"Ein großer Teil meiner Arbeit der letzten vier Jahre bestand in der Reform des Wahlrechts. Es gab ja zwei Reformen. Und die haben sehr viel meiner Arbeitszeit hier ausgefüllt. Es gab ja verschiedene Modelle, verschiedene Berechnungen, die es zu prüfen galt und ich bin sehr froh, dass jetzt nach vier Jahren ein Abschluss gefunden worden ist."
Morgen will der Bundestag in abschließender Lesung über das Wahlrecht entscheiden, an dem auch Martin Voigt mitgearbeitet hat. Die Modelle und Berechnungen, von denen der Mitarbeiter des zuständigen FDP-Abgeordneten Stefan Ruppert spricht, standen lange Zeit im Mittelpunkt der Diskussionen.
Das deutsche Wahlrecht ist kompliziert. So kompliziert, dass auch Fachleute wie Voigt zugeben, immer wieder den Überblick zu verlieren.
"Man darf quasi keine Pausen machen, weil man sonst ganz schnell aus der Thematik wieder raus ist. Und die zweite Herausforderung ist, dass man darüber redet. Ganz oft ist es uns passiert, dass wir dachten, wir hätten es verstanden und hatten dann aber ganz unterschiedliche Auffassungen darüber, wie diese Modelle nun laufen - auch in Gesprächen mit Experten."
Ein paradoxer Effekt wird ausgeglichen
Hinter dem Wust der Zahlen und dem Klein-Klein der Stellschrauben und Effekte verbergen sich - mindestens zum Teil - echte Demokratiefragen. Und so wird sich mit dem neuen Wahlrecht, nach dem in sieben Monaten der neue Bundestag gewählt wird, Verschiedenes ändern.
Es wird zum einen ein kleiner, merkwürdig paradoxer Effekt ausgeglichen: das negative Stimmgewicht. Lange hatte das Phänomen die Diskussion beherrscht, über seine Relevanz sind Fachleute uneinig.
Es wird außerdem - das ist zweifelsohne die Entscheidung von größerer Bedeutung - zwar noch Überhangmandate geben. Es werden also weiterhin direkt gewählte Abgeordnete ins Parlament einziehen, obwohl der Zweitstimmenanteil ihrer Partei schon ausgefüllt ist. Aber diese Überhangmandate werden das Zweitstimmenergebnis nicht mehr wesentlich verzerren, da sie ausgeglichen werden, die anderen Fraktionen also auch entsprechend mehr Sitze bekommen. Der Bundestag - das ist die Folge davon - wird größer werden.
Wichtig für den demokratischen Prozess ist das zum einen, weil die Überhangmandate immer mehr zum relevanten Problem wurden. Ähnlich wichtig aber ist zum anderen, dass mit der jetzigen Lösung - mag man sie mögen oder nicht - das Wahlrecht nicht mehr im Streit der Parteien steht.
Ende eines jahrelangen Streits
Gestritten wird seit mittlerweile acht Jahren. Schon im Oktober 2005 zeigte sich, dass das bundesdeutsche Wahlrecht in der bisherigen Form nicht funktioniert. Zumindest nicht in Dresden. Damals herrschte Wahlkampf verquer. Im Wahlkreis 160 - Dresden I war eine Kandidatin gestorben. Zwei Wochen nach der Bundestagswahl 2005, als die Ergebnisse ansonsten feststanden, wurde deshalb nachgewählt - durch wohlinformierte Wähler.
Denn in den Medien hatte man diesen Dresdnern zuvor vorgerechnet: Wer der CDU Gutes tun will, sollte zusehen, dass sie nicht zu viele Zweitstimmen bekommt. Anscheinend mit Erfolg. In der Wahlnacht berichtete damals Sachsen-Korrespondentin Alexandra Gerlach:
"Der Dresdner Wähler hat - so viel ist klar - sehr taktisch gewählt. Strahlender Sieger an diesem Abend ist die FDP. Mit einer äußerst ungewöhnlichen Zweitstimmenkampagne hatte sie die Wähler dazu aufgerufen, mit der Erststimme CDU und mit der Zweitstimme FDP zu wählen. Das Kalkül ging auf. Die Liberalen errangen in Dresden 16,7 Prozent der Zweitstimmen. Eines der besten Ergebnisse überhaupt."
Mindestens so sehr wie der FDP sollte dieses Stimmensplitting aber wohl der CDU zu Gute kommen. Nicht umsonst lobte ein zufriedenes, damaliges CDU-Präsidiumsmitglied Roland Koch:
"Gratulation zu den Freunden nach Dresden, aber auch Gratulation den Wählerinnen und Wählern. Sie haben in der Tat ungewöhnlich viel von unserem Wahlrecht auch in diesen vierzehn Tagen aufgenommen und genutzt."
Und so funktionierte es tatsächlich: Zum einen hatte die Partei mit den Erststimmen wieder den Direktkandidaten gestellt, so weit, so einfach. Zum Zweiten aber führte gerade die geringere Zweitstimmenzahl der CDU dazu, dass eine ganz andere Politikerin profitierte, für die die Wahl eigentlich schon längst, seit der eigentlichen Wahl zwei Wochen zuvor, gelaufen war. Nach der Wahl bilanzierten die Autoren des Internetauftritts "Wahlrecht.de":
"Somit haben sich die Tipps für die Wähler in Dresden positiv für die CDU-Kandidatin Anette Hübinger (Saarland) ausgewirkt, die letztendlich von der Vermeidung des negativen Stimmgewichts durch taktisches Wählen profitierte."
