Es ist Ende des 19. Jahrhunderts, die Europäer haben den "schwarzen Kontinent" unter sich aufgeteilt. Die Engländer betreiben Farmen in Ostafrika, sie schwärmen für das Hochland von Uganda, aber in die verwinkelten Städte am Indischen Ozean dringen sie nur selten vor.
Dort, in den engen Gassen rund um die Moschee, lebt man im Rhythmus der Rufe des Muezzin: Fünf Mal am Tag zitiert er die Gläubigen zum Gebet. Der Jahresrhythmus wird vorgegeben durch die muslimischen Feste - und durch den Wind: Jedes Jahr, wenn der Mausim weht, kommen die Kaufleute aus Indien auf ihren Segelschiffen. Sie bringen die Schätze ihrer Heimat mit und tauschen sie gegen die Erzeugnisse Afrikas. Nach ein paar Monaten, wenn der Wind sich gedreht hat, segeln sie zurück. Manche Händler bleiben und gründen eine Familie mit einer afrikanischen Frau - aber eines Tages segeln sie doch wieder fort. Andere bleiben für immer.
Auch die Eltern von Hassanali und Rehana waren ein afrikanisch-indisches Paar. Als pflichtbewusster Sohn übernahm Hassanali den Krämerladen, als der Vater starb. Und er ist ein gewissenhafter Muslim:
"Es war nur ein kurzer Spaziergang von seinem Laden über den freien Platz bis zur Moschee, und wenn er sich zum morgendlichen Gebetsruf aufmachte, fühlte er sich verpflichtet, es seinem Vorgänger Sharif Mdogo gleichzutun. Er bog in die nahe gelegenen Gassen ein, schrie im Vorbeigehen mehr oder weniger in die Schlafzimmerfenster und brüllte die Leute aus dem Schlaf. Er hatte sich eine Route zurechtgelegt, mit der er den düsteren Schluchten und Höhlen auswich, in denen die schlimmsten und finstersten Gestalten lauerten und ihre üblen Streiche ausheckten, aber er meinte trotzdem immer, gespenstische Schatten in die dunkelsten Winkel davonhuschen zu sehen, als seien sie auf der Flucht vor den Gebeten und heiligen Worten, mit denen er die schlummernden Gläubigen ermahnte."
Der Tradition gemäß fühlt Hassanali sich verantwortlich für seine Schwester. Deren Mann segelte nach kurzer Ehe zurück nach Indien und kehrte nicht wieder. Rehana versorgt mit ihrer Schwägerin den Haushalt, die beiden verstehen sich gut. Aber Rehana fühlt sich eingeengt in dem Haus mit dem freundlich geweißten Innenhof. Sie fühlt festgenagelt vom Althergebrachten.
Abdulrazak Gurnah zeichnet seine Figuren feinfühlig - und ganz anders als es die im Westen mit Muslimen assoziierten Klischees erwarten lassen. Abendländische Denkschablonen sind ihm vertraut, schließlich lebt er seit bald vierzig Jahren in Großbritannien. Aber Gurnah beschönigt auch nichts. Rehanas Gefühl der Eingeschlossenheit ist greifbar, ebenso - später - ihre Entschlossenheit, sich über Traditionen hinwegzusetzen. Eines Morgens nämlich, beim üblichen Weckrundgang, erschrickt der ängstliche Hassanali noch mehr als sonst, weil er einen grauenhaften Geist zu sehen glaubt. Der erweist sich als Mensch: Ein Europäer, fast tot vor Erschöpfung. Hassanali nimmt den Fremden bei sich auf - damit gerät das mühsam ausbalancierte Gleichgewicht in seinem Haus aus den Fugen.
Martin Pearce, so der Name des Europäers, eröffnet Gurnah den Zugang zu den weißen Kolonialherren. Deren Dasein ist literarisch kein Neuland. Allerdings wurde "Kolonial-Literatur" mit Weltruf meist von weißen Autoren verfasst, "Herz der Finsternis" etwa, oder "Schnee auf dem Kilimandscharo". Der Sansibarer Gurnah lässt auf seine Art den wiedergenesenen Martin mit Frederick, dem obersten Kolonialbeamten seiner Majestät, beim abendlichen Drink auf der Veranda plaudern:
"Na, Pearce, ich meine, Martin, alter Knabe", sagte Frederick leicht betrunken und ein wenig angespannt.... "Was halten Sie denn von all dem? Da sind wir, 1899. Was, meinen Sie, wird das neue Jahrhundert bringen.... Wird dieses Land, von den Eingeborenen gesäubert, in eine Art Amerika verwandelt werden oder werden wir es erleben, dass diese Einfaltspinsel zivilisierte und hart arbeitende Staatsbürger werden? Na los, was hat der werte Herr dazu zu sagen?"
