Hans-Jochen Vogel, geboren am 3. Februar 1926 in Göttingen. Von 1960 bis 1972 Oberbürgermeister in München. Von 1972 bis 1981 zunächst Bundesbauminister, ab 1974 Bundesjustizminister. 1981 regierender Bürgermeister von Berlin. 1983 Kanzlerkandidat der SPD, danach bis 1991 Vorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion. 1987 bis 1991 Bundesvorsitzender der SPD. Mitbegründer der Organisation "Gegen das Vergessen - für Demokratie". Hans-Jochen Vogel lebt heute mit seiner Frau in einem Altenstift in München.
Hans-Jochen Vogel: "Eine sensible Phase in meinem Leben - also, schon."
Die Münchner Jahre
Rainer Burchardt: Herr Doktor Vogel, diese Aufnahme hier machen wir an einer Ihrer Wirkungsstätten von früher, nämlich direkt im Münchner Rathaus. Sie waren hier Oberbürgermeister, 12 Jahre lang. Was für ein Gefühl haben Sie, wenn Sie dieses Haus, heute noch, aus dem Abstand betrachtet, betreten?
Vogel: Eigentlich ein durchaus vertrautes Gefühl. Ich bin ja, seitdem ich im Ruhestand bin und wieder ganz in München lebe, immer wieder einmal hier im Rathaus, manchmal auch, wenn Kuratorien tagen, denen ich angehöre, also nichts, was mich innerlich aufregt oder aufwühlt. Aber es sind ja auch im Wesentlichen gute und erfreuliche Erinnerungen, die dann wach werden. Gerade hier in diesem Zimmer sind wichtige Beratungen geführt worden in Bezug auf die U-Bahn, Olympiavorbereitung, der Ältestenrat hat hier getagt.
Burchardt: Olympia 1972 war sicherlich für Sie eine sehr, sehr wichtige Entscheidung über das Kommunalpolitische hinaus. Die - wie Sie ja auch in Ihren Nachsichten, Ihrer Autobiografie, schreiben - doch eigentlich fröhlichen Olympischen Spiele in München wurden dann durch den Terroranschlag überdeckt. Nachträglich betrachtet: War das vermeidbar und hat der Staat damals, die Bundesrepublik, richtig reagiert?
Vogel: Es war ein Ereignis, mit dem man nicht rechnen musste. Sie haben Recht, es ist dadurch ein dunkler Schatten auf die fröhlichen und weltoffenen Spiele gefallen, die für München ja auch seiner eigenen Entwicklung wegen große Bedeutung hatten. Ich habe immer noch vor Augen die Trauerfeier auf dem Flughafen in Lod an einem Freitag Nachmittag, und bin mit demselben Flugzeug dahin geflogen, an dessen Bord auch die Särge der ermordeten, israelischen Sportler sich befanden. Vermeiden, ja, wer kann schon behaupten, etwas sei unvermeidlich, aber die dafür Zuständigen haben das Sicherheitskonzept mit allen teilnehmenden Staaten erörtert, auch mit Israel, und es sind gegen dieses Sicherheitskonzept keine Bedenken erhoben worden.
Burchardt: Sie sind ja 1972, und das war ja das Jahr, von einer Kommunalpolitik in die Bundespolitik gewechselt. War das für Sie auch mit ein Grund, München zu verlassen und zu sagen, ich mische jetzt doch mehr in der Bundespolitik mit, weil ich hier als Kommunalpolitiker ja auch eine gewisse Frustration jetzt erlebt habe?
Vogel: Ja und nein, also der eigentliche Grund war, dass ich bei den doch sehr ernsten innerparteilichen Auseinandersetzungen damals in München …
Burchardt: Sie galten als Juso-Fresser, wortwörtlich.
Vogel: Ja, das war eine der Bezeichnungen, die mir in jener Zeit mehrfach zugedacht wurden, weil ich eben in jener Zeit eine schwere, innerparteiliche Niederlage erlitten habe, und der Gedanke, ein weiteres Mal zu kandidieren und sechs Jahre zu amtieren mit einer Partei, die ganz offensichtlich mir nicht mehr im Einklang war, das verbot sich. Ich war dann eine zeitlang schon vor der Frage, ob ich nicht überhaupt mein politisches Engagement beende, und in eine Anwaltskanzlei gehe und als Anwalt arbeite. Aber da hat mich Volkmar Gabert, der bayrische Landesvorsitzende, den leider wohl nur noch wenige kennen, und insbesondere Willy Brandt gewarnt und haben mir beide gesagt, ich würde mir eines Tages Vorwürfe machen und wie ein Flüchtling vorkommen, wie einer, der davongelaufen ist. Und sie haben Recht behalten. Nach einigen Wochen habe ich mich dann auch bereit erklärt, eben für den Bundestag zu kandidieren und auch die Nachfolge von Volkmar Gabert als bayrischer Landesvorsitzender der SPD anzutreten. Aber eine sensible Phase in meinem Leben war das schon.