Alles klar? Der Effekt des sogenannten negativen Stimmgewichts existiert seit den 50er-Jahren. Er ergibt sich aus der Kombination zweier Phänomene: Auf der einen Seite Überhangmandate. Sie können durch das Zwei-Stimmen-System entstehen, das es in Deutschland seit damals gibt. Die Erststimme geht an den Wahlkreiskandidaten, die Zweitstimme an die Partei. Überhangmandate entstehen, wenn eine Partei mit Hilfe der Erststimmen viele Direktmandate erringt - und zwar mehr als ihr an sich Sitze in dem Land nach der Zahl der Zweitstimmen zustehen würden. Wenige Zweitstimmen plus viele Direktmandate ergeben viele Überhangmandate.
Wie das negative Stimmgewicht entsteht
Das zweite Phänomen ist weniger bekannt: Die Landeslisten werden verbunden. Das soll verhindern, dass in jedem Land all die Stimmen unter den Tisch fallen, die kein ganzes Mandat ergeben. An sich eine sinnvolle Sache. Nur: Die Kombination der beiden Effekte führt zum negativen Stimmgewicht.
Denn so gibt es einerseits das Überhangmandat, andererseits bleiben die Zweitstimmen sozusagen ungenutzt übrig und werden dann anderen Listen zugeschlagen. Und können dort wieder neue Mandate ergeben. Beispiel CDU im Wahlkreis Dresden I 2005.
Hier lag die kritische Grenze bei 41.000 Stimmen. Hätte es mehr gegeben, hätte es für ein Dresdner Mandat aus Zweitstimmen gereicht. Es hätte also kein Überhangmandat gegeben. Da die Zweitstimmenzahl geringer war, gab es das Überhangmandat, die fast 41.000 Stimmen blieben übrig und kamen anderen Landeslisten zugute. Es waren Naturwissenschaftler, Mathematiker und Autodidakten des Wahlrechts, die das ungerecht fanden. Einer davon, Martin Fehndrich, hatte schon früher vor dem Bundesverfassungsgericht geklagt. Diesmal hatte er Erfolg.
"Also ein Wahlsystem, das darf vieles. Aber es darf nicht dazu führen, dass die Stimme der Partei, der man die Stimme gegeben hat, schadet."
Verfassungswidrige Gesetze
Der Vorsitzende des Zweiten Verfassungsgerichts-Senats, Andreas Voßkuhle, verkündete im Juli 2007 das Urteil - mit ähnlichem Inhalt:
"Ein Wahlsystem, das in typischen Konstellationen zulässt, dass ein Zuwachs von Stimmen zu Mandatsverlusten führt, oder dass für den Wahlvorschlag einer Partei insgesamt mehr Mandate erzielt werden, wenn auf ihn selbst weniger oder auf einen konkurrierenden Vorschlag mehr Stimmen entfallen, führt zu willkürlichen Ergebnissen und lässt den demokratischen Wettbewerb um Zustimmung bei den Wahlberechtigten widersinnig erscheinen."
Die Folge: Das Gesetz verstieß gegen den Grundsatz der Gleichheit der Wahl und war verfassungswidrig. Allerdings bekam der Gesetzgeber lange Zeit, um auf das Urteil zu reagieren: drei Jahre, so lange, dass 2009 noch einmal nach dem alten Recht ein Bundestag gewählt werden konnte.
Und dann rechneten Mathematiker des Bundestages, externe Sachverständige, Fachleute wie Martin Voigt - und kamen zu keinem Ergebnis. Nicht einmal die Koalitionsfraktionen konnten sich zuerst einigen. Und dann, als ein Kompromiss zwischen CDU, CSU und FDP gefunden war, kam die Koalition nicht mit der Opposition zusammen.
Der Hintergrund: Der Gesetzgeber konnte an zwei möglichen Stellschrauben drehen - den Überhangmandaten und der Verbindung der Landeslisten, die beiden Elemente zusammen führen ja zu dem paradoxen Effekt. Und Schwarz-Gelb entschloss sich dazu, auf die Listenverbindung zu verzichten.
Das wiederum erboste die Opposition. Sie fühlte sich nicht ausreichend eingebunden. Und SPD, Grüne und Linke hatten inhaltliche Bedenken. Denn zum einen, so errechneten nun wiederum ihre Mitarbeiter und auch externe Sachverständige, hatte die Koalition die Sache falsch angepackt, es konnte immer noch zu dem paradoxen Effekt kommen.
Vor allem aber beklagten alle Oppositionsparteien eine vertane Chance: Sie hätten bei der Gelegenheit gern die Überhangmandate beseitigt, nicht nur weil von denen in letzter Zeit nur die Union profitiert hatte. Thomas Oppermann, parlamentarischer Geschäftsführer der SPD-Fraktion:
"Sie geben einigen Wählern ein doppeltes Stimmengewicht. Das steht in Widerspruch zu dem zentralen Versprechen der Demokratie, nämlich: Das gleiche Stimmrecht für alle. Der zweite Punkt: Die Überhangmandate können im Parlament Mehrheiten nach Zweitstimmen umdrehen. Das führt übrigens - das ist mein dritter Punkt - auch zu einer regionalen Ungleichverteilung der Mandate. Und nicht zuletzt wird auch die Chancengleichheit der politischen Parteien beeinträchtigt. Die SPD brauchte bei der letzten Bundestagswahl 68.500 Stimmen für ein Mandat. Die CDU brauchte nur 61.000 Stimmen."
Wie schlagend diese Argumente sind, ist umstritten. Der Streit ist Jahrzehnte alt. Überhangmandate - wir erinnern uns - entstehen dadurch, dass über die Erststimmen so viele Mandate in einem Land an eine Partei gehen, dass sie durch die Zweitstimmen nicht mehr gedeckt sind. In der Vergangenheit hatte davon mal die SPD, mal die CDU profitiert, in letzter Zeit immer mehr die Union.
