Archiv


Der Durchschnittsbürger als Träger der Wende

Vor zwanzig Jahren fiel die Mauer unter den Rufen "Wir sind das Volk" in sich zusammen. Der Historiker Wolfgang Schuller vertritt die These, dass diese Revolution kein Hauptstadt- oder Großstadtphänomen war, sondern auch von der Provinz getragen wurde.

Von Harald Kleinschmid |
    "Ich lege großen Wert darauf, dass diese Revolution in der DDR überall stattgefunden hat, auch in kleinsten Orten, also flächendeckend, wie man sagt, und dass jeder daran beteiligt war. Also ich habe lange überlegt: Wie nennst du das dann im Buch, und bin dann drauf gekommen und habe gesagt: Der Durchschnittsbürger war der Träger der Revolution."

    Das Vorhaben ist aller Ehren wert. Wolfgang Schuller sieht das Besondere der Ereignisse von 1989 in der Tatsache, dass sie im Gegensatz zu den Revolutionen 1848 und 1918 erfolgreich war. Daran waren zahllose, meist unbekannte Menschen beteiligt, ungezählte Gruppen, Komitees, Untersuchungsausschüsse und Runde Tische führten den Wandel herbei, nicht nur in Leipzig und Berlin, den Zentren der medialen Beobachtung, sondern auch im heutigen Mecklenburg und Thüringen, Sachsen und Sachsen-Anhalt.

    Und es ist das Verdienst des Buches, diese vielfältigen Aktivitäten, die oftmals nur in persönliche Aufzeichnungen oder Broschüren mit niedriger Auflage festgehalten sind, aufgespürt, chronologisch geordnet und zusammen gefasst veröffentlicht zu haben. Dabei kommt Schuller zu überraschenden Ergebnissen, zum Beispiel bei der Frage, wo die Staatsmacht zum ersten Mal zurückwich, nachgab, sich auf Gespräche und Verhandlungen mit den Bürgerrechtlern einließ.

    Kaum jemand weiß zum Beispiel, dass schon am 7. Oktober, dem 40. Jahrestag der DDR, im vogtländischen Plauen mindestens 10.000 Menschen mit "Deutschland, Deutschland"- und "Gorbi, Gorbi"-Rufen nach einer Absprache des evangelischen Superintendenten mit dem Oberbürgermeister unbehelligt durch die Straßen zogen. Ein Bericht darüber erschien vier Tage später in der "Frankenpost" im bayerischen Hof. Eine DDR-Rentnerin hatte ihn samt Fotos auf einer Reise in dringenden Familien-Angelegenheiten in die Redaktion gebracht. Zur Kenntnis genommen wurde er kaum.

    Ein anderes Verdienst des Buches besteht darin, die besondere Rolle der Theater bei der geistigen Vorbereitung der Revolution ausführlich darzustellen. Sie taten sich besonders in der Provinz hervor, im damaligen Karl-Marx -Stadt, in Neustrelitz und in Schwerin. Dort hatte schon im Februar 1989 Christoph Schroth Schillers "Wilhelm Tell" inszeniert.

    Von Anfang an stand der Landvogt Gessler auf einem Balkon, der dem des Staatsratsgebäudes in Berlin sehr ähnlich war, und eine Aufschrift verkündete:
    "Grenzgebiet. Betreten verboten." Als es dann im Oktober 1989 ein Gastspiel in der Berliner Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz gab, war es gar nicht anders möglich, als dass ein Vers nach dem anderen Szenenapplaus hervorrief:
    Fort muss er, seine Uhr ist abgelaufen. - Was läuft das Volk zusammen? Treibt sie auseinander! Den kecken Geist der Freiheit will ich beugen. - Reißt die Mauern ein! Wir haben's aufgebaut, wir wissen' s zu zerstören.


    Von dieser Würdigung abgesehen, geht der Autor mit den meisten anderen Intellektuellen der DDR wesentlich kritischer ins Gericht. Das wird besonders deutlich bei der Wertung der großen Demonstration am 4. November auf dem Berliner Alexanderplatz, die übrigens auch von Theaterleuten initiiert war.