Burchardt: Es gibt ja hier eine Diaspora der SPD, wenn man das so sagen darf, in München Ausgerechnet 1968 bei Ihrer Wiederwahl haben Sie 74 Prozent der Stimmen gehabt. Das muss doch eigentlich eine Ermutigung für Sie gewesen sein, auch in dieser, ja, oberflächlich gesehen, wilden Zeit, eine solch große Zustimmung zu haben.
Vogel: Der Oberlehrer hebt ja den Finger, es war '66, und es waren 78 Prozent, aber das war noch vor diesen Auseinandersetzungen, von denen ich sprach. Die sind eigentlich erst um 1969 herum richtig in Gang gekommen und haben dann an Schärfe zugenommen. Ja, es waren außergewöhnliche Umstände, auch die positive Olympia-Entscheidung des IOC für München ging da voraus, und wir hatten eine Zusammenarbeit zwischen der SPD und der CSU, mein Gegenkandidat war mein Stellvertreter, der aber eigentlich nur für die Fortsetzung unserer Zusammenarbeit angetreten ist. Also, insofern darf man diese 78 Prozent auch nicht überhöhen, aber ich bestreite gar nicht, ich erinnere mich ganz gern, denn eine solche Bestätigung nach sechs Jahren immer noch als relativ junger Mann mit 40 Jahren zu bekommen, das hat schon gut getan.
Burchardt: Und Sie waren ja damals auch einer der Hoffnungsträger, aus der Zeit von Willy Brandt hergeleitet hätte man damals sagen können, Sie seien einer der Enkel von Ollenhauer gewesen.
Vogel: Ja, der Begriff war damals nicht üblich. Für Willy Brandt hat meine erste Wahl 1960 eine gewisse Bedeutung gehabt, denn er hat ja gegen Adenauer dann antreten wollen und auch sollen und war ja auch um Jahrzehnte jünger als Adenauer. Und da war es für ihn hier interessant zu sehen, ob ein bei der Kandidatur 33-Jähriger und bei der Wahl 34-Jähriger eine breite Zustimmung findet. Er hat mir übrigens in dem Wahlkampf auch sehr geholfen, mit einer großen Kundgebung, da hatte ich noch ziemliches Lampenfieber, das erste Mal vor 5000 oder 6000 Menschen in der Bayernhalle. Aber Willy Brandt hat mir dann schon öfters gesagt, dass das für ihn auch wichtig war, für seinen Entschluss, gegen Adenauer anzutreten. Ich glaube, der Altersabstand zwischen Adenauer und ihm war auch 35 oder 38 Jahre, also fast so groß wie der zwischen meinem Vorgänger Thomas Wimmer und mir, und etwas kleiner war der Abstand gegenüber meinem Gegenkandidaten 1960, das war der sogenannte Ochsen-Sepp, an den manche noch eine Erinnerung haben, Doktor Josef Müller, längere Zeit Landesvorsitzender der CSU. Er war Justizminister, wie ich beim bayrischen Justizministerium als junger Mann angefangen habe, und meine Urkunde trägt seine Unterschrift.
Burchardt: Aber eine direkte Konfrontation mit Franz Josef Strauß haben Sie auf der landespolitischen Ebene eigentlich nicht gehabt?
Vogel: Also, Franz Josef Strauß hatte 1960 noch keine zentrale Position bei der CSU. Dann gab es schon Konflikte, etwa, als wir hier das Volksbegehren - Übergang von der Bekenntnisschule, wo die Bekenntnisse noch getrennt waren, zur christlichen Gemeinschaftsschule - initiiert haben, da war er erst ganz am Schluss auch im Ergebnis dafür, und ebenso bei diesem Volksbegehren ‚Rundfunkfreiheit’, das war ein Vorstoß gegen eine stärkere staatliche Beteiligung am Rundfunkrat und am Verwaltungsrat. Also, da gab es schon Auseinandersetzungen, aber sie haben sich eigentlich erst dann verstärkt, als ich in Bonn war und er natürlich auch in Bonn. Ministerpräsident war hier zu meiner Zeit Alfons Goppel, ein Mann, an den ich immer noch mit Respekt zurückdenke, ein Landesvater und einer, der München selbst gegen den Widerstand seiner eigenen Landtagsfraktion - die waren nicht der Meinung, dass München da immer zu Hilfe gekommen werden sollte - sehr unterstützt hat beim Verkehrsausbau, U-Bahn, S-Bahn und dann auch bei den Olympischen Spielen.