Zahl der Überhangmandate stieg
Und ganz allgemein stieg die Zahl der Überhangmandate ganz erheblich. Sprunghaft bei der letzten Wahl, mit 24 zusätzlichen Mandaten für CDU und CSU. Ob die Entwicklung so weitergeht, ist offen.
Klar ist allerdings: Je weniger Wähler die Volksparteien erreichen, desto weniger klare Zweitstimmen-Mehrheiten gibt es - und desto wahrscheinlicher werden Überhangmandate. Günter Krings, der stellvertretende Vorsitzende der Unions-Bundestagsfraktion, verteidigte das letzte Gesetz und die Überhangmandate grundsätzlich:
"Wir müssen uns wirklich von dem Gedanken frei machen, dass wir eigentlich nur ein Verhältniswahlrecht haben, mit ein paar Arabesken des direkt gewählten Abgeordneten. Das ist nicht unser Wahlrecht. Wenn Sie einmal die Menschen fragen, werden viele sagen: Also für mich sind Parteien weniger wichtig als Menschen. Und insofern ist das andere Element, das Element der Erststimme, der Direktwahl im Wahlkreis, auch sehr, sehr wichtig."
Falsch, sagte der Parlamentarische Geschäftsführer der Grünen, Volker Beck. Es gebe eine Rangfolge. Nicht der persönlichen Legitimation des Abgeordneten. Doch aber der Wahlsysteme.
"Wir haben ein personalisiertes Verhältniswahlrecht. Also wir haben erst mal ein Verhältniswahlrecht. Und dann ein personalisiertes als Eigenschaft in Form einer besonderen Ausgestaltung. Wenn man das jetzt umkehrt und sagt: Durch den Personalisierungseffekt können wir sogar die Ergebnisse des Verhältniswahlrechtes verzerren, dann wendet sich sozusagen das System gegen sich selbst."
Das sind nicht nur unterschiedliche Auffassungen in der Sache. Noch Ende vergangenen Jahres, als der Streit längst beigelegt war, zeigte Thomas Oppermann mit Vorwürfen gegen die Regierungsfraktionen, wie tief die Gräben einmal gewesen waren:
"Wahlrecht darf nicht als Machtrecht missbraucht werden. Das Wahlrecht ist nicht dazu da, nach den Machterhaltungsbedürfnissen der Mehrheit gestaltet zu werden. Sondern das Wahlrecht ist das vornehmste demokratische Recht der Bürgerinnen und Bürger."
Grüne und SPD klagten - und ernteten die erste Befriedigung schon zu Beginn der mündlichen Verhandlung. Andreas Vosskuhle, inzwischen Präsident des Bundesverfassungsgerichts, rügte scharf, dass zum ersten Mal in der bundesdeutschen Geschichte ein Wahlrecht im Streit erlassen worden war.
Und Monate später, im Juli 2012, verkündete er das Urteil, mit dem der Zweite Senat - gemessen an der förmlichen Sprache der Juristen - den Koalitionsfraktionen das neue Recht förmlich um die Ohren schlug. Das Fazit:
"Trotz einer großzügig bemessenen dreijährigen Frist für den Wahlgesetzgeber, eine verfassungsgemäße Neuregelung zu treffen, ist das Ergebnis, das ist übereinstimmende Auffassung im Senat, ernüchternd."
Wieder hieß es: Verstoß gegen den Grundsatz der Gleichheit der Wahl, Verstoß gegen den Grundsatz der Chancengleichheit der Parteien. Nur: So langmütig wie fünf Jahre zuvor waren die Richter nun nicht mehr.
"Angesichts der Vorgeschichte des neuen Wahlrechts sieht der Senat keine Möglichkeit, den verfassungswidrigen Zustand erneut für eine Übergangszeit zu akzeptieren."
Mit anderen Worten: Die kritisierten Vorschriften waren nicht nur verfassungswidrig, sondern nichtig, Deutschland hatte kein Wahlrecht mehr. Denn, so die Richter:
"Der Grundsatz der Gleichheit der Wahl sichert die vom Demokratieprinzip vorausgesetzte Egalität der Bürgerinnen und Bürger. In ihm manifestiert sich das Ideal gleicher Freiheit und Würde. Auch die Komplexität der Regelungsmaterie vermag eine dauerhafte Relativierung dieses Grundsatzes daher nicht zu rechtfertigen."
Die beiden wesentlichen Gründe: Wieder stimmten die möglichen Berechnungen nicht, immer noch konnte das negative Stimmgewicht auftreten. Wie die Opposition es vorhergesagt hatte, hatte der Gesetzgeber an einigen Stellschrauben zu viel gedreht.
Überhangmandate auf 15 begrenzt
Die andere gleichrangige Kritik dagegen dürfte die Regierungsfraktionen eher überrascht haben. Überhangmandate, so sagten die Richter, darf es geben, aber nicht zu viele. Die Begründung fällt ähnlich aus wie die von Volker Beck: Wenn auch die Sitze im Bundestag über die Erststimmen teilweise an bestimmte Personen vergeben werden, so in etwa die Richter, wenn auch Verzerrungen eintreten mögen durch Überhangmandate, so hat sich doch der Gesetzgeber grundsätzlich für das Verhältniswahlrecht entschieden - also Zuteilung der Sitze proportional nach Erfolg der Partei.
Der Wähler rechne also damit, dass jede Zweitstimme annähernd den gleichen Einfluss haben wird. So logisch das ist - was viele Beobachter verwunderte war, dass sich die Richter dabei auf ihre eigene ständige Rechtsprechung beriefen.
