Für jemanden wie Mae Holland muss es sich anfühlen wie eine Gefängnisstrafe: Nach dem College ist sie zwei Jahre lang in einem - Zitat - "tragischen Zementblock" der Strom- und Gaswerke in ihrem Heimatkaff Longfield eingesperrt. Es ist ein zwar solider, aber für eine aufgeweckte Mittzwanzigerin doch reichlich desillusionierender Job. Die Träume spielen in anderen Sphären, in die es ihre Studienfreundin Annie bereits verschlagen hat. Die ist mitten im Zentrum der neuen Weltordnung gelandet, in einem Silicon-Valley-Superunternehmen, das in sich all das vereinigt, was Google, Facebook, Twitter und Amazon heute schon zu gefürchteten Konzernen macht. Der Circle, gegründet von den sogenannten Drei Weisen, ist für junge Internet-Hipster der begehrteste Arbeitsplatz auf Gottes Erdboden. Und Mae, von Freundin Annie protegiert, bekommt beim Circle ihre Chance, darf die Stadtwerkslangeweile hinter sich lassen und in eine goldene Zeit blicken:
"An diesem sonnigen Montag im Juni blieb Mae vor dem Haupteingang stehen, über dem das in Glas geätzte Firmenlogo prangte. Das Unternehmen war noch keine sechs Jahre alt, doch sein Name und Logo - ein Kreis um ein engmaschiges Gitter mit einem kleinen "c" für "Circle" in der Mitte - zählten bereits zu den bekanntesten auf der Welt. Hier auf dem Hauptcampus waren über zehntausend Mitarbeiter beschäftigt, aber der Circle hatte überall auf dem Globus Büros, stellte jede Woche Hunderte begabte junge Köpfe ein und war schon vier Jahre hintereinander zum beliebtesten Unternehmen der Welt gekürt worden."
Fiktiver Firmenalbtraum
Den Circle gibt es nicht, und es gibt ihn doch. Dave Eggers, der in Kalifornien quasi in Sichtweite zu den Tüftlern und Weltherrschern von Palo Alto lebt und arbeitet, hat diesen fiktiven Firmenalbtraum aus dem Geist der bestehenden Konzerne geformt. Er schickt ein naives, aber karrieretüchtiges Mädchen mitten hinein in die himmlische Höhle des Löwen und beobachtet, was passiert, wenn all das umgesetzt wird, was heute technisch bereits möglich ist. Sein neuer, bei Erscheinen in den USA hierzulande stark beachteter Roman spielt in einer verheißungsvollen Zukunft, die nicht weit entfernt ist, und er entwirft das Szenario einer wunderbaren, gespenstischen Neuen Welt. Es ist heutzutage gar nicht so einfach, einen dystopischen Roman zu schreiben.
Das Visionäre scheint uns bereits vertraut
Kaum ist er veröffentlicht, werden die darin gezeichneten Wunsch- und Schreckens-Bilder von der Wirklichkeit bereits übermalt. Eggers' Buch "Der Circle" erschreckt vor allem deshalb, weil uns das Visionäre schon allzu vertraut ist. Und den meisten Usern vermutlich gar nicht bedrohlich anmutet, sondern wie ein Versprechen auf eine bessere, friedliche Zeit erscheint. Mae ist so eine Userin, die zur willigen Vollstreckerin eines Masterplans wird, den sie nicht durchschauen will, weil das ihren Optimismus und Opportunismus sabotieren würde. Anlässe zum Nachdenken gäbe es allerdings genug: Ihre ersten Schritte in der Kundenbetreuung erledigt sie mit stupender Leidenschaft, ganz Kind einer protestantischen Leistungsgesellschaft.