Burchardt: Man glaubt es ja kaum, nachträglich betrachtet: Es gab hier mal einen sozialdemokratischen Ministerpräsidenten in Bayern, Wilhelm Hoegner, und in vielen Ihrer Veröffentlichungen, auch in Ihren Reden, Herr Vogel, nehmen Sie immer mal wieder Bezug auf diese Leitfigur, die für Sie persönlich und für Ihre politische Sozialisierung sicher auch eine große Rolle gespielt hat. Sie kommen ja eigentlich aus Göttingen, sind dort geboren, haben auch in München, aber auch in Marburg, studiert, und wenn man so wie heute mit Ihnen hier in der Umgebung des Rathauses geht, da erkennt Sie jeder. Sie werden gegrüßt von allen Seiten, ich behaupte mal, Sie sind noch immer einer der bekanntesten Bayern. Sind Sie Bayer?
Vogel: Ja, selbstverständlich bin ich das. Das ist ein Punkt, wo ich immer sehr entschieden mich geäußert habe. Es ist wahr, ich bin in Göttingen geboren, das hängt mit beruflichen Gründen meines Vaters zusammen, aber meine Eltern, meine Großeltern, meine Urgroßeltern, das sind alles Münchener und Bayern, und ich kann sogar eine der Ahnenprobe besonderer Art ablegen, von meinen acht Urgroßeltern liegen sechs auf Münchener Friedhöfen. Ich habe dann immer gesagt, dass, wenn ein Pferd im Kuhstall geboren wird, es kein Ochse ist, sondern auch ein Pferd, und das wurde akzeptiert, denn bei meinem ersten Wahlkampf gab es schon so ein Flüstergeraune, das ist ja gar kein Bayer, sondern der kommt von dort droben, und was damals manchmal noch schlimmer war, das ist ein Flüchtling. Und das konnte ich aber nun eindeutig klären und widerlegen. Ein doppelter Urgroßvater von mir war kurze Zeit bayrischer Innenminister bei Ludwig I. und musste dann gehen, weil er mit der Lola Montez nicht einverstanden war, und so weiter, und so fort.
Vogel: "Was mich so sehr beeindruckt hat, das war eben gerade auch die Person von Kurt Schumacher."
Der Sozialdemokrat
Burchardt: Zu Ihrer Familiengeschichte gehört auch, dass Sie einen Bruder, Bernhard, haben, der auch eine politische Karriere in Deutschland hinter sich hat, allerdings für die CDU. Wie war es denn eigentlich damals, in einer Familie gewissermaßen mit zwei politischen Richtungen aufzuwachsen?
Vogel: Zunächst einmal, die Familie war, was die Mutter angeht, eine bürgerliche Familie aus dem bayrischen, aus dem Münchener Beamtenmilieu. Der Vater ist im Oktober 1932 der NSDAP beigetreten, hat sich aber schon 36 ganz von allen politischen Aktivitäten zurückgezogen und hat die frühe Begeisterung, die zu seinem Beitritt geführt hat - Massenarbeitslosigkeit, Versailles war wohl für ihn ein Grund - als Irrtum seines Lebens dann später sehr selbstkritisch betrachtet. Auf unsere politische Sozialisation haben die Eltern keinen Einfluss genommen, wir haben beide gefühlt und gemeint, es genügt nicht, wenn man sich nur um sein eigenes Fortkommen kümmert. Das war ja damals in den unmittelbaren Nachkriegsjahren schon eine Aufgabe für sich, sondern man muss sich auch für das Gemeinwesen engagieren.
Burchardt: Aber haben Sie dann eine Münze geworfen, du gehst jetzt in die CDU, ich gehe in die SPD, oder wie ist das gelaufen?
Vogel: Nein, dies ist der Punkt, wo wir gemeinsam gefühlt haben, man muss sich fürs Gemeinwesen engagieren. Ich habe mir die Parteien angeguckt und habe die programmatischen Äußerungen gelesen, und bin zum Ergebnis gekommen, am nächsten steht mir die SPD. Und da haben Männer wie Kurt Schumacher, wie Wilhelm Hoegner, Waldemar von Knoeringen eine Rolle gespielt. Der Bernd ist sieben Jahre jünger und da wächst man schon in einer gewissen natürlichen Opposition zu dem Älteren auf. Er hat in Heidelberg studiert und kam in einen Kreis um Dolf Sternberger und andere, und ist dann dort aufgefordert worden, für die CSU - nein, Entschuldigung, CDU - für den Heidelberger Stadtrat zu kandidieren. Und dann haben sich die Wege so ergeben. Wir haben immer ein sehr anständiges, gutes, brüderliches Verhältnis gehabt, obwohl wir ganz unterschiedliche Meinungen in vielen Fragen hatten, aber, Herr Burchardt, wir hatten den Vorteil, dass wir nie im gleichen Gremium waren. Wir waren nie zusammen im Bundestag, ich war hier Bürgermeister, er war im Heidelberger Stadtrat, er war dann Minister und Ministerpräsident in Rheinland-Pfalz. Ein halbes Jahr, wie ich regierender Bürgermeister in Berlin war - das ist ja gleichzeitig der Status des Ministerpräsidenten -, da waren wir mal im Bundesrat beieinander, das wäre dann schwierig geworden.
