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Der desillusionierte Marxist

Als junger Mann war er vom Kommunismus begeistert, später wurde er zu einem der prominentesten Dissidenten Osteuropas. Jetzt ist der polnische Philosoph Leszek Kolakowski im Alter von 81 Jahren gestorben. 1977 erhielt er für seine kritischen Studien zum Marxismus den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels.

Martin Sander im Gespräch mit Michael Köhler | 18.07.2009
    Michael Köhler: Bei uns geht es um Geschichten. Der Mythos - er ist nicht von dieser Welt. Deshalb können wir so gut in ihm zu Hause sein. Er steht mit dem Unwahren auf gutem Fuß, er entspringt ihr gern. Menschen brauchen aber Mythen und Geschichten. Der Mythos ist eine Art Einschlaflied für den wachen Menschen, das La-Le-Lu der Geschichte. Es spielt bei uns eine große Rolle heute. "Die Gegenwärtigkeit des Mythos" heißt eines seiner bedeutenden, kleinen Bücher, das andere "Mini-Traktate über Maxi-Themen" oder "Hauptströmungen des Marxismus". Zum Tod des polnischen Philosophen und Essayisten Leszek Kolakowski hier gleich ein Gespräch zu Beginn der Sendung.

    Im Alter von 81 Jahren ist der polnische Philosoph und Essayist Leszek Kolakowski gestorben, er war ein zunächst glühender Befürworter, dann ein kritischer Beobachter, schließlich ein skeptischer Gegner des Marxismus und beharrte auf eine Art Humanisierung des Marxismus sowie der Unabhängigkeit des Denkens.

    Leszek Kolakowski: Diese relative Freiheit von Taktik scheint mir entscheidend, wenn wir eine besondere Stellung der Intellektuellen im politischen Leben zu bestimmen versuchen. Es müssen doch Leute sein, die es versuchen, nicht zu lügen und nicht zu verschweigen, auch für die Sache, die sie sonst als gut, als unterstützungswert betrachten. Die Selbstberufung der Intellektuellen ist, Denkstandarte zu übermitteln und zu verteidigen, die sie als universell gültig betrachten.

    Köhler: Keine Taktiken, sondern Denkstandards. Leszek Kolakowski, die polnische Zeitung "Rzeczpospolita" schreibt sinngemäß zum Tod des 81-jährigen Philosophen und Essayisten: Viele konnten ihm seine Tätigkeit in den Fünfzigern nicht verzeihen, er hatte sich damals rücksichtslos im Kommunismus engagiert. Frage an Kollegen Martin Sander: Wer ist dieser Mann, der so ruhig und leise als Person war, dass er die Gemüter so aufregen konnte? Wer ist er gewesen, wo kommt er her?

    Martin Sander: Er ist einer der bedeutendsten Philosophen der Nachkriegszeit in Polen und er ist zugleich ein politischer Reformer, ein politischer Denker gewesen, der es geschafft hat, mit allen intellektuellen Finessen und viel moralischer Standfestigkeit die Bewegung vom orthodoxen Marxismus stalinistischer Prägung über einen kritischen, rationalen Marxismus hin zu einer vollkommenen Verabschiedung, zu einer freien, skeptischen Philosophie zu finden.

    Köhler: Sie sagen, es hat nämlich den Stalinismus nicht gedeutet als einen Irrweg des Marxismus, sondern als eine logische Folge - und damit hat er sich Feinde gemacht.

    Sander: Es war etwas komplizierter. Es war ja ein langer Weg und er hat seine Position ja immer weiterentwickelt. In den frühen 50er-Jahren war es dieser doktrinäre, stalinistisch geprägte Marxismus, aus der Position heraus hat er dann auch sehr stark und sehr scharf die katholische Philosophie angegriffen, was er später sehr bedauert hat. Dann hatten wir das Jahr 1956 in Polen, das war eine Liberalisierung des politischen Systems. Es bedeutete gewisse Freiheiten, aber nicht sehr weitgehende Freiheiten. Damals kam Vladyslaw Gomulka an die Macht, ein Nationalkommunist, der zwar bestimmte Dinge geduldet hat, die hinter den Stalinisten ja gar nicht gegangen wären, aber auf der anderen Seite den polnischen Kommunismus auch in so ein nationales Fahrwasser gebracht hat.

    Leszek Kolakowski hat 1956 angefangen, nach allen Möglichkeiten zunächst einmal seine früheren Positionen zu befragen, aber noch auf der Basis des Marxismus. Er ist dann immer kritischer geworden, auch deshalb, weil er auch mit seiner Frage - warum kann man nicht offen, warum kann man nicht in Freiheit über den Marxismus diskutieren - natürlich immer mehr angeeckt ist, immer mehr Schwierigkeiten mit dem System bekommen hat, mehr Konflikte. Und seine Liaison überhaupt mit dem Marxismus war dann so ziemlich ans Ende gekommen in den 70er-Jahren mit seinem Buch "Die Hauptströmungen des Marxismus".

    Aber dazwischen liegen ja auch noch wichtige Stationen, 1966 wurde er als Abweichler aus der Kommunistischen Partei ausgeschlossen und dann verlor er 1968 in Warschau seinen Lehrstuhl für Geschichte der Philosophie und sah sich gezwungen zu emigrieren. 1968 gab es eine groß angelegte, antisemitische Kampagne der polnischen Partei, dagegen hat er protestiert und er hat andere protestierende Studenten unterstützt. Und seit 1968 war er im Westen, er hat dann dieses Buch weitergeschrieben und vollendet im Westen, "Die Hauptströmungen des Marxismus", und das ist schon so ein in weiten Teilen neutraler, kritischer Überblick, der unterscheidet zwischen rationalem Marxismus, romantischem Marxismus und prophetischem Marxismus. Das war dann so der Anfang vom Abschied.

    Köhler: Er hat 1977 den Friedenspreis des deutschen Buchhandels erhalten, war bei uns in dieser Zeit sehr populär mit den Büchern, die Sie genannt haben. Ich habe ihn erst sehr spät kennengelernt, quasi so aus der Distanz, und zwar in Warschau oder Wien, als es so um die Transformationsprozesse in Osteuropa ging. Aber da war er eigentlich schon mehr so eine Art Ikone der Freiheitsbestrebungen nach der Wende 1989. Seine große Zeit liegt in den 60ern, 70ern.

    Sander: Richtig, denn er konnte ja nicht nach Polen zurück nach 1968, das hätte die Partei, die allmächtige Partei verboten. Er durfte nicht einmal veröffentlicht werden. Und nun hat er von außen - aus der Emigration heraus - Wesentliches dazu beigesteuert, dass die polnische, innerpolnische, intellektuelle, antikommunistische Opposition überhaupt entstehen konnte. Er war zum Beispiel der Vertreter des Komitees zur Verteidigung der Arbeiter, eine ganz, ganz wichtige Institution. Die ist Ende der 70er-Jahre entstanden und die Idee war, endlich protestierende Arbeiter und kritische Intellektuelle zusammenzubringen. Daraus ist wesentlich dann auch die Solidarność entstanden beziehungsweise das war sozusagen ... Die intellektuellen Leitgedanken der Solidarność stammen aus diesem Corps und waren immer wieder mit dem philosophischen Denken von Leszek Kolakowski verbunden, und man konnte ihn wahrnehmen dann im Untergrund, also in der Untergrundpresse, über ausländische Radiostationen, die man in Polen empfangen hat. Er war sehr, sehr präsent und er war im Ausland aktiv, und das hat man ihm dann nach 1989, nachdem seine Vision einer liberalen Gesellschaftsordnung allmählich Wirklichkeit wurde, dann auch sehr gedankt und dann konnte er eigentlich die Früchte seiner Arbeit sammeln.

    Köhler: Sagt Martin Sander zum Tod des polnischen Philosophen Leszek Kolakowski.