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"Der Entertainer" am Deutschen Schauspielhaus Hamburg
Schmerzhaft und schön wie lange nichts

Von Michael Laages |
    Zehn Jahre nach John Osborne besang Dave Davies von den "Kinks" den Tod des Witzereißers und mit der dann doch noch sehr typisch zerdehnten Marthaler-Version geht ein außergewöhnlicher Abend zu Ende.
    Außergewöhnlich ist diese Inszenierung des Schweizer Regisseurs, weil sie über weite Strecken nicht so sehr aussieht oder sich anhört, als sei sie von Christoph Marthaler. Nicht, dass er sich komplett neu erfinden würde, Mittel und Methoden bleiben vertraut – aber er wendet sie halt an auf ein richtiges Stück, ein starkes noch dazu: "Der Entertainer" von John Osborne erlaubt kein entspanntes Nebenbei und Drüberhin, hier wird abgerechnet. Und zwar ohne Rücksicht auf Verlust – von dem, vom Abhandenkommen aller Verlässlichkeit nämlich, erzählt ohne alle Gnade das Stück selbst.
    Archie Rice, ein Conférencier alter Schule - wie es schon Vater Willy Rice war, wenn auch von noch älterer Schule -, ist längst so was von out, outer geht's gar nicht. Die Witze, mit denen er das verbliebene Publikum in heruntergekommenen "Music-Hall"-Tingeltangelschuppen behelligt, krempeln ab und zu die Fußnägel auf:
    "Da fragt mich neulich mein Arzt: Haben Sie ein Alkohol-Problem? Nein, sag' ich, ohne ist scheiße."
    Die Methode funktioniert auch in politischen Fragen:
    "Kommt 'n Grieche zur Bank und sagt: Ich möchte ein Giros-Konto eröffnen! Sagt die Tusse von der Haspa: Das ist hier bei uns nicht Uso!"
    Manchmal nur versteigt sich der Plattmacher von der Comedyfront noch zu radikaleren Angriffen:
    "Ich wüsste ein paar, die ich einsperren würde – Banker zum Beispiel oder die Waffenschieber, die da im Wirtschaftsteil der FAZ jammern, dass sie Waffen an den IS liefern mussten, um die deutsche Wirtschaft anzukurbeln."
    Nein – mit diesem Archie Rice ist nicht zu spaßen. Obwohl es beruflich ausschließlich darum geht: Um den Spaß, der nicht mehr zu haben ist und nichts mehr einträgt, wie sexistisch und rassistisch auch Archie witzelt. Der Mann befindet sich im freien Fall. Und zu Hause? Da säuft die Gattin still vor sich hin – nein, eigentlich gar nicht still. Der Familien-Opa nörgelt nur, die Tochter - trotz einiger Macken einzig halbwegs zurechnungsfähig - hat sich gerade getrennt und sucht Nestwärme. Sohn Frank ist Archies Roadie und macht schon noch schlimmere Witze als der. So was wie Mario Barth, in etwa.
    Mit großer Energie hat Marthaler dem Stück alles Englische ausgetrieben; Tochter und Sohn gehen zwar auf Demos, aber nicht gegen den Suez-Krieg von 1956. Und Mike, das dritte Kind, stirbt nicht im Armeeeinsatz, sondern nach dem Rausschmiss bei Blackwater, der amerikanischen Söldner-Truppe, die nicht nur im Irak agierte, sondern auch in der Ost-Ukraine tätig sein soll.
    Alles ist von Hier und Heute. Und der ins Nichts stürzenden Familie Rice hat Marthalers Team auch noch eine zweite Varieté-Truppe beigegeben, die Hamburger Prekariat spielt sowie misslingende Show-Nummern und echte englische "Music-Hall"-Songs beisteuert, etwa den vom "Lachenden Polizisten", dem "Laughing Policeman".
    Derweil rechnet Rampensau Archie auch noch mit all dem zeitgenössisch-deutschen Schlager-Mist in der Erbfolge vom "Lachenden Vagabunden" längst vergessener Geschmacksepochen ab. Michael Wittenborn, auch ein grandioser Sänger, schraubt sich empor auf ein ernsthaft atemberaubendes Schmerzlevel zwischen Verachtung, Zynismus und blankem Selbsthass. Irm Hermann und Jean-Pierre Cornu als Frau und Opa Rice, und bei den Parallel-Artisten Bettina Stucky, Rosemarie Hardy und Josef Ostendorf sowie die Truppe der hoffnungslosen Jungen folgen ihm, im schrägen Wirbel von Tanzmäusen und Schlager-Combo und Kirchenorgel:
    "Näher, mein Gott, zu mir."
    Schmerzhaft und schön wie lange nichts ist dieser Abend mit Entertainern - denn Kultur wird beerdigt. Und der Clown ist schon tot.