Burchardt: Aber Kain und Abel waren Sie nicht.
Vogel: Nein, um Gottes Willen. Wir leben ja auch beide noch.
Burchardt: In der Zeit gab es ja nun bei der CDU auch das sogenannte Ahlener Programm, wäre das für Sie nicht auch attraktiv gewesen, wenn man mal jetzt vom Ideologischen hergeht? Damals stand unter anderem so Spannendes drin wie die Überwindung des Kapitalismus.
Vogel: Ja, ja, das war die Zeit, wo dort Walter Dirks Einfluss hatte, auch Jakob Kaiser in Berlin. Aber was mich so sehr beeindruckt hat, das war eben gerade auch die Person von Kurt Schumacher. Ich habe ihn einmal erlebt, in Rosenheim, im Juni 1949 auf dem Marktplatz, wissen Sie, dieses scharfe Profil, diese Glaubwürdigkeit nach zehn Jahren KZ, der Arm im Krieg, im ersten Weltkrieg, verloren, der Unterschenkel amputiert, das war, glaube ich, dann mit der entscheidende Anlass, in die SPD zu gehen. Ich habe mich auch mit der Geschichte der Partei beschäftigt, ihren Anfängen, Mitte des 19. Jahrhunderts, und, nein, also, die Versuchung, hier in Bayern zur CSU zu gehen, war nicht sehr stark, obwohl es auch dort honorige Leute gab.
Vogel: "Es ging darum, die Mauer durchlässiger zu machen, es ging darum, den Frieden in Mitteleuropa zu bewahren."
Mauertrauma und Ostpolitik
Burchardt: Wie haben Sie den Mauerbau damals erlebt und wie war Ihre Position damals? Wie war denn das Verhältnis zur CDU? Adenauer hat ja sich doch eine Menge Zeit gelassen, ehe er dann nach Berlin kam, die Amerikaner ebenfalls, haben nur Lyndon B. Johnson geschickt..
Vogel: Ich habe daran sehr konkrete Erinnerungen Also, der Flüchtlingsstrom aus der DDR, der sich ja nur noch über Ost- und Westberlin bewegen konnte, der schwoll an. Ulbricht hatte zwar gesagt, es wird nie eine Mauer oder eine Absperrung geben, aber dann kam eben am 13. August diese Meldung und die ersten Bilder auch. Es gab hier eine Solidaritätskundgebung, auf der ich gesprochen habe, und ich bin am 18. August ’61 nach Berlin gereist, um die Solidaritätsgrüße der Münchener zu überbringen. Ich habe Willy Brandt getroffen, sogar in seiner Privatwohnung, weil er die Rede für den Bundestag am nächsten Tag vorbereitete, und bin dann - das muss man immer erst näher erklären - mit einem sozialdemokratischen Abgeordneten, der noch Ostberliner Bürger war, aber im Westen vom Abgeordnetenhaus - es gab keine Bundestagswahl im eigentlichen Sinn - gewählt worden war, war ich dann in Ostberlin, einige Stunden, bin noch auf Sozialdemokraten gestoßen vom Kreisverband Friedrichshain, die ziemlich verschreckt in einem Hinterzimmer beieinandersaßen, denn die Partei existierte legal noch bis da in Ostberlin. Und dann waren wir auf der Straße unterwegs, es war ein merkwürdige, angespannte Ruhe, dann kamen zwei Leute und sagten, sie kämen im Auftrag des Ostberliner Oberbürgermeisters Friedrich Ebert, also, der Sohn vom Reichspräsidenten, und wir sollten doch bitte ins Rathaus kommen und uns erläutern lassen, warum diese Maßnahme notwendig sei. Das haben wir abgelehnt und haben uns dann rasch wieder nach Westberlin zurückbegeben.
Burchardt: Haben Sie es bedauert, dass das eine verpasste Chance war?
Vogel: Ich habe es nicht bedauert, denn es wäre medial als Unterstützung ausgelegt worden, dass der Münchener Oberbürgermeister und ein SPD-Bundestagsabgeordneter sich fünf Tage danach beim Oberbürgermeister von Ostberlin einfinden. Wir hätten ja gar keine Möglichkeit gehabt, auf das einzuwirken, was dann davon mitgeteilt wird.