Gespannt verfolgt man Abdulrazak Gurnahs Geschichte aus dem muslimisch-kolonialen Ostafrika - da bricht sie bei knapp der Hälfte des Buches plötzlich ab. Gurnah erzählt sie nämlich "nur", um Jamila einzuführen: Es ist Anfang der Sechzigerjahre, Jamilas Heimat Sansibar steht kurz vor der Unabhängigkeit. Jamila, nach den Maßstäben ihrer Gesellschaft nicht mehr ganz jung und schon einmal verheiratet gewesen, ist die große Liebe von Amin. Aber sie entspricht nicht den herrschenden Vorstellungen von einer Frau - wie einst ihre Großmutter Rehana. Jamila und Amin können sich nur heimlich lieben:
"Amin schlüpfte aus dem Haus, ohne auch nur ein Kräuseln der Luft zu verursachen, dachte er. Er ging nach Hause wie ein anderer, neu geschaffener Mensch, schön und geliebt. So begann es, im Februar dieses Jahres vor der Unabhängigkeit, kurz vor Einsetzen des langen Regens."
Abdulrazak Gurnah schreibt behutsam über die unmögliche Beziehung zwischen Jamila und Amin. Er begibt sich als unsichtbarer Zaungast in Amins Familie und beobachtet deren Umgang mit dem Unerhörten. Die Eltern, rechtschaffene Leute, die in ihrer Jugend selber Grenzen überschritten, als sie studierten, um Lehrer zu werden, exekutieren leise, aber unerbittlich ihre Vorstellungen. Amins Bruder, der quirlige Rashid, will unbedingt nach England und nimmt Amins Qualen nur wie durch einen Nebel wahr. Gesten der Unterstützung erfährt Amin von seiner Schwester Farida, einer - nur scheinbar - unbedarften Schneiderin. Der Aufruhr in Amins Familie spielt sich ab vor dem Hintergrund politischen Aufruhrs auf Sansibar: Eine dogmatisch sozialistische Regierung übernimmt die Macht und veranstaltet einen jahrelangen Alptraum auf der tropischen Insel. Doch auch die neuen Herren können nicht verhindern, dass einige ihrer Untertanen eine alte Tradition fortsetzen: Sie entfliehen der Enge und schaffen neue Verbindungen.
Abdulrazak Gurnah hat einen dichten Roman geschaffen, in dem er das muslimische Ostafrika und seine zweite Heimat England zusammenführt.
Dort, in den engen Gassen rund um die Moschee, lebt man im Rhythmus der Rufe des Muezzin: Fünf Mal am Tag zitiert er die Gläubigen zum Gebet. Der Jahresrhythmus wird vorgegeben durch die muslimischen Feste - und durch den Wind: Jedes Jahr, wenn der Mausim weht, kommen die Kaufleute aus Indien auf ihren Segelschiffen. Sie bringen die Schätze ihrer Heimat mit und tauschen sie gegen die Erzeugnisse Afrikas. Nach ein paar Monaten, wenn der Wind sich gedreht hat, segeln sie zurück. Manche Händler bleiben und gründen eine Familie mit einer afrikanischen Frau - aber eines Tages segeln sie doch wieder fort. Andere bleiben für immer.
Auch die Eltern von Hassanali und Rehana waren ein afrikanisch-indisches Paar. Als pflichtbewusster Sohn übernahm Hassanali den Krämerladen, als der Vater starb. Und er ist ein gewissenhafter Muslim:
"Es war nur ein kurzer Spaziergang von seinem Laden über den freien Platz bis zur Moschee, und wenn er sich zum morgendlichen Gebetsruf aufmachte, fühlte er sich verpflichtet, es seinem Vorgänger Sharif Mdogo gleichzutun. Er bog in die nahe gelegenen Gassen ein, schrie im Vorbeigehen mehr oder weniger in die Schlafzimmerfenster und brüllte die Leute aus dem Schlaf. Er hatte sich eine Route zurechtgelegt, mit der er den düsteren Schluchten und Höhlen auswich, in denen die schlimmsten und finstersten Gestalten lauerten und ihre üblen Streiche ausheckten, aber er meinte trotzdem immer, gespenstische Schatten in die dunkelsten Winkel davonhuschen zu sehen, als seien sie auf der Flucht vor den Gebeten und heiligen Worten, mit denen er die schlummernden Gläubigen ermahnte."
Der Tradition gemäß fühlt Hassanali sich verantwortlich für seine Schwester. Deren Mann segelte nach kurzer Ehe zurück nach Indien und kehrte nicht wieder. Rehana versorgt mit ihrer Schwägerin den Haushalt, die beiden verstehen sich gut. Aber Rehana fühlt sich eingeengt in dem Haus mit dem freundlich geweißten Innenhof. Sie fühlt festgenagelt vom Althergebrachten.
