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Der Druck wächst

In der Ukraine wird heute der Sieg der Sowjetunion über Nazi-Deutschland gefeiert. Neben blau-gelben ukrainischen Flaggen hängen diesmal auch rote sowjetische Fahnen auf öffentlichen Gebäuden. Das Parlament in Kiew hat beschlossen, dass die sogenannte "Siegesfahne" wieder wehen darf.

Von Roman Goncharenko |
    Wie jedes Jahr am 9. Mai marschieren auf den Straßen ukrainischer Städte Kriegsveteranen zu den Klängen patriotischer sowjetischer Musik. Der "Tag des Sieges" über Hitler-Deutschland ist ein Feiertag aus Sowjetzeiten, der in den letzten Jahren an Bedeutung verloren zu haben schien.

    Diesmal ist es anders. Die grauhaarigen Veteranen werden sich besonders wohl fühlen, wenn an vielen Fassaden öffentlicher Gebäude wieder rote Fahnen hängen. Wie zu Sowjetzeiten. Die Entscheidung des ukrainischen Parlaments, die verstaubten Fahnen wiederaufzurollen, habe viel Symbolkraft, sagt Gerhard Simon, Osteuropa-Experte von der Universität Köln.

    "Die roten Fahnen passen ja zu der neuen Geschichtspolitik der neuen Regierung seit einem Jahr, die ganz wesentlich darin besteht, die historischen Stereotypen aus der Sowjetzeit wieder in den Vordergrund zu stellen und sich Russland anzupassen."

    Ein weiterer Schritt in Richtung Russland also, wie schon viele seit dem Amtsantritt des ukrainischen Präsidenten Viktor Janukowitsch vor gut einem Jahr. Ein möglicher NATO-Beitritt der Ukraine ist vom Tisch, die russische Sprache erlebt eine Renaissance und Firmen aus Russland expandieren auf dem ukrainischen Markt.

    Das prominenteste Beispiel sind jedoch die sogenannten Charkower Verträge. Vor genau einem Jahr hat Janukowitsch mit seinem russischen Kollegen Dmitrij Medwedew im ostukrainischen Charkow vereinbart, dass die russische Schwarzmeerflotte auf der Krim deutlich länger bleiben kann als eigentlich geplant. Als Gegenleistung bekommt die Ukraine russisches Gas um ein Drittel preiswerter.

    Doch die Rechnung ist aus ukrainischer Sicht nicht aufgegangen. Da die Ölpreise auf den Weltmärkten explodieren, ist auch das Gas teuerer geworden. Inzwischen zahlt die Ukraine circa 300 US-Dollar für 1000 Kubikmeter – fast genauso viel wie vor dem Deal mit Russland. Die Regierung in Kiew sieht die Schmerzgrenze für die eigene Industrie erreicht und möchte mit Russland einen neuen Vertrag aushandeln. Premierminister Mykola Asarow:

    "Es ist bekannt, dass der Preis für russisches Gas für die Ukraine höher ist als der europäische Durchschnitt."

    Moskau will an dem gültigen Vertrag zwar festhalten, bietet aber auch einen anderen Deal an. Das Gas könnte für die Ukraine billiger werden, wenn das osteuropäische Land einer Zollunion mit Russland, Weißrussland und Kasachstan beitreten würde. Bei seinem jüngsten Besuch in Kiew hat der russische Premierminister Wladimir Putin für diese Idee geworben. Bis zu neun Milliarden US-Dollar könnte eine Zollunion mit Russland einbringen:

    "Wir haben noch seit Sowjetzeiten enge Verbindungen in der Industrie. Solche Technologieketten können getrennt nicht effektiv sein. Darüber sollten wir nachdenken und einen neuen Atem in die alten Beziehungen einhauchen."

    Kiew hat den russischen Avancen zumindest vorerst eine Absage erteilt. Eine Zollunion mit ehemaligen Sowjetrepubliken passt nicht zu den ukrainischen Plänen, sich stärker an Europa zu binden und irgendwann auch Mitglied der Europäischen Union zu werden. Noch in diesem Jahr möchte die Ukraine ein Assoziierungsabkommen mit der EU abschließen, das unter anderem die Schaffung einer Freihandelszone vorsieht. Genau das möchte Russland verhindern, meint der Osteuropa-Experte Gerhard Simon.

    "Es scheint so, dass jetzt in jüngster Zeit die Annäherung der Ukraine an die Europäische Union Russland ein Dorn im Auge ist. Russland möchte, dass sich die Ukraine nicht näher an die Europäische Union heranrückt als Russland selbst."

    In der letzten Zeit bekommt die Ukraine russischen Druck deutlich zu spüren. Moskau versucht es nicht nur mit Zuckerbrot, sondern auch mit Peitsche. Sollte die Ukraine eine Freihandelszone mit der EU gründen, wäre Russland gezwungen "Gegenmaßnahmen" zu treffen, heißt es aus Moskau.

    Russische Spitzenpolitiker nehmen sich in Kiew immer öfter die Klinke in die Hand: Nach Regierungschef Putin war Präsident Medwedew neulich in der ukrainischen Hauptstadt zu Besuch. Auch die Kirche zeigt mehr Präsenz. Der Patriarch der russischen orthodoxen Kirche Kyrill war am vergangenen Wochenende bereits zum zweiten Mal innerhalb von wenigen Wochen in der Ukraine und betonte die Gemeinsamkeiten von Russen und Ukrainern.

    Dazu gehört in diesen Tagen, dass in der Ukraine nicht mehr vom Zweiten Weltkrieg, sondern wieder vom Großen Vaterländischen Krieg der Sowjetunion gegen Nazi-Deutschland gesprochen wird. Genauso wie in Russland.

    "Das ist das sowjetische Erbe, die sowjetische Nostalgie, bis heute die Unfähigkeit oder die Unwilligkeit, sich wirklich vom sowjetischen System zu trennen und zu sagen, dass war eine Diktatur, die hat uns ins Unglück geführt."

    Solche Positionen seien in der heutigen Ukraine immer noch nicht mehrheitsfähig, sagt Simon. Eine Umfrage hat gezeigt, dass mehr als die Hälfte der Ukrainer rote Sowjetfahnen am 9. Mai für eine gute Idee halten.