Burchardt: Aber in Ihrem weiteren Lebensweg haben Sie ja durchaus auch sehr konstruktiv zur Überwindung der Mauer beigetragen, durch Zusammenarbeit, mehr im Hinterzimmer, oder sagen wir inoffiziell genauer als offiziell, durch den sogenannten Freikauf von Häftlingen aus der DDR, mit Ihrem Namensvetter, dem Rechtsanwalt Vogel, mit dem Sie ja wohl auch eine persönliche Freundschaft verbunden hat, den Eindruck musste man jedenfalls haben. War das auch schon so ein Stückchen an der Mauer jetzt zu knacken und doch, ja, ein Stück in Richtung Einheit?
Vogel: Sie haben in dem Zusammenhang des Mauerbaus noch Willy Brandt und Adenauer erwähnt. Für Willy Brandt waren die Erfahrungen dieser Tage und Wochen, dass die Vereinigten Staaten über die Position "Wir halten an Westberlin fest" nicht hinausgingen, mit Anstoß für die Ostpolitik, die er mit Egon Bahr zusammen dann entwickelt hat. Adenauer hatte da wirklich ein unverständliches Verhalten, er hat noch nach dem Mauerbau in Regensburg auf einer Wahlversammlung Willy Brandt als Herbert Frahm angesprochen, auch auf seine uneheliche Geburt angedeutet, das war alles sehr unerfreulich. Ja, ich habe natürlich auch einige Jahre gebraucht, bis ich verstanden habe, dass nach der Westintegration nun die Ostpolitik Willy Brandts uns weiterführen, den Frieden in Europa sichern, und in weiter Ferne eben auch wieder zur deutschen Einheit führen kann. Und in meinen verschiedenen Funktionen habe ich versucht, mit meinen Mitteln diese Politik fortzusetzen. Und in diese Zeit fällt übrigens auch als ich Parteivorsitzender war, der Papierstreit der Ideologien …
Burchardt: Mit der SED.
Vogel: … gemeinsame Sicherheit, mit der SED. Und das, was mir doch sehr gegenwärtig war, durch diese Kontakte und diese Gespräche, war die Gefahr für die SED, dass sich dort eine Ansteckung an die Demokratie ergab, stärker als die umgekehrte Gefahr, dass durch diese Kontakte sich bei uns eine Infektion durch den SED-Kommunismus ergeben hätte. Ich habe mich dann, vor allen Dingen, weil ich ja ’83 Berliner Bundestagsabgeordneter war, in meinem Bürgerbüro um Tausende von Fällen bemüht, in denen es um Haftentlassung in der DDR, Familienzusammenführung und so weiter ging. Ich habe immer auf einem jährlichen - ja, einmal jährlich - Treffen mit Honecker am Hubertusstock eine solche Liste mitgebracht. Ja, es ging darum, die Mauer durchlässiger zu machen, es ging darum, den Frieden in Mitteleuropa zu bewahren. Dass damals ja doch immer irgendwo im Kopf auch die Gefahr eines Atomkrieges eine Rolle spielte, das ist der heutigen Generation schwer zu vermitteln.
Burchardt: Das ist gar nicht lange her und kaum noch vorstellbar.
Vogel: Und dann kam die Entwicklung, auf die wir ja wohl noch zu sprechen kommen, in einem Tempo, das niemand erwartet hat.
Burchardt: Eine Episode Ihres Lebens, Herr Doktor Vogel, war ja auch die Zeit als regierender Bürgermeister. Sie haben dann die Wahl gegen Richard von Weizsäcker anschließend verloren, ein gutes halbes Jahr war es nur. Haben Sie aus dieser Zeit auch etwas mitgenommen für Ihre spätere Tätigkeit, was deutsch-deutsche Politik bedeutet?
Vogel: Ja, es war damals diese kritische Situation der Stadt, aber insbesondere auch meiner Partei, Dietrich Stobbe trat zurück, weil seine Personalvorschläge keine Mehrheit mehr fanden. Es war kein großer Andrang von denen, die damals nach Berlin gehen wollten, genauer gesagt, ich war der Einzige, der dann gesagt hat, ‚hic rodus, hic salta’, denn wir haben ja immer von den Schwestern und Brüdern in Berlin geredet und so weiter. Ein halbes Jahr, die Lage der Stadt war durch die Ausbesetzung gekennzeichnet, ich habe da eine Menge gelernt, auch in Bezug auf das deutsch-deutsche Verhältnis. Es ist ein Unterschied, ob Sie all das an Ort und Stelle erleben oder weitab in Bonn. Ich habe übrigens damals auch gemerkt mit meiner Frau, dass wir uns in weiten Teilen Europas viel besser auskannten als in der DDR. Wir sind dann als Privatleute - das ging, mit Westberliner Ausweis - ganz planmäßig in einen DDR-Bezirk nach dem anderen gereist, haben dann meistens dort mit evangelischen Pastoren gesprochen und da habe ich also dann erst Mecklenburg und Vorpommern und Thüringen und Sachsen und auch Magdeburger Gegend, Brandenburg, kennengelernt.