Denn die hatte in der Vergangenheit auch andere Interpretationen zugelassen. Anfangs hatten die Richter die Verzerrungen durch den Überhang hingenommen, dann hatten sie zwar vage gewarnt. Jetzt aber nannten sie plötzlich eine Grenze: 15 Sitze. Eine halbe Fraktionsstärke. Was nicht einmal die Richter selbst erklären konnten, wie Berichterstatter Michael Gerhardt freimütig aus dem Urteil vortrug:
"Der Senat ist sich bewusst, dass die Zahl von 15 Überhangmandaten als Akt richterlicher Normkonkretisierung nicht vollständig begründet werden kann."
Entsprechend patzig reagiert der Hauptautor auf Koalitionsseite, Günter Krings, der Unions-Fraktionsvize.
"Da wurden im laufenden Spiel, wie ich finde, die Tore verschoben."
Wettert Krings.
"Ein Vorgang, der nicht nur im Fußball als nicht besonders freundlich gewertet werden kann."
Die Kritik an der Begrenzung der Überhangmandate teilen nicht alle. Denn auch viele Staatsrechtler waren in der Vergangenheit nicht glücklich mit den Verzerrungen.
Je mehr Veränderungen, desto komplizierter wird es
Eine andere Kritik wird breiter geteilt: Die nämlich, dass das Bundesverfassungsgericht zu krämerhaft an Einzelbestimmungen des Wahlrechts herangehe. Wie eben die Sache mit dem negativen Stimmgewicht. Und je mehr der Gesetzgeber daran herumbasteln müsse, desto komplizierter, unverständlicher und fehleranfälliger werde das Recht.
"Dem Wähler draußen kann ich sagen: Das perfekte Wahlrecht wird es nie geben."
Sagt der FDP-Politiker Stefan Ruppert.
"Jedes Wahlrecht wird gewisse Anomalien haben. Weil es eben so ist, dass in Berlin bei geringerer Wahlbeteiligung hinter einem Mandat weniger Wähler stehen als in einem Gebiet mit höherer Wahlbeteiligung. Also wir werden uns daran gewöhnen müssen, ich glaube das bringt die Demokratie nicht ins Wanken."
Das neue Wahlrecht bietet eine salomonische Lösung
So oder so, das Problem scheint gelöst. Und zwar salomonisch. Wieder wurde im Bundestag gerechnet, aber der Spielraum war dabei eher gering. Und diesmal schafften es CDU, CSU, SPD, FDP und Grüne, sich an einen Tisch zu setzen - anfangs sogar mit der Linksfraktion, was die Union selten zulässt.
Das Ergebnis - verkürzt: Die Mandate werden erst auf die Bundesländer verteilt und dann auf die Parteien. CDU und CSU als stärkste Fraktion machten ein erhebliches Zugeständnis: Die 15 Mandate, die die Verfassungsrichter vorgegeben haben, sind nicht Überhangmandate, sondern nicht ausgeglichene Mandate, also solche, die bis zuletzt das Zweitstimmenergebnis verzerren. Die Regierungsfraktionen gingen folgerichtig mit der Maßgabe in die Verhandlungen, dass andere Fraktionen Ausgleichsmandate bekämen - aber erst ab dem 16. Überhangmandat.
Stattdessen soll nun ab dem ersten Mandat ausgeglichen werden, das nicht durch Zweitstimmen gedeckt ist. Das wiederum hatte die SPD schon lange gewollt. Die Folge: Der nächste Bundestag, der am 22. September zu wählen ist, wird größer werden.
In Anhörungen sprachen Experten davon, dass in Zukunft bis zu 800 Abgeordnete im Plenarsaal des Reichstagesgebäudes Platz nehmen könnten - statt bislang 620. Andere beruhigen: Nimmt man die letzte Wahl als Berechnungsgrundlage, wären es 648.
Das sind immer noch mehr als jetzt, und der Deutsche Bundestag ist im internationalen Vergleich eines der größeren Parlamente.
Nur, sagen Vertreter von Koalition und Opposition einmütig: Groß ist relativ. So auch Jörg van Essen, FDP:
"Wenn man sich mal die Größe von benachbarten Parlamenten anschaut - Frankreich, Italien, Großbritannien haben etwa ein Viertel Einwohner weniger als wir, alle so um 60 Millionen. Das französische Parlament hat 577 Abgeordnete, das italienische Parlament hat 630 Abgeordnete, also 32 Abgeordnete mehr als wir. Alles das macht deutlich, der Bundestag ist eines der kleinsten Parlamente. Ich halte das auch für gut so."
Die nächste Auseinandersetzung zeichnet sich bereits ab: Europäischen Relativierungen zum Trotz - die Grünen warnen vor einem zu großen Parlament, wenn auch nur für die Zukunft, denn jetzt können Wahlkreise nicht mehr verändert werden. Volker
Beck rät:
"Dass wir in der nächsten Wahlperiode im Lichte des Wahlergebnisses daran arbeiten, dass Direktmandate bei ihrer Entstehung reduziert werden. Damit sie nicht ausgeglichen werden müssen."
Sofort widerspricht ein Unionsabgeordneter: Werden Wahlkreise zu groß, geht die Bindung des Bürgers an seinen Abgeordneten verloren. Es wird also weiter gestritten werden. Aber da geht es - übrigens ebenso wie bei der Kritik der Linken, die nicht beim Kompromiss mitgemacht hat - um die Frage, was wohl am sachgerechtesten ist. Es geht nicht mehr um den Vorwurf - zu Recht oder zu Unrecht -, der Stärkere habe sich sein Recht zurechtgeschustert, zulasten der Wählergleichheit. Das ist ein Wert an sich.
Bleibt ein Makel: Für den Wähler verständlich ist die Wahl selbst, nicht aber, wie die Sitze verteilt werden. So ist es eben, sagt der Mitarbeiter Martin Voigt, wenn der Bundeswahlleiter auch damit zurechtkommen soll.
