär der Sektion Literatur der Akademie der Künste in Ost-Berlin, hatte es auf der legendären Lyrikveranstaltung am 11. Dezember 1962 gelesen. Danach wird Hermlin als Sekretär abgesetzt.
Verse wie diese wurden zur Gefahr:
"Es waren einmal dreißig Streifen,
Davon konnten zwei nicht begreifen,
Daß sie nur längs zu laufen hatten –
Wie’s ewig alle Streifen taten."
Davon konnten zwei nicht begreifen,
Daß sie nur längs zu laufen hatten –
Wie’s ewig alle Streifen taten."
Die Dichterin verteidigt sich in einer öffentlichen Stellungnahme, versucht aber auch einzulenken. 1963 mit der Überschrift "Die Kritik ist berechtigt" stark gekürzt in der SED-Zeitung "Freiheit" in Halle veröffentlicht, wurde dieses historische Dokument mit sämtlichen Streichungen ebenfalls in den Briefband integriert.
Im Nachwort heißt es dazu:
"Aus heutiger Sicht mutet die Selbstkritik Sarah Kirschs ... fast tragisch an. Die junge Autorin versucht sich zu erklären, Missverständnisse in der Auffassung des Gedichtes zu belegen, wehrt sich gegen Unterstellungen und beschwört ein gemeinsames Wollen von Partei und den jungen Lyrikern. Wie aber mit Letzterem, wenn sie kritische Töne zu äußern wagten, umgegangen wurde, bestätigte letztlich die poetische Voraussage, die Sarah Kirsch im oben erwähnten Brief zusammenfasst: '... wer bei uns nicht in der Reihe marschiert, wird beseitigt.'"
Die Briefe der Autorinnen Kirsch und Wolf sind keine "literarischen Privatbriefe". Es fehlt ihnen jede Form der Literarisierung, die so oft in der Korrespondenz bedeutender Autoren zu finden ist. Dafür werden die zahlreichen Konflikte, die es mit den kulturpolitischen Institutionen gibt, direkt oder andeutungsweise besprochen. Bedauerlich ist in diesem Zusammenhang, dass für das Jahr 1965, in dem das XI. Plenum des ZK der SED stattfindet, keine Briefe überliefert sind. Ebenso klafft eine Lücke für die Zeit vom Sommer 1976 bis zum 28. August 1977, also jenem Tag, an dem Sarah Kirsch die DDR verlässt, die laut Herausgeber leider nicht geschlossen werden konnte. Fällt in das Jahr 1976 doch auch die Ausbürgerung des Liedermachers Wolf Biermann.
Kriegserlebsnisse und Angst vor totaler Vernichtung
Viel ist von Verlustängsten, Entmutigung und Resignation, von einer Politik des Mundtot-machens zu lesen, aber auch vom Alltag mit Kindern und Familie. Beide Frauen erlebten den Krieg und fürchten angesichts atomarer Aufrüstung in Europa die totale Vernichtung. Früh fokussiert die studierte Biologin Sarah Kirsch Probleme der Umwelt. Ihr Rückzug ins Ländliche ist vielleicht auch dieser Bedrohung geschuldet. Von der Freundin mitunter ironisch mit "Provinzsarah" angeredet, gesteht sie 1985, einer Utopie anzuhängen:
"Schön, dass Ihr in Woserin nun heimisch schon seid, es gehet doch nix übern Landsitz, und alles wird wie im vorigen Leben dann sein, milde und freundlich mit schönen durchsichtigen Himmeln und grünendem Boden."
Nach einem Besuch im Mecklenburgischen Woserin im Sommer 1986, das Grundstück der Wolfs in Neu-Meteln brannte 1983 ab, heißt es:
"Dieses Haus habe ich gut in meinem Gedächtnis, besonders seinen gewaltigen Boden diese Dachräume und die entzückenden Zimmer und Platz für ganze Serien von Zimmern und der Blick aus dem Fenster bei Nacht und am Morgen in der Zeit der Perseidenschwärme – disz [sic] war alles höchst wunderbar..."
Gartenarbeit und Dichtung
Zurück in Tielenhemme wühlt sie "täglich im Garten", pflanzt Schleierkräuter und Türkenmohn, besorgt sich "altmodische Rosen von einem sog. Rosenarchivar", um von ihren starken Düften "umnebelt" zu werden. Schafzucht, Esel und Katzen verhindern zunehmend ein Entfernen vom Leben auf dem Deich in Schleswig-Holstein. Doch Sarah Kirsch bleibt eine ungemein produktive Dichterin: die Gedichtbände "Drachensteigen", "Erdreich", "Katzenleben", "Schneewärme", "Erlkönigs Tochter" und "Bodenlos" entstehen in dieser Zeit, und sie schreibt Prosa und Tagebuch. Adolf Endler spricht zu recht von der "naturhaft anmutenden Kontinuität" ihres Werkes, für das sie 1996 den Büchner-Preis erhält.