Burchardt: Das war ja so Anfang der 80er Jahre. War da schon spürbar, dass in spätestens sechs, sieben Jahren da was richtig Dickes passiert?
Vogel: Nein, nein. Die Zahl derer, die das alles vorausgesehen haben, hat ’89 dann sprunghaft zugenommen, aber die Frage kann ich nur mit einem Nein beantworten. Es war die Hoffnung, das war ja dann schon der Anfang, auch von Gorbatschow, dass sich Reformentwicklungen auch in der DDR abspielen würden und dass eben die Mauer immer mehr an Bedeutung verliert, und dass ist nicht nur ein Neben-, sondern auch ein Miteinander geben würde. Aber das Tempo, in dem das dann alles zur Implosion des Sowjetsystems und letzten Endes zur deutschen Einheit geführt hat, das hat wohl kaum einer vorausgesehen. Selbst ’89 gibt es noch von Strauß und Kohl aber auch von anderen Äußerungen, die erkennen lassen, dass sie es auch noch in weiter Ferne gesehen haben. Strauß hat ja immer davon gesprochen, wenn es ein zweites Österreich gibt in der DDR, Verhältnisse wie in Österreich, dann sei die Notwendigkeit, einen Nationalstaat wieder zu bilden, gar nicht gegeben.
Vogel: "Ich wollte ja auch der Partei ersparen, dass man nun wochenlang jemanden sucht, das macht ja einen ganz peinlichen Eindruck."
Der ewige Kandidat
Burchardt: Herr Vogel, Sie haben eben was ganz Interessantes gesagt, es hat sich damals niemand gedrängt, nach Berlin zu gehen. Sie waren quasi als Parteisoldat dann angetreten, auch in einer möglicherweise absehbar schwierigen Situation. Sie sind dann 1983 Kanzlerkandidat geworden. Auch da hat sich, das war ja nun gerade nach dem Regierungswechsel, niemand so richtig gedrängelt.
Vogel: Hat sich niemand gedrängelt, nein.
Burchardt: Und 1987, als es um den SPD-Vorsitz ging, ich kann mich noch sehr gut erinnern an die Tagung in Norderstedt, wo ja eigentlich schon Oskar Lafontaine als Parteivorsitzender gehandelt wurde, und Hans-Jochen Vogel wurde es dann. Können Sie resümieren, nachträglich sagen, ja, Sie sind dann immer derjenige gewesen, der die Dreckarbeit gemacht hat?
Vogel: Dreckarbeit würde ich nicht sagen.
Burchardt: Die Kärrnerarbeit, um mit Herbert Wehner zu sprechen, vielleicht?
Vogel: Eher das, ja, ja. Also, 1982, Helmut Schmidt war gefragt worden, aber hat aus wirklich einleuchtenden Gründen gesagt, er kann jetzt nicht kandidieren, Doppelbeschluss und so weiter. Johannes Rau war aus verständlichen Gründen ganz auf Nordrhein-Westfalen konzentriert und dann kam halt die Frage an mich, und ich wollte ja auch der Partei ersparen, dass man nun wochenlang jemanden sucht, das macht ja einen ganz peinlichen Eindruck, nicht? Na ja, und dann kam die Wahl. Übrigens, es waren beides Niederlagen, Berlin und auch da. Berlin, würde ich mal sagen, gegen Weizsäcker eine Wahl zu verlieren, ist keine Schande, aber es waren 38,3 Prozent, und bei der Bundestagswahl auch. Heute wären beide Volksparteien froh, wenn sie 38,3 Prozent hätten, nicht? Damals ging man mit 38,3 in die Opposition in Berlin, heute kann man mit knapp 30 regieren. So ist Demokratie, in Ordnung. Ja, und ’87, da hatte Willy - und ich war ja damit auch d’accord, Johannes Rau, und mit mir hat er darüber gesprochen - die Meinung, man könnte jetzt eine Generation weitergehen. Ich bin ja, vergleichbar mit Willy Brandt, eine ganz andere Generation. Willy Brandt und ich sind 13 Jahre auseinander, Helmut Schmidt und ich sind acht Jahre auseinander, und er hatte die Meinung, das soll der Oskar Lafontaine machen, der Saarländer. Und der hat das in Norderstedt abgelehnt! Der hat aus Gründen, die ich im einzelnen nicht kenne, aber wo er sicher auch private Gründe hatte, hat er gesagt, nein, macht er nicht. Na gut, er hat ja dann 1990 ein zweites Mal Nein gesagt, da war es wieder so, es darf doch nicht sein, dass jetzt, nachdem diese unglückselige Geschichte mit der Pressesprecherin gelaufen war, dass die Partei sagt, ja, um Gottes Willen, wer macht das jetzt? Und da ich Fraktionsvorsitzender war und dadurch auch einen gewissen Rückhalt in der Partei hatte, hat der Willy dann gesagt, also gut, wenn der nicht will …
Burchardt: Da Sie das Stichwort Fraktionsvorsitzender anbringen, drängt sich ja die Frage auf, auch bei einer nachträglichen Bewertung: Sie haben seinerzeit ja doch immer verlautbaren lassen, es sei gut, wenn beide Ämter in einer Hand sind. Bei Willy Brandt ist das nicht der Fall gewesen. Würden Sie heute auch noch sagen, das war richtig, dass ich das in der Zeit, als ich Parteivorsitzender war, dann eben auch als Fraktionsvorsitzender die Führungsrolle hatte?
