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"Der einzig wahre Realist ist der Visionär"

Mit Filmen wie "La Dolce Vita" oder "La Strada" hat Federico Fellini das europäische Nachkriegskino geprägt. Der italienische Regisseur schuf eine überbordende Fantasiewelt zwischen Traum und Zirkus - voll schöner Frauen, Harlekingestalten und depressiver Verführer.

Von Katja Nicodemus |
    Nicht auszudenken, was das Kino ohne Federico Fellini wäre. Führen wir uns also lieber noch einmal vor Augen, was die Leinwand ihm verdankt: eine überbordende Fantasiewelt zwischen Traum und Zirkus, eine Parade der schönsten Frauen und vollbusigen Mutterdiven, der Harlekingestalten und depressiven Verführer.

    Und natürlich Marcello Mastroianni, der als Fellinis Alter Ego zu melancholischer Verlorenheit und Größe fand. Als einsamer Sensationsreporter in "La Dolce Vita", als alter Verführer in "Stadt der Frauen" oder als ausrangierter Steptänzer, der in "Ginger und Fred" einen letzten Auftritt hat.

    Fellini-Filme sind Traumreisen, Weltreisen und Zeitreisen auf engstem Raum, entlang der Stadtautobahn und der U-Bahnschächte in "Roma", über die Straßen und Plätze von Rimini in "Armarcord" oder durch die von Casanova heimgesuchten Betten im Europa des 18. Jahrhunderts - ein Kinouniversum, nachgebaut im Studio fünf von Cinecittà. Eine Welt, die sich, auch in der sehnsüchtigen Filmmusik von Nino Rota, ihrer Vergänglichkeit stets bewusst ist.

    Fellinis Werk folgt keinem Stil und keinem Trend. Es vereint die Beobachtungsgabe des italienischen Neorealismus mit einer surreal entfesselten Privatmythologie. Es arbeitet sich an Kindheitserinnerungen ab, am italienischen Katholizismus, an der Spannung zwischen Sterblichkeit und Kunstproduktion. Es erzählt aus den Gossen der Gegenwart und aus der Dichtung der Antike - und Fellini selbst scheint der Erste, der immer wieder aufs Neue von seinen Geschichten überrascht wird:

    "Am Anfang weiß ich nie, was für ein Film es werden wird, was der Film von mir will oder fordert. Ich bewege mich wie ein Blinder voran und hoffe, dass das, was mir ganz privat gefällt, auch dem Film nützt. Ich habe also das Gefühl, dass der Film über mich Regie führt und nicht umgekehrt."

    Federico Fellini, am 20. Januar 1920 in Rimini geboren, liebt als Kind den Zirkus. Der Film, mit dem er 1953 weltbekannt wird, handelt von Schaustellern: "La Strada". Er schreibt ihn für Giulietta Masina, seine Frau. Es ist das Märchen vom großen Zampano, der zu spät erkennt, dass er geliebt wurde. Immer wieder wird er Filme über Zampanos machen, über Schausteller, die an der Show zweifeln, die auf der Suche, in der Krise sind. Es sind Filme, die ihre Kunst als Künstlichkeit offenbaren. "Roma" zum Beispiel, der vorgibt eine Reportage zu sein und doch die Reportage einer Reportage ist. In seinem vorletzten Film "E la nave va" zeigte Fellini sogar die Studiomaschinerie, die die Wellen des Meeres imitiert. Es sind Filme über die Illusionsmaschine Kino und über die immer wieder kehrenden Träume und Albträume des Regisseurs, der sie bedient:

    "Ein Künstler, der seine eigene Welt erschafft, wiederholt sich in dieser Welt. Wir werden uns nicht los. Ja, wir entwickeln uns weiter und bleiben dabei doch der Mensch, der wir als Zwölfjähriger oder als 25-Jähriger waren."

    1963 dreht Federico Fellini "Achteinhalb", einen Film über das Filmemachen und die Krise eines Regisseurs. Marcello Mastroianni spielt den Filmemacher, der von einem Filmset in einen Kurort flüchtet. Dort begegnet er allen, denen er eigentlich entkommen wollte: seinem ratlosen Drehbuchautor, seinem hysterischen Produzenten, seiner Geliebten, seiner eifersüchtigen Frau.

    "Achteinhalb" ist ein Spiegellabyrinth, in dem Künstler und Werk nicht mehr voneinander zu unterscheiden sind. Ein Film über das Leben, in dem wir alle - wie Fellinis Hauptfigur - uns immer wieder zurechtfinden müssen zwischen den Sehnsüchten der Kindheit, dem Schlamassel der Gegenwart und der Angst vor dem Tod. Und es bleibt dabei auch: ein ehrlicher und, ja, unschuldiger Film von Federico Fellini über Federico Fellini.

    "Man kann bis zum Lebensende unschuldig sein, wenn man aufrichtig ist. Wenn man in aller Freiheit entsprechend seiner Berufung lebt. Unschuldig zu sein heißt, man selbst zu sein. Ach, wie soll ich das erklären, ich bin ja immer noch unschuldig."

    Am Ende von "Achteinhalb" gibt es eine wehmütige Szene, in der der Regisseur seiner Frau zuflüstert: "Das Leben ist ein Fest, lass' es uns gemeinsam erleben." Federico Fellini hat dieses Fest gemeinsam mit uns erlebt und auf der Leinwand weiterinszeniert. Erst seit Fellini weiß das Leben, wie fellinesk es ist.