Circle entlarvt sich als Sekte
Jede Aktion wird in ein Punktesystem übersetzt, und Mae schuftet sich gleich an die Spitze des Rankings. Punkte gibt es aber auch für das sogenannte Privatleben: Denn es geht auf dem Campus - so heißt das Firmengelände - ein mehr oder minder sanfter Druck zum Mitmachen aus. Einmal nicht auf einer der inflationär stattfindenden Partys gesichtet, einmal einem Vortrag ferngeblieben, einmal eine Mail, und sei sie noch so banal, nicht beantwortet - schon wird dem asozialen Mitarbeiter mit Psychoformeln ins Gewissen geredet. Der Circle entlarvt sich schnell als Sekte.
Nerds, die an Spezialprojekten arbeiten
Maes Anpassungsfähigkeit spornt das, nach kleineren Irritationen, eher noch an: Sie will dazu gehören, sie möchte die Karriereleiter nach oben klettern, will in den Inner-Circle gelangen; sie spricht mit Bewunderung von ihrem neuen Arbeitgeber. Was beim Circle nicht ins Konzept passt, versteht der einzelne Mitarbeiter als persönliches Fehlverhalten. Nicht offen zu sein, Geheimnisse zu haben oder gar eigene Bedürfnisse gilt als Ausweis der Unwürdigkeit, an der neuen Epoche der Freiheit teilhaben zu dürfen. So findet sich Mae nach nur zwei Wochen nicht nur umgeben von etwa sechs oder sieben Bildschirmen, die sie ständig mit sogenannten Zings, Smiles und Frowns füttern muss, sondern auch von lauter Nerds, die an Spezialprojekten arbeiten.
Francis zum Beispiel - er forscht an einem Chip, der Kindern implantiert werden soll, damit ein für alle Mal Entführungen verhindert werden können. Wenn man immer weiß, wo die Kleinen sind, wird es keine Verbrechen mehr geben, so die bestechende Logik. Man will überhaupt im Circle nur das Beste. Das „elektronische Halsband", mit dem Gilles Deleuze vor etwas mehr als 20 Jahren die Funktionsweise des Neoliberalismus in der Kontrollgesellschaft illustrierte, wirkt dagegen geradezu harmlos. Zwischen Nerd Francis und Novizin Mae bahnt sich etwas an, und ein intimer Moment der beiden wird von Francis heimlich mit einer der überall angebrachten Kameras mitgeschnitten. Mae muss eben erst noch lernen, dass es sich dabei nicht um einen Eingriff in die Privatsphäre handelt.
"'Mae, du weißt, streng genommen gehört das Video keinem von uns beiden mehr. Ich könnte es gar nicht löschen, selbst wenn ich es versuchen würde. Das ist wie mit Nachrichten. Die Nachricht gehört dir nicht, selbst wenn sie über dich berichtet. Geschichte gehört dir nicht. Es ist jetzt Teil der kollektiven Aufzeichnung."
Transparenzzwang soll die Demokratie fördern
Der Imperativ der Transparenz, so der Philosoph Byung-Chul Han, verdächtige alles, was sich nicht der Sichtbarkeit unterwirft. Darin bestehe ihre Gewalt. Eggers' Roman offenbart diesen Terror der Transparenz. Die Ideen der Circler nehmen immer groteskere Formen an - immer mehr Abgeordnete der USA werden freiwillig gläsern, das heißt, jeder Schritt und jede Silbe, die sie äußern, wird von den Viewern verfolgt. Der Transparenzzwang soll die Demokratie fördern. Die naive Gleichsetzung von Transparenz und Wahrheit, die wir auch von Wikileaks oder den Positionen der Piratenpartei kennen, wird bei Eggers einfach konsequent weitergedacht.
"Und oftmals geschah etwas Wunderbares, etwas, das sich wie ausgleichende Gerechtigkeit anfühlte: Jedes Mal, wenn irgendwer wieder lauthals das angebliche Monopol des Circle anprangerte oder die unfaire Geldmacherei mit den persönlichen Daten der Circle-User oder irgendeine andere paranoide und nachweislich falsche Behauptung aufstellte, kam bald darauf ans Licht, dass es sich bei demjenigen um einen Kriminellen oder hochgradig Perversen handelte."