Abdulrazak Gurnah zeichnet seine Figuren feinfühlig - und ganz anders als es die im Westen mit Muslimen assoziierten Klischees erwarten lassen. Abendländische Denkschablonen sind ihm vertraut, schließlich lebt er seit bald vierzig Jahren in Großbritannien. Aber Gurnah beschönigt auch nichts. Rehanas Gefühl der Eingeschlossenheit ist greifbar, ebenso - später - ihre Entschlossenheit, sich über Traditionen hinwegzusetzen. Eines Morgens nämlich, beim üblichen Weckrundgang, erschrickt der ängstliche Hassanali noch mehr als sonst, weil er einen grauenhaften Geist zu sehen glaubt. Der erweist sich als Mensch: Ein Europäer, fast tot vor Erschöpfung. Hassanali nimmt den Fremden bei sich auf - damit gerät das mühsam ausbalancierte Gleichgewicht in seinem Haus aus den Fugen.
Martin Pearce, so der Name des Europäers, eröffnet Gurnah den Zugang zu den weißen Kolonialherren. Deren Dasein ist literarisch kein Neuland. Allerdings wurde "Kolonial-Literatur" mit Weltruf meist von weißen Autoren verfasst, "Herz der Finsternis" etwa, oder "Schnee auf dem Kilimandscharo". Der Sansibarer Gurnah lässt auf seine Art den wiedergenesenen Martin mit Frederick, dem obersten Kolonialbeamten seiner Majestät, beim abendlichen Drink auf der Veranda plaudern:
"Na, Pearce, ich meine, Martin, alter Knabe", sagte Frederick leicht betrunken und ein wenig angespannt.... "Was halten Sie denn von all dem? Da sind wir, 1899. Was, meinen Sie, wird das neue Jahrhundert bringen.... Wird dieses Land, von den Eingeborenen gesäubert, in eine Art Amerika verwandelt werden oder werden wir es erleben, dass diese Einfaltspinsel zivilisierte und hart arbeitende Staatsbürger werden? Na los, was hat der werte Herr dazu zu sagen?"
Gespannt verfolgt man Abdulrazak Gurnahs Geschichte aus dem muslimisch-kolonialen Ostafrika - da bricht sie bei knapp der Hälfte des Buches plötzlich ab. Gurnah erzählt sie nämlich "nur", um Jamila einzuführen: Es ist Anfang der Sechzigerjahre, Jamilas Heimat Sansibar steht kurz vor der Unabhängigkeit. Jamila, nach den Maßstäben ihrer Gesellschaft nicht mehr ganz jung und schon einmal verheiratet gewesen, ist die große Liebe von Amin. Aber sie entspricht nicht den herrschenden Vorstellungen von einer Frau - wie einst ihre Großmutter Rehana. Jamila und Amin können sich nur heimlich lieben:
"Amin schlüpfte aus dem Haus, ohne auch nur ein Kräuseln der Luft zu verursachen, dachte er. Er ging nach Hause wie ein anderer, neu geschaffener Mensch, schön und geliebt. So begann es, im Februar dieses Jahres vor der Unabhängigkeit, kurz vor Einsetzen des langen Regens."
Abdulrazak Gurnah schreibt behutsam über die unmögliche Beziehung zwischen Jamila und Amin. Er begibt sich als unsichtbarer Zaungast in Amins Familie und beobachtet deren Umgang mit dem Unerhörten. Die Eltern, rechtschaffene Leute, die in ihrer Jugend selber Grenzen überschritten, als sie studierten, um Lehrer zu werden, exekutieren leise, aber unerbittlich ihre Vorstellungen. Amins Bruder, der quirlige Rashid, will unbedingt nach England und nimmt Amins Qualen nur wie durch einen Nebel wahr. Gesten der Unterstützung erfährt Amin von seiner Schwester Farida, einer - nur scheinbar - unbedarften Schneiderin. Der Aufruhr in Amins Familie spielt sich ab vor dem Hintergrund politischen Aufruhrs auf Sansibar: Eine dogmatisch sozialistische Regierung übernimmt die Macht und veranstaltet einen jahrelangen Alptraum auf der tropischen Insel. Doch auch die neuen Herren können nicht verhindern, dass einige ihrer Untertanen eine alte Tradition fortsetzen: Sie entfliehen der Enge und schaffen neue Verbindungen.
Abdulrazak Gurnah hat einen dichten Roman geschaffen, in dem er das muslimische Ostafrika und seine zweite Heimat England zusammenführt.