Wenig Auskunft enthält der Briefwechsel dagegen zur Entstehung von Texten, an denen gearbeitet wird, und die in den Jahren der Korrespondenz erscheinen. Die Schreibenden konkurrieren nicht miteinander. Es geht ihnen, so könnte man sagen, um Empathie, Nähe und eben Wahrhaftigkeit. Geringste Missverständnisse lassen sich im Tonfall nachspüren und werden hinterfragt. Christa Wolf, die eigentlich eine fleißige Briefschreiberin ist, betont mehrfach, jedes Gespräch der schriftlichen Äußerung vorzuziehen.
So werden auch zwei wichtige literarische Texte nur am Rande erwähnt, wobei die detailreichen Kommentare hier wertvolle Ergänzungen liefern: es handelt sich um Sarah Kirschs als Chronik bezeichneten Prosatext "Allerlei-Rauh" von 1988 und Christa Wolfs "Sommerstück" von 1989. Sie korrespondieren über den Briefwechsel hinaus – quasi auf literarischer Augenhöhe – miteinander. Beide Texte thematisieren den letzten gemeinsamen Sommer 1975 im Mecklenburgischen. Aus dem Danach konstituiert sich eine Zeit vor der räumlichen Trennung und den darauf folgenden Verlusten.
"Ein Vorgang von großer menschlicher, literarischer und politischer Tragweite"
Als Sarah Kirsch das Land und die Freunde mit Sohn Moritz verlässt, verfasst Christa Wolf ein Schreiben an das Präsidium des Schriftstellerverbandes:
"daß Sarah Kirsch die DDR verläßt, ist für mich ein Vorgang von großer menschlicher, literarischer und politischer Tragweite. Ich sehe nicht, daß er im Schriftstellerverband so begriffen und behandelt werden wird; schon höre ich erste Stimmen, die die Integrität von Sarah Kirsch in Frage zu stellen suchen: Es werden die gleichen sein, die durch Diffamierungen und Demütigungen ihren Anteil daran haben, daß Sarah Kirsch nicht mehr hier bleiben will. ... Meine Hoffnung ist erschöpft. ... Es bleibt mir also keine Wahl: Ich erkläre hiermit meinen Austritt aus dem Vorstand des Schriftstellerverbandes der DDR."
Sarah Kirsch wird ihre Entscheidung nicht bereuen, obwohl ihr "Umzug", so hatte Uwe Johnson seinen Weggang bezeichnet, ein schmerzhafter Einschnitt in ihrer Biographie ist. 1978 hält sie sich mit einem Stipendium in der Villa Massimo in Rom auf und verkündet:
"Liebe Wölfe, ich bin jeden Tag stundenlang glücklich, alles, alles ist richtig. Die Eidechsen huschen mir über die Füße, die Fledermäuse und Uhus sind da, die Brünnlein fließen, die Autos hupen fröhlich, die vielen Hunde werden ausgeführt. Schreibt auch, liebe Menschen."
Für Christa Wolf ist die Zeit, da Sarah Kirsch geht, eine bittere Zäsur. Mit der Novelle "Kein Ort Nirgends" sowie dem Essay "Der Schatten eines Traumes", mit Gedichten und Prosa der Karoline von Günderrode, die neben der literarischen Qualität auch Zeugnisse innerer Zerrissenheit sind, erklärt sie Ende der 1970er Jahre den Schmerz zum Sinnzentrum ihres Schreibens. Dem Schriftsteller Günter Kunert, der 1979 ebenfalls die DDR verlässt, widmet sie einen kurzen Text mit dem Titel "Der Schmerz". Sie spricht davon, dass der Schmerz nichts beweist und nichts rechtfertigt: "Was nach ihm kommt, können wir nicht wissen."
Auf die Bedenken der Freundin, man könne sich entfremden, antwortet diese mit einer ungekannten Leichtigkeit:
"Du mußt nicht immer Angst haben, daß wir uns voneinander entfernen, ich bin dasselbe wie eh und je – und bei Lesungen spreche ich immer von Mecklenburg...
Weil Du oft von Sternen schreibst – wir waren neulich nachts auf dem Capitol, da sieht man das Forum Romanum im Mondlicht, und die Sterne sind gemästet. Aber in Olevano, in den Bergen sind sie tellergroß. Macht es gut, Ihr alle!"
Weil Du oft von Sternen schreibst – wir waren neulich nachts auf dem Capitol, da sieht man das Forum Romanum im Mondlicht, und die Sterne sind gemästet. Aber in Olevano, in den Bergen sind sie tellergroß. Macht es gut, Ihr alle!"
Wie arbeitet man ohne die gewohnte Reibung
Von nun an scheint es zwei Sternenhimmel zu geben: dem der gemästeten, tellergroßen Sterne und einen, wo es den Sternen an Leuchtkraft fehlt. Die Grüße der "fiellieben Signora", wie sie Christa Wolf nun nennt, treffen auf ein Gefühl tiefer Verzweiflung. Ihre Antwort bekommt einen ernsten Ton.
