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Der Dokumentarfilm ist freier geworden

Nah dran und bei den Menschen: Darum geht es den Dokumentarfilmern. Sie interessieren sich für die Wirklichkeit, die sich hinter den schnellen Schlagzeilen verbirgt. Das diesjährige Dokfilm-Festival in Leipzig stellte eindrucksvolle Beispiele des Genres vor.

Von Waltraud Tschirner |
    Na klar will man immer wissen, was so einen Filmjahrgang auszeichnet, welche Themen sich durch die Filme ziehen, ob es etwas Besonderes gibt . Grit Lemke, die Leiterin des Dokumentarfilmprogramms hat den Überblick:

    "Das ist in diesem Jahr – kann man wirklich sagen Demokratie, Globalisierung, Arbeitswelt ist ein großes Thema. Aber – was auffällig war in diesem Jahr – dass viele Filme sich mit Jugend und Alter beschäftigen, also dass sozusagen zwei die früher immer Randgruppen im Dokumentarfilm waren, dass die ganz stark in den Fokus rücken."

    Es klingt ja immer ein wenig pathetisch, wenn – wie auch diesmal wieder in der Eröffnungsrede des Leiters Claas Danielsen gesagt wird - Dokfilme informieren uns nicht, sie verändern uns. Das stimmt aber in den besten Fällen tatsächlich, wenn die Filmemacher über entsprechende Tugenden verfügen und natürlich ihr Handwerk können.

    Judith Keil: "Naja man braucht viel Geduld, man braucht viel Beharrlichkeit, man muss an seine Themen glauben. Man muss‘ n großen Idealismus auch mitbringen, weil es ist ein Beruf, der lebt den Idealismus. Man macht den auch nur, wenn man das Gefühl hat, man macht etwas Sinnvolles. Nur dann kann man auch dabei bleiben und wir können unsere Filme auch nur so machen."

    Sagt Judith Keil, die diesmal – wie immer gemeinsam mit Antje Kruska - drei Asylbewerber aus einem Heim in Bad Belzig, Brandenburg, begleitet hat. Die Charaktere und Temperamente der drei männlichen Protagonisten aus dem Iran, Kamerun und dem Jemen sind so unterschiedlich wie ihre Gründe, in Deutschland leben zu wollen.

    Das Problem mit der Sprache führt dazu, dass sie kaum Chancen auf dem Arbeitsmarkt haben, das lange Warten auf die Asylgenehmigung, gepaart mit Sehnsucht nach der Familie daheim , die Angst, das könnte zur Entfremdung führen, lässt einen der drei depressiv werden. Wir sind dabei, wenn er in eine Klinik kommt. Aber man kann auch immer wieder lachen - sei es über Missverständnisse mit den Behörden oder Merkwürdigkeiten und Alltags- Weisheiten dieser Männer.

    Die Vorbereitungen für den Film waren nicht ganz einfach, erzählt Antje Kruska, wobei es vergleichsweise leicht war, in der Welt der Asylbewerber Fuß zu fassen:

    "Das war eigentlich überhaupt kein Problem. Die Welt der Behörden, die ist viel viel schwerer zu betreten für Dokumentarfilmer, denn die machen erstmal die Türen zu. Eine Behörde wie die Ausländerbehörde zum Beispiel, denen ist vollkommen klar, dass sie in dem Punkt letzten Endes nicht gut abschneiden, wenn sie da gefilmt werden. Deshalb haben sie das trotz wirklich großen Einsatzes von allen Seiten nicht zugelasse. Beim Arbeitsamt hat's dann zum Glück geklappt."

    "Land in Sicht" heißt ihr Film, der tiefe Einblicke ermöglicht in diese parallele Welt. Informationen bekommt man heute überall ganz schnell, ein Wisch übers Smartphone, schon ist man im Bilde. Ist man das tatsächlich oder war man wieder einmal auf der Suche nach der schnellen Wahrheit? Das genau könnte den Unterschied ausmachen zwischen Reportagen, Dokumentationen im Fernsehen und guten Dokumentarfilmen.

    Hier geht es um Wahrheiten hinter den Schlagzeilen und den Bildern. Zum Beispiel Winnenden: Der furchtbare Amoklauf des 17-Jährigen im März 2009, der 15 Lehrer und Schüler und am Ende sich selbst tötete. Reflexartig kam danach wieder der Ruf nach Waffenverboten, verständlich aus dieser bedrückenden Ohnmachtssituation heraus. Der Filmemacher Thomas Lauterbach, der ganz aus der Nähe kommt, aus Stuttgart, war in Winnenden:

    "Also man kommt natürlich in jeden Film mit seinen eigenen Vorurteilen, seinen eigenen Gedanken und auch seiner eigenen Haltung an einen Ort. Und dieser Ort macht was mit einem. Und diese Hilflosigkeit, die ich in mir selbst gespürt habe, aber auch in den Menschen gespürt habe, weil kein Mensch - sowohl auf der Waffenseite als auch auf der Elternseite, auf politischer Seite, auf wissenschaftlicher Seite- ist auf so etwas vorbereitet. Jeder muss erst mal einen Weg, einen Umgang damit finden, der ganz individuell ist und ganz unterschiedlich."

    In seinem Film "Das kalte Eisen" stehen sich zwei Seiten gegenüber – die des Aktionsbündnisses zur Verhinderung von Gewalt, gegründet von Eltern, deren Kinder damals erschossen wurden. Sie treten mit guten Argumenten für Waffenverbot und für deren Vernichtung ein. Und dann diejenigen, die weiterhin Waffen besitzen wollen, weil sie zum Beispiel Sportschützen sind oder Jäger. In ihrem Zentrum ein Büchsenmacher, der stolz ist auf seinen Berufsstand, auf sein traditionelles Handwerk und der eben auch gute Argumente dafür vorbringt, dass das Verbot großkalibriger Waffen nichts verbessern würde. Überhaupt wünschte er für die Jugend mehr Verständnis, weniger Verbote. Als Zuschauer geht man am Ende sehr nachdenklich und aufgewühlt aus dem Saal und diskutiert oder grübelt.

    Alles in allem viele gute, unglaubliche, bewegende, witzige Filme – die gesamte thematische Palette und dann noch etwas, das die langjährige Beobachterin und Kennerin der Dokumentarfilmszene Grit Lemke genauso erfreut:

    "Der Zugriff auf künstlerische Formen, der ist viel reicher geworden, also man benutzt Animation, es gibt fiktive Elemente. Es ist auch kein No-Go mehr zu inszenieren im Dokumentarfilm, weil eh jeder Film inszeniert ist. Also das alles ist viel freier geworden und dadurch gibt’s einen unglaublichen Reichtum an Formen, auch im Dokumentarfilm."