    Man darf nicht vergessen, dass die meisten Redner der Kundgebung Intellektuelle waren, die sich auch bei schneidendster Kritik im großen Rahmen der bestehenden Verhältnisse bewegten. Dennoch hätte die Kundgebung epochal wirken können, wenn nicht gleich darauf die Mauer gefallen wäre, und wenn sie, wie die anderen Demonstrationen, einen längeren Atem gehabt und nicht nur einmal stattgefunden hätte.

    Schuller verschweigt bewusst, dass die Kundgebung live vom DDR-Fernsehen übertragen wurde, und er belässt es nicht bei diesem völlig überflüssigen Kommentar. Er sieht viel zu oft nur Schwarz und Weiß, die guten Revolutionäre auf der einen und die verbohrte Staatsmacht auf der anderen Seite. Sehr vieles, was dazwischen lag, beurteilt er abfällig.

    Das mag bei der Initiative "Für unser Land" vom November 89 noch angehen, die Christa Wolf und Stefan Heym ins Leben gerufen haben und auf die sich Egon Krenz und Genossen opportunistisch aufzuschwingen versuchten. Das wird problematisch, wenn er die Bemühungen der Bürgerrechtler um mehr Eigenständigkeit der DDR im Prozess der Wiedervereinigung mit ein paar Nebensätzen als "irrelevant" abtut.

    Ähnliches gilt für die Einordnung der Ereignisse von 1989 im geopolitischen Umfeld. Auch da wird nur das erwähnt, was den engen selbst gewählten Rahmen nicht sprengt.

    "Dass dann zum Beispiel im Dezember (1989) Mitterrand noch schnell einen DDR-Besuch gemacht hat, kommt auch nicht vor. Das hat alles so seine Gründe. Ich habe gewichtet, was ich im Ergebnis, im Verlauf der Sache für wichtig halte. Und dass Frankreich und vor allem Großbritannien nicht dafür waren, kommt auch nicht vor, sie mussten sich der Entwicklung anpassen. Deshalb brauchte ich es nicht zu sagen."

    Um die Größe der Revolution besonders deutlich zu machen, arbeitet Schuller methodisch fragwürdig. Zum einen sieht er die DDR "als sowjetisches Implantat nur bedingt deutsch und vollständig undemokratisch". Zum anderen blendet er bei der Beschreibung der revolutionären Ereignisse die bundesdeutsche Perspektive, die enge Verzahnung und gegenseitige Wechselwirkung beider deutscher Staaten völlig aus.

    Die Rolle der elektronischen Medien, die Verwandtenbesuche, die politischen Beziehungen seit dem Grundlagenvertrag, der massive Einfluss der Westparteien und der bundesdeutschen Wirtschaft auf den Gang der Dinge seit dem Mauerfall: Alles wird, wenn überhaupt, nur marginal erwähnt. Aus seinen unterschwelligen politischen Sympathien macht der Autor keinen Hehl. Willy Brandts Ostpolitik wird zum "Selbstzweck" deklariert, Helmut Kohls Wort von den "blühenden Landschaften" als "emotionaler Überschwang".

    Wolfgang Schuller schildert voller Begeisterung, wie sich im Herbst 1989 die Bürgerrechtler vor unerwartetem Zulauf nicht retten konnten, wie die Kirchen überfüllt waren und wie die Wahlbeteiligung am 18. März 1990 über 90 Prozent betrug. Er zieht in seinem Buch immer wieder Parallelen zur Gegenwart. Die Frage aber , warum von diesem Aufbruch zwanzig Jahre später so gut wie nichts mehr übrig geblieben ist, bleibt unbeantwortet.

    Harald Kleinschmid rezensierte Wolfgang Schuller: "Die deutsche Revolution 1989". Erschienen im Rowohlt-Verlag Berlin, 380 Seiten, Euro