""Das heißt ... "
Sagt er dem Wähler, der sich traut, das Gesetz zur Hand zu nehmen:
"... nach wie vor braucht man ein Glas Cola oder eine Tasse Kaffee und dann muss man mit sehr viel Gehirnschmalz da rangehen und sich dem widmen."
Morgen will der Bundestag in abschließender Lesung über das Wahlrecht entscheiden, an dem auch Martin Voigt mitgearbeitet hat. Die Modelle und Berechnungen, von denen der Mitarbeiter des zuständigen FDP-Abgeordneten Stefan Ruppert spricht, standen lange Zeit im Mittelpunkt der Diskussionen.
Das deutsche Wahlrecht ist kompliziert. So kompliziert, dass auch Fachleute wie Voigt zugeben, immer wieder den Überblick zu verlieren.
"Man darf quasi keine Pausen machen, weil man sonst ganz schnell aus der Thematik wieder raus ist. Und die zweite Herausforderung ist, dass man darüber redet. Ganz oft ist es uns passiert, dass wir dachten, wir hätten es verstanden und hatten dann aber ganz unterschiedliche Auffassungen darüber, wie diese Modelle nun laufen - auch in Gesprächen mit Experten."
Ein paradoxer Effekt wird ausgeglichen
Hinter dem Wust der Zahlen und dem Klein-Klein der Stellschrauben und Effekte verbergen sich - mindestens zum Teil - echte Demokratiefragen. Und so wird sich mit dem neuen Wahlrecht, nach dem in sieben Monaten der neue Bundestag gewählt wird, Verschiedenes ändern.
Es wird zum einen ein kleiner, merkwürdig paradoxer Effekt ausgeglichen: das negative Stimmgewicht. Lange hatte das Phänomen die Diskussion beherrscht, über seine Relevanz sind Fachleute uneinig.
Es wird außerdem - das ist zweifelsohne die Entscheidung von größerer Bedeutung - zwar noch Überhangmandate geben. Es werden also weiterhin direkt gewählte Abgeordnete ins Parlament einziehen, obwohl der Zweitstimmenanteil ihrer Partei schon ausgefüllt ist. Aber diese Überhangmandate werden das Zweitstimmenergebnis nicht mehr wesentlich verzerren, da sie ausgeglichen werden, die anderen Fraktionen also auch entsprechend mehr Sitze bekommen. Der Bundestag - das ist die Folge davon - wird größer werden.
Wichtig für den demokratischen Prozess ist das zum einen, weil die Überhangmandate immer mehr zum relevanten Problem wurden. Ähnlich wichtig aber ist zum anderen, dass mit der jetzigen Lösung - mag man sie mögen oder nicht - das Wahlrecht nicht mehr im Streit der Parteien steht.
Ende eines jahrelangen Streits
Gestritten wird seit mittlerweile acht Jahren. Schon im Oktober 2005 zeigte sich, dass das bundesdeutsche Wahlrecht in der bisherigen Form nicht funktioniert. Zumindest nicht in Dresden. Damals herrschte Wahlkampf verquer. Im Wahlkreis 160 - Dresden I war eine Kandidatin gestorben. Zwei Wochen nach der Bundestagswahl 2005, als die Ergebnisse ansonsten feststanden, wurde deshalb nachgewählt - durch wohlinformierte Wähler.
Denn in den Medien hatte man diesen Dresdnern zuvor vorgerechnet: Wer der CDU Gutes tun will, sollte zusehen, dass sie nicht zu viele Zweitstimmen bekommt. Anscheinend mit Erfolg. In der Wahlnacht berichtete damals Sachsen-Korrespondentin Alexandra Gerlach:
"Der Dresdner Wähler hat - so viel ist klar - sehr taktisch gewählt. Strahlender Sieger an diesem Abend ist die FDP. Mit einer äußerst ungewöhnlichen Zweitstimmenkampagne hatte sie die Wähler dazu aufgerufen, mit der Erststimme CDU und mit der Zweitstimme FDP zu wählen. Das Kalkül ging auf. Die Liberalen errangen in Dresden 16,7 Prozent der Zweitstimmen. Eines der besten Ergebnisse überhaupt."
Mindestens so sehr wie der FDP sollte dieses Stimmensplitting aber wohl der CDU zu Gute kommen. Nicht umsonst lobte ein zufriedenes, damaliges CDU-Präsidiumsmitglied Roland Koch:
"Gratulation zu den Freunden nach Dresden, aber auch Gratulation den Wählerinnen und Wählern. Sie haben in der Tat ungewöhnlich viel von unserem Wahlrecht auch in diesen vierzehn Tagen aufgenommen und genutzt."
Und so funktionierte es tatsächlich: Zum einen hatte die Partei mit den Erststimmen wieder den Direktkandidaten gestellt, so weit, so einfach. Zum Zweiten aber führte gerade die geringere Zweitstimmenzahl der CDU dazu, dass eine ganz andere Politikerin profitierte, für die die Wahl eigentlich schon längst, seit der eigentlichen Wahl zwei Wochen zuvor, gelaufen war. Nach der Wahl bilanzierten die Autoren des Internetauftritts "Wahlrecht.de":
"Somit haben sich die Tipps für die Wähler in Dresden positiv für die CDU-Kandidatin Anette Hübinger (Saarland) ausgewirkt, die letztendlich von der Vermeidung des negativen Stimmgewichts durch taktisches Wählen profitierte."
Alles klar? Der Effekt des sogenannten negativen Stimmgewichts existiert seit den 50er-Jahren. Er ergibt sich aus der Kombination zweier Phänomene: Auf der einen Seite Überhangmandate. Sie können durch das Zwei-Stimmen-System entstehen, das es in Deutschland seit damals gibt. Die Erststimme geht an den Wahlkreiskandidaten, die Zweitstimme an die Partei. Überhangmandate entstehen, wenn eine Partei mit Hilfe der Erststimmen viele Direktmandate erringt - und zwar mehr als ihr an sich Sitze in dem Land nach der Zahl der Zweitstimmen zustehen würden. Wenige Zweitstimmen plus viele Direktmandate ergeben viele Überhangmandate.