"Komischerweise hat sich gerade in den letzten Wochen – vielleicht eben unter dem Druck des grauen Himmels – bei uns beiden eine große Sehnsucht nach dem Süden entwickelt, nach Italien und Griechenland, und wir denken, daß wir das doch auch noch kennen sollten, und nehmen es für spätere Jahre vor."
Während Sarah Kirsch unter italienischen und französischen Himmeln anderen Sprach- und Denkwelten begegnet, beschäftigt die Wolfs, ob sie das Land ebenfalls verlassen sollten. Seit der Ausbürgerung Wolf Biermanns hat sich die DDR-Kulturlandschaft radikal verändert. Wie soll künftig eine Gesprächskultur funktionieren, wenn das Gegenüber unerreichbar scheint. Christa und Gerhard Wolf bleiben in der DDR. Doch der "Vorrat an Trauer und Reue" scheint aufgebraucht, notiert Christa Wolf in ihrem Buch "Ein Tag im Jahr" unter dem Datum "Dienstag, 27. September 1977". Vielleicht stellt die "Ökonomie der Seele" bei derartiger "Überbeanspruchung" ihre Dienste ja einfach ein.
Am 2. Januar 1978 schickt sie der Freundin Neujahrgrüße, nachdem sich beide zuvor in Westberlin getroffen hatten.
"Ich bin froh, dass ich bei Dir war und jetzt ganz ruhig an Dich denken kann. Nur frag ich mich, wie arbeitet man ohne die gewohnte Reibung (die ja Reibungswärme erzeugt, die man, manchmal, in Produktionswärme umsetzen kann), und doch, und doch, diese Dauerreibung nutzt ja auch so unglaublich ab, also: Wie arbeitet man m i t der nicht aufhörenden Reibung..."
Kritische Analyse der Sprache der Zeit
In ihrer Dankesrede zur Verleihung des Bremer Literaturpreises für ihren Roman "Kindheitsmuster" nimmt sie ein Jahr später eine kritische Analyse der Sprache in der Zeit vor, die zu verlieren droht, was ihr einst anvertraut wurde.
"Ohne Anteilnahme kein Gedächtnis, keine Literatur. Ohne Hoffnung auf Anteilnahme keine lebendige, nur gestanzte Rede; ... Keine Sprache, die unsern notwendigsten, auch gefährdetsten Denk- und Fühlwegen folgen, sie festigen könnte. Keine Weisheit, keine Güte. Und kein Satz, der offenbleibt, offen wie eine Wunde."
Im Jahr 1992 bricht der Briefwechsel ab. Zeitgleich nimmt Christa Wolf Einsicht in ihre Stasi-Akten und sie beginnt mit dem Roman "Stadt der Engel oder The Overcoat of Dr. Freud", der ein Jahr vor ihrem Tod 2010 erscheint.
Der letzte Brief des Bandes ist von Sarah Kirsch geschrieben, aber er richtet sich nicht an die Freundin, sondern an Gerhard Wolf. Als würde sich damit ein Kreis schließen, denn der erste Brief hatte 1962 denselben Absender und Adressaten. Doch nun ist nicht der kritische Lektor gefragt. Sarah Kirsch schreibt einen Erklärungs- und Verteidigungsbrief, auf den in diesem Briefband keine Antwort mehr zu lesen ist.
Der letzte Brief des Bandes ist von Sarah Kirsch geschrieben, aber er richtet sich nicht an die Freundin, sondern an Gerhard Wolf. Als würde sich damit ein Kreis schließen, denn der erste Brief hatte 1962 denselben Absender und Adressaten. Doch nun ist nicht der kritische Lektor gefragt. Sarah Kirsch schreibt einen Erklärungs- und Verteidigungsbrief, auf den in diesem Briefband keine Antwort mehr zu lesen ist.
"Lieber Gerhard,
Jochen Schädlich hat Annetten & Faktor getroffen und mir von deren Bitternis gesagt daß ich erzählen würde Du wärst IM gewesen. Dies ist aber erstaunlich und falsch.... Das Gerücht habe ich nicht gemacht, es war lange vor mir unterwegs, gab ja viele...
Es tut mir leid wenn alles so hübsch grausam verfahren nun ist, ich hab aber nix in die Welt gesetzt, keine Urheberin bin ich, diesz [sic] solltest Du dennoch erfahren. So viel also."
Jochen Schädlich hat Annetten & Faktor getroffen und mir von deren Bitternis gesagt daß ich erzählen würde Du wärst IM gewesen. Dies ist aber erstaunlich und falsch.... Das Gerücht habe ich nicht gemacht, es war lange vor mir unterwegs, gab ja viele...
Es tut mir leid wenn alles so hübsch grausam verfahren nun ist, ich hab aber nix in die Welt gesetzt, keine Urheberin bin ich, diesz [sic] solltest Du dennoch erfahren. So viel also."
Sarah Kirsch, Christa Wolf: "Wir haben uns wirklich an allerhand gewöhnt"
Der Briefwechsel
Suhrkamp Verlag, Berlin. 456 Seiten, 32 Euro.
Der Briefwechsel
Suhrkamp Verlag, Berlin. 456 Seiten, 32 Euro.