Erinnerungen an George Orwells "1984"
Die Manipulationen fallen natürlich keinem auf, oder doch nur wenigen, die sich außerhalb der herrschenden Ordnung stellen, sich in Wälder zurückzuziehen versuchen wie einst die bibliophilen Dissidenten in Ray Bradburys "Fahrenheit 451". Das allerdings gelingt in einer vollkommen kontrollierten Welt, in der an jedem Baum eine Minikamera angebracht wird, nicht mehr. Eggers Dystopie beginnt harmlos und nähert sich schleichend den Klassikern des Genres an. Die sprachlichen Verschleierungsformeln etwa erinnern an das Neusprech in George Orwells "1984":
„GEHEIMNISSE SIND LÜGEN
TEILEN IST HEILEN
ALLES PRIVATE IST DIEBSTAHL"
Waren es im Zeitalter totalitärer Regime Verbote und nackte Gewalt, die einschüchterten, wird nun mit Offenheit und Freundlichkeitsterror operiert.
"In einer Welt, in der schlechte Entscheidungen keine Option mehr sind, haben wir keine andere Wahl, als gut zu sein."
Protagonisten der digitalen Revolution
Auch Mae wird transparent, und sie ist so gefangen in ihren Überzeugungen, dass sie alle Warnungen überhört. Eggers' Roman ist deshalb so furchteinflößend, weil wir die darin gebrauchten Argumentationen seit Jahren von den Protagonisten der digitalen Revolution kennen, weil wir selbst schon so stark involviert sind, dass wir viele Verheißungen des Digitalen kaum noch konsequent überprüfen. Eggers' fast 600 Seiten starker Roman denkt die freundliche Apokalypse zu Ende.
"Der Circle" ist ein grober Klotz, der den Lauf der Dinge nicht aufhalten wird, über den man aber zumindest stolpern kann. Auch unter literarischen Gesichtspunkten ist dieses Buch eher von gröberer Art: So konzentriert auf die Darstellung einer fatalen Entwicklung, bleiben sämtliche Figuren darin holzschnittartig. Gerade die Dialoge Maes mit den wenigen Bedenkenträgern und Warnern sind pädagogisch zwar wertvoll, aber von einer flugschrifthaften Plumpheit. Subtil kann man auch die Bilder nicht nennen, in denen Eggers das drohende Unheil ankündigt - ein Hai etwa, der alles auffrisst, was ihm vor die Kiemen schwimmt.
Oder eben den Circle selbst, das Bild eines Kreises, der alles einschließt - und jeden ausschließt, der anders denkt. Interessant ist die Wahl der Hauptfigur: Wir erleben die Welt aus der Perspektive einer zunächst neugierig beobachtenden, zunehmend unsympathisch werdenden und ins System verstrickten Frau. Der Leser ist gezwungen, sich aus der Identifikationsversuchung immer wieder zu lösen, aus ihrem Point of View herauszutreten. Umso deutlicher aber wird dann die Verblendung, die Eggers schildert.
"Der Circle" dürfte eine kleine Debatte über die Versprechungen von Internet-Konzernen, Industrie 4.0 und unserer schönen neuen Arbeitswelt anregen. Man könnte vielleicht sogar so weit gehen und sagen, dass die literarische Anspruchslosigkeit, aber starke Suggestionskraft des Romans das Rezept für seine größtmögliche Wirkung sein könnte: Aus der Hand legen kann man den "Circle" jedenfalls nicht, hat man einmal zu lesen begonnen.
Dave Eggers: "Der Circle"
Aus dem Amerikanischen von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann. Verlag Kiepenheuer & Witsch. Köln 2014. 560 Seiten. 22,99 Euro.
Aus dem Amerikanischen von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann. Verlag Kiepenheuer & Witsch. Köln 2014. 560 Seiten. 22,99 Euro.