Wie das negative Stimmgewicht entsteht
Das zweite Phänomen ist weniger bekannt: Die Landeslisten werden verbunden. Das soll verhindern, dass in jedem Land all die Stimmen unter den Tisch fallen, die kein ganzes Mandat ergeben. An sich eine sinnvolle Sache. Nur: Die Kombination der beiden Effekte führt zum negativen Stimmgewicht.
Denn so gibt es einerseits das Überhangmandat, andererseits bleiben die Zweitstimmen sozusagen ungenutzt übrig und werden dann anderen Listen zugeschlagen. Und können dort wieder neue Mandate ergeben. Beispiel CDU im Wahlkreis Dresden I 2005.
Hier lag die kritische Grenze bei 41.000 Stimmen. Hätte es mehr gegeben, hätte es für ein Dresdner Mandat aus Zweitstimmen gereicht. Es hätte also kein Überhangmandat gegeben. Da die Zweitstimmenzahl geringer war, gab es das Überhangmandat, die fast 41.000 Stimmen blieben übrig und kamen anderen Landeslisten zugute. Es waren Naturwissenschaftler, Mathematiker und Autodidakten des Wahlrechts, die das ungerecht fanden. Einer davon, Martin Fehndrich, hatte schon früher vor dem Bundesverfassungsgericht geklagt. Diesmal hatte er Erfolg.
"Also ein Wahlsystem, das darf vieles. Aber es darf nicht dazu führen, dass die Stimme der Partei, der man die Stimme gegeben hat, schadet."
Verfassungswidrige Gesetze
Der Vorsitzende des Zweiten Verfassungsgerichts-Senats, Andreas Voßkuhle, verkündete im Juli 2007 das Urteil - mit ähnlichem Inhalt:
"Ein Wahlsystem, das in typischen Konstellationen zulässt, dass ein Zuwachs von Stimmen zu Mandatsverlusten führt, oder dass für den Wahlvorschlag einer Partei insgesamt mehr Mandate erzielt werden, wenn auf ihn selbst weniger oder auf einen konkurrierenden Vorschlag mehr Stimmen entfallen, führt zu willkürlichen Ergebnissen und lässt den demokratischen Wettbewerb um Zustimmung bei den Wahlberechtigten widersinnig erscheinen."
Die Folge: Das Gesetz verstieß gegen den Grundsatz der Gleichheit der Wahl und war verfassungswidrig. Allerdings bekam der Gesetzgeber lange Zeit, um auf das Urteil zu reagieren: drei Jahre, so lange, dass 2009 noch einmal nach dem alten Recht ein Bundestag gewählt werden konnte.
Und dann rechneten Mathematiker des Bundestages, externe Sachverständige, Fachleute wie Martin Voigt - und kamen zu keinem Ergebnis. Nicht einmal die Koalitionsfraktionen konnten sich zuerst einigen. Und dann, als ein Kompromiss zwischen CDU, CSU und FDP gefunden war, kam die Koalition nicht mit der Opposition zusammen.
Der Hintergrund: Der Gesetzgeber konnte an zwei möglichen Stellschrauben drehen - den Überhangmandaten und der Verbindung der Landeslisten, die beiden Elemente zusammen führen ja zu dem paradoxen Effekt. Und Schwarz-Gelb entschloss sich dazu, auf die Listenverbindung zu verzichten.
Das wiederum erboste die Opposition. Sie fühlte sich nicht ausreichend eingebunden. Und SPD, Grüne und Linke hatten inhaltliche Bedenken. Denn zum einen, so errechneten nun wiederum ihre Mitarbeiter und auch externe Sachverständige, hatte die Koalition die Sache falsch angepackt, es konnte immer noch zu dem paradoxen Effekt kommen.
Vor allem aber beklagten alle Oppositionsparteien eine vertane Chance: Sie hätten bei der Gelegenheit gern die Überhangmandate beseitigt, nicht nur weil von denen in letzter Zeit nur die Union profitiert hatte. Thomas Oppermann, parlamentarischer Geschäftsführer der SPD-Fraktion:
"Sie geben einigen Wählern ein doppeltes Stimmengewicht. Das steht in Widerspruch zu dem zentralen Versprechen der Demokratie, nämlich: Das gleiche Stimmrecht für alle. Der zweite Punkt: Die Überhangmandate können im Parlament Mehrheiten nach Zweitstimmen umdrehen. Das führt übrigens - das ist mein dritter Punkt - auch zu einer regionalen Ungleichverteilung der Mandate. Und nicht zuletzt wird auch die Chancengleichheit der politischen Parteien beeinträchtigt. Die SPD brauchte bei der letzten Bundestagswahl 68.500 Stimmen für ein Mandat. Die CDU brauchte nur 61.000 Stimmen."
Wie schlagend diese Argumente sind, ist umstritten. Der Streit ist Jahrzehnte alt. Überhangmandate - wir erinnern uns - entstehen dadurch, dass über die Erststimmen so viele Mandate in einem Land an eine Partei gehen, dass sie durch die Zweitstimmen nicht mehr gedeckt sind. In der Vergangenheit hatte davon mal die SPD, mal die CDU profitiert, in letzter Zeit immer mehr die Union.
Zahl der Überhangmandate stieg
Und ganz allgemein stieg die Zahl der Überhangmandate ganz erheblich. Sprunghaft bei der letzten Wahl, mit 24 zusätzlichen Mandaten für CDU und CSU. Ob die Entwicklung so weitergeht, ist offen.