Vogel: Ja, Herr Burchardt, das hängt wirklich ganz von den Zeitumständen ab. Ich habe also nie eine generelle Theorie vertreten, dass der Fraktions- und der Parteivorsitzende in der Opposition oder der Kanzler und der Parteivorsitzende, wenn man in der Regierung ist, in einer Hand liegen müssen. Das war in der SPD auch durchaus unterschiedlich. Kommt auf die Umstände, kommt auf die Personen an, und für diese, ja, von ’87 bis ’91, war es wohl vernünftig, würde ich heute sagen. Es war immerhin, was man auch leicht vergisst, eine Zeit, in der wir vier Bundesländer gewonnen haben, neu, eine Mehrheit sich dann sogar im Bundesrat ergab, auch für Sozialdemokraten keine Selbstverständlichkeit, aber das war die Konstellation.
Vogel: "Jetzt müssen wir unsere Programmatik ein bisschen wieder konkreter und fester gestalten."
Ein ökonomisches Godesberg?
Burchardt: In dem Moment, als Sie den Parteivorsitz abgegeben haben Anfang der 90er Jahre an Björn Engholm, da trat doch eigentlich von da an eine gewisse Kurzatmigkeit der Parteivorsitzenden bis auf den heutigen Tag in der SPD ein. Man kann ja auch mal fragen: Hat das möglicherweise auch was damit zu tun, dass es einfach eine programmatische Orientierungssuche gegeben hat in dieser ganzen Zeit, die sich dann eben auch personell so ausgewirkt hat, weil nach der Einheit und durch natürlich auch die Ökonomisierung des öffentlichen Lebens, wie man immer so schön sagt - mit anderen Worten durch die schwierigere soziale Lage in Deutschland -, die Sozialdemokraten auf eine Art und Weise herausgefordert haben, die ihre eigene Identität in Frage gestellt hat?
Vogel: Dazu zwei Bemerkungen. Zuerst: Ich habe deswegen im Jahr ’91 gesagt, wir sollten jetzt einen neuen Parteivorsitzenden wählen, weil durch die Situation mit Lafontaine, wo ich ja erklärt habe, er soll das jetzt nach der Wahl machen und er hat es abgelehnt, schon der Eindruck, mit Recht, entstanden war, ich würde mit meinen 65 Jahren jetzt meinen: Weitergabe. Und da hat man sich aus guten Gründen auf den Björn Engholm verständigt. Die folgenden Wechsel müsste man alle einzeln anschauen, die kann man nicht über einen Kamm schlagen. Jetzt die zweite Bemerkung zu Ihrer These: Das hat eine Rolle gespielt ab 1998. Regierungsübernahme, und dann die allmählich näherrückende und dann vollzogene Notwendigkeit, dass man auf die völlig veränderten Realitäten mit Reformaktivitäten antwortet, die der SPD nicht leicht zu vermitteln waren und auch zu Mitgliederverlusten und Landtagswahlverlusten geführt haben. Das ist richtig. Ich meine, der Übergang zum Beispiel von Schröder auf Müntefering ist damit zu erklären, der Rücktritt von Müntefering war die Folge einer emotionalen Explosion im Vorstand im Jahre 2005, die rational wirklich nicht zu verstehen war. Platzek in allen Ehren, gesundheitliche Gründe, die er ja auch offen dargelegt hat, die muss man akzeptieren. Aber jetzt, und da haben Sie recht, müssen wir unsere Programmatik ein bisschen wieder konkreter und fester gestalten, dass wir nicht in den Verdacht der Kurzatmigkeit und der Beliebigkeit kommen - nicht nur Kurzatmigkeit, was die Amtszeiten angeht, sondern Kurzatmigkeit auch, was die programmatischen Aussagen angeht.