Klar ist allerdings: Je weniger Wähler die Volksparteien erreichen, desto weniger klare Zweitstimmen-Mehrheiten gibt es - und desto wahrscheinlicher werden Überhangmandate. Günter Krings, der stellvertretende Vorsitzende der Unions-Bundestagsfraktion, verteidigte das letzte Gesetz und die Überhangmandate grundsätzlich:
"Wir müssen uns wirklich von dem Gedanken frei machen, dass wir eigentlich nur ein Verhältniswahlrecht haben, mit ein paar Arabesken des direkt gewählten Abgeordneten. Das ist nicht unser Wahlrecht. Wenn Sie einmal die Menschen fragen, werden viele sagen: Also für mich sind Parteien weniger wichtig als Menschen. Und insofern ist das andere Element, das Element der Erststimme, der Direktwahl im Wahlkreis, auch sehr, sehr wichtig."
Falsch, sagte der Parlamentarische Geschäftsführer der Grünen, Volker Beck. Es gebe eine Rangfolge. Nicht der persönlichen Legitimation des Abgeordneten. Doch aber der Wahlsysteme.
"Wir haben ein personalisiertes Verhältniswahlrecht. Also wir haben erst mal ein Verhältniswahlrecht. Und dann ein personalisiertes als Eigenschaft in Form einer besonderen Ausgestaltung. Wenn man das jetzt umkehrt und sagt: Durch den Personalisierungseffekt können wir sogar die Ergebnisse des Verhältniswahlrechtes verzerren, dann wendet sich sozusagen das System gegen sich selbst."
Das sind nicht nur unterschiedliche Auffassungen in der Sache. Noch Ende vergangenen Jahres, als der Streit längst beigelegt war, zeigte Thomas Oppermann mit Vorwürfen gegen die Regierungsfraktionen, wie tief die Gräben einmal gewesen waren:
"Wahlrecht darf nicht als Machtrecht missbraucht werden. Das Wahlrecht ist nicht dazu da, nach den Machterhaltungsbedürfnissen der Mehrheit gestaltet zu werden. Sondern das Wahlrecht ist das vornehmste demokratische Recht der Bürgerinnen und Bürger."
Grüne und SPD klagten - und ernteten die erste Befriedigung schon zu Beginn der mündlichen Verhandlung. Andreas Vosskuhle, inzwischen Präsident des Bundesverfassungsgerichts, rügte scharf, dass zum ersten Mal in der bundesdeutschen Geschichte ein Wahlrecht im Streit erlassen worden war.
Und Monate später, im Juli 2012, verkündete er das Urteil, mit dem der Zweite Senat - gemessen an der förmlichen Sprache der Juristen - den Koalitionsfraktionen das neue Recht förmlich um die Ohren schlug. Das Fazit:
"Trotz einer großzügig bemessenen dreijährigen Frist für den Wahlgesetzgeber, eine verfassungsgemäße Neuregelung zu treffen, ist das Ergebnis, das ist übereinstimmende Auffassung im Senat, ernüchternd."
Wieder hieß es: Verstoß gegen den Grundsatz der Gleichheit der Wahl, Verstoß gegen den Grundsatz der Chancengleichheit der Parteien. Nur: So langmütig wie fünf Jahre zuvor waren die Richter nun nicht mehr.
"Angesichts der Vorgeschichte des neuen Wahlrechts sieht der Senat keine Möglichkeit, den verfassungswidrigen Zustand erneut für eine Übergangszeit zu akzeptieren."
Mit anderen Worten: Die kritisierten Vorschriften waren nicht nur verfassungswidrig, sondern nichtig, Deutschland hatte kein Wahlrecht mehr. Denn, so die Richter:
"Der Grundsatz der Gleichheit der Wahl sichert die vom Demokratieprinzip vorausgesetzte Egalität der Bürgerinnen und Bürger. In ihm manifestiert sich das Ideal gleicher Freiheit und Würde. Auch die Komplexität der Regelungsmaterie vermag eine dauerhafte Relativierung dieses Grundsatzes daher nicht zu rechtfertigen."
Die beiden wesentlichen Gründe: Wieder stimmten die möglichen Berechnungen nicht, immer noch konnte das negative Stimmgewicht auftreten. Wie die Opposition es vorhergesagt hatte, hatte der Gesetzgeber an einigen Stellschrauben zu viel gedreht.
Überhangmandate auf 15 begrenzt
Die andere gleichrangige Kritik dagegen dürfte die Regierungsfraktionen eher überrascht haben. Überhangmandate, so sagten die Richter, darf es geben, aber nicht zu viele. Die Begründung fällt ähnlich aus wie die von Volker Beck: Wenn auch die Sitze im Bundestag über die Erststimmen teilweise an bestimmte Personen vergeben werden, so in etwa die Richter, wenn auch Verzerrungen eintreten mögen durch Überhangmandate, so hat sich doch der Gesetzgeber grundsätzlich für das Verhältniswahlrecht entschieden - also Zuteilung der Sitze proportional nach Erfolg der Partei.
Der Wähler rechne also damit, dass jede Zweitstimme annähernd den gleichen Einfluss haben wird. So logisch das ist - was viele Beobachter verwunderte war, dass sich die Richter dabei auf ihre eigene ständige Rechtsprechung beriefen.
Denn die hatte in der Vergangenheit auch andere Interpretationen zugelassen. Anfangs hatten die Richter die Verzerrungen durch den Überhang hingenommen, dann hatten sie zwar vage gewarnt. Jetzt aber nannten sie plötzlich eine Grenze: 15 Sitze. Eine halbe Fraktionsstärke. Was nicht einmal die Richter selbst erklären konnten, wie Berichterstatter Michael Gerhardt freimütig aus dem Urteil vortrug:
"Der Senat ist sich bewusst, dass die Zahl von 15 Überhangmandaten als Akt richterlicher Normkonkretisierung nicht vollständig begründet werden kann."
Entsprechend patzig reagiert der Hauptautor auf Koalitionsseite, Günter Krings, der Unions-Fraktionsvize.
"Da wurden im laufenden Spiel, wie ich finde, die Tore verschoben."
Wettert Krings.
"Ein Vorgang, der nicht nur im Fußball als nicht besonders freundlich gewertet werden kann."
Die Kritik an der Begrenzung der Überhangmandate teilen nicht alle. Denn auch viele Staatsrechtler waren in der Vergangenheit nicht glücklich mit den Verzerrungen.
Je mehr Veränderungen, desto komplizierter wird es
Eine andere Kritik wird breiter geteilt: Die nämlich, dass das Bundesverfassungsgericht zu krämerhaft an Einzelbestimmungen des Wahlrechts herangehe. Wie eben die Sache mit dem negativen Stimmgewicht. Und je mehr der Gesetzgeber daran herumbasteln müsse, desto komplizierter, unverständlicher und fehleranfälliger werde das Recht.
"Dem Wähler draußen kann ich sagen: Das perfekte Wahlrecht wird es nie geben."
Sagt der FDP-Politiker Stefan Ruppert.
"Jedes Wahlrecht wird gewisse Anomalien haben. Weil es eben so ist, dass in Berlin bei geringerer Wahlbeteiligung hinter einem Mandat weniger Wähler stehen als in einem Gebiet mit höherer Wahlbeteiligung. Also wir werden uns daran gewöhnen müssen, ich glaube das bringt die Demokratie nicht ins Wanken."
Das neue Wahlrecht bietet eine salomonische Lösung
So oder so, das Problem scheint gelöst. Und zwar salomonisch. Wieder wurde im Bundestag gerechnet, aber der Spielraum war dabei eher gering. Und diesmal schafften es CDU, CSU, SPD, FDP und Grüne, sich an einen Tisch zu setzen - anfangs sogar mit der Linksfraktion, was die Union selten zulässt.
Das Ergebnis - verkürzt: Die Mandate werden erst auf die Bundesländer verteilt und dann auf die Parteien. CDU und CSU als stärkste Fraktion machten ein erhebliches Zugeständnis: Die 15 Mandate, die die Verfassungsrichter vorgegeben haben, sind nicht Überhangmandate, sondern nicht ausgeglichene Mandate, also solche, die bis zuletzt das Zweitstimmenergebnis verzerren. Die Regierungsfraktionen gingen folgerichtig mit der Maßgabe in die Verhandlungen, dass andere Fraktionen Ausgleichsmandate bekämen - aber erst ab dem 16. Überhangmandat.
Stattdessen soll nun ab dem ersten Mandat ausgeglichen werden, das nicht durch Zweitstimmen gedeckt ist. Das wiederum hatte die SPD schon lange gewollt. Die Folge: Der nächste Bundestag, der am 22. September zu wählen ist, wird größer werden.
In Anhörungen sprachen Experten davon, dass in Zukunft bis zu 800 Abgeordnete im Plenarsaal des Reichstagesgebäudes Platz nehmen könnten - statt bislang 620. Andere beruhigen: Nimmt man die letzte Wahl als Berechnungsgrundlage, wären es 648.
Das sind immer noch mehr als jetzt, und der Deutsche Bundestag ist im internationalen Vergleich eines der größeren Parlamente.
Nur, sagen Vertreter von Koalition und Opposition einmütig: Groß ist relativ. So auch Jörg van Essen, FDP:
"Wenn man sich mal die Größe von benachbarten Parlamenten anschaut - Frankreich, Italien, Großbritannien haben etwa ein Viertel Einwohner weniger als wir, alle so um 60 Millionen. Das französische Parlament hat 577 Abgeordnete, das italienische Parlament hat 630 Abgeordnete, also 32 Abgeordnete mehr als wir. Alles das macht deutlich, der Bundestag ist eines der kleinsten Parlamente. Ich halte das auch für gut so."
Die nächste Auseinandersetzung zeichnet sich bereits ab: Europäischen Relativierungen zum Trotz - die Grünen warnen vor einem zu großen Parlament, wenn auch nur für die Zukunft, denn jetzt können Wahlkreise nicht mehr verändert werden. Volker
Beck rät:
"Dass wir in der nächsten Wahlperiode im Lichte des Wahlergebnisses daran arbeiten, dass Direktmandate bei ihrer Entstehung reduziert werden. Damit sie nicht ausgeglichen werden müssen."
Sofort widerspricht ein Unionsabgeordneter: Werden Wahlkreise zu groß, geht die Bindung des Bürgers an seinen Abgeordneten verloren. Es wird also weiter gestritten werden. Aber da geht es - übrigens ebenso wie bei der Kritik der Linken, die nicht beim Kompromiss mitgemacht hat - um die Frage, was wohl am sachgerechtesten ist. Es geht nicht mehr um den Vorwurf - zu Recht oder zu Unrecht -, der Stärkere habe sich sein Recht zurechtgeschustert, zulasten der Wählergleichheit. Das ist ein Wert an sich.
Bleibt ein Makel: Für den Wähler verständlich ist die Wahl selbst, nicht aber, wie die Sitze verteilt werden. So ist es eben, sagt der Mitarbeiter Martin Voigt, wenn der Bundeswahlleiter auch damit zurechtkommen soll.
""Das heißt ... "
Sagt er dem Wähler, der sich traut, das Gesetz zur Hand zu nehmen:
"... nach wie vor braucht man ein Glas Cola oder eine Tasse Kaffee und dann muss man mit sehr viel Gehirnschmalz da rangehen und sich dem widmen."