Burchardt: Herr Doktor Vogel, das ist die aktuelle Programmatik, ich würde aber trotzdem noch mal gern zurückkommen auf eine Phase, die Sie vorhin kurz angerissen haben, nämlich auf die Ostpolitik, die ja sicherlich für die SPD identitätsstiftend ohne Ende gewesen ist in der damaligen Zeit. Wie haben Sie selber dieses eigentlich erlebt? Denn Sie haben ja auch angesprochen, dieses Streitpapier mit der SED, war das nicht ein ständiges Jonglieren zwischen der Symbolik des Kniefalls von Willy Brandt in Warschau auf der einen Seite und auf der anderen Seite, na ja, die Sozis, irgendwie sind sie ja dann doch wieder unzuverlässig, vaterlandslose Gesellen, auch solche Begriffe kamen ja wieder hoch, Herbert Wehner und seine Moskauzeit wurden wieder angesprochen. Ist das nicht damals eine für die SPD ebenso schwierige Zeit gewesen, wenngleich sie ja letztendlich heute unter dem Strich als sehr positiv gewertet wird?
Vogel: Sicher gab es diese Spannungen und es gab auch Attacken aus dem Bereich der Union, wobei ich insbesondere an die CSU denke und an Franz Josef Strauß, den man nur als im hohen Maße bedenklich bezeichnen kann. Aber so wie die Westintegration Adenauers wichtig war und erfolgreich - Adenauer hatte ja ’57 sein bestes Wahlergebnis -, so war auch dann die darauf aufbauende Ostpolitik Willy Brandts für unsere weitere Entwicklung von elementarer Bedeutung, und sie war erfolgreich. 1972 44,5 Prozent, das einzige Mal stärkste Fraktion im Bundestag, also, die Mehrheit der Menschen hat das alles akzeptiert und durchaus bejaht, und es gab ja auch einen Mitgliederzuwachs, die berühmten …
Burchardt: Willy-Wähler, ja.
Vogel: Willy-Wähler. Übrigens, zu all dem hat Herbert Wehner auch einen großen Beitrag geleistet. Also, es waren zwei Abschnitte unserer deutschen Geschichte, die aber insgesamt durchaus unter dem Stichwort Erfolg rubriziert werden können. Insofern vergleiche ich es nicht ganz mit den heutigen Schwierigkeiten, die sind anderer Natur, und dieser überzeugenden Erfolg, den Willy ’72 erzielt hat und Helmut Schmidt konnte ihn ja auf etwas niedrigerem Niveau ’76 und ’80 wiederholen, soweit sind wir noch nicht wieder.
Burchardt: Wobei ja da auch eigentlich - wenn ich das jetzt mal in eine Frage gekleidet als Behauptung aufstellen darf - auch ein gewisser Identitätssprung stattgefunden hat. Das heißt, eine regionalpolitische - wenn man jetzt Europa nimmt oder den Osten nimmt - ausgerichtete Politik wurde plötzlich doch unterworfen den ökonomischen Zwängen. ’73 gab es dann ja die Ölpreiskrise, die erste jedenfalls. Godesberg hat seinerzeit die Ostpolitik ja im Wesentlichen möglich gemacht. Hat die SPD es unter Umständen versäumt, in der Zeit nach ’73 sich früher und ausführlicher Gedanken über ein ökonomisches Godesberg zu machen?
Vogel: Also, darüber müsste man noch ein bisschen diskutieren, wenn man Zeit hätte, welche Bedeutung Godesberg für die Ostpolitik gehabt hat. Die entscheidende Bedeutung von Godesberg lag darin, dass sich die SPD in der Praxis schon länger, aber in ihrer Programmatik von der Vorstellung verabschiedet hat, es gäbe eine Gesetzmäßigkeit der Geschichte, die im Sozialismus eben dann endet. Und Godesberg hat gesagt, es ist eine dauernde und immer aufs neue zu bewältigende Aufgabe, die Gesellschaft zu gestalten und zu bewahren unter den Kriterien der drei Grundrechte Freiheit, Gerechtigkeit, Solidarität. Diese Öffnung hat die Basis der SPD verbreitert und hat auf diese Weise dann auch eben die Ostpolitik ermöglicht, auch eine Modernisierung, denn Willy Brandt war natürlich für die alten Sozialdemokraten zunächst eine überraschende Persönlichkeit, in seinem Auftreten im 61er Wahlkampf und auch mit seinen, im ganz weiten Spektrum, eher rechten Positionen. Ja, jetzt in die Gegenwart, sicher, aber das hat uns ja auch einige Belehrungen durch die Geschichte und die Entwicklung eingetragen, dass beispielsweise die Agenda 2010 im Bundestag erstmals präsentiert wurde und nicht vorher in der Partei Gegenstand einer - nicht endlosen, aber doch intensiven - Debatte war. Die kam erst hinterher. Und dieses Minus, das wollen wir ja jetzt durch die Diskussion über ein neues Grundsatzprogramm aufholen.
Burchardt: War das, wenn ich Sie zu einer Beurteilung bringen darf, war das ein verfahrenstechnischer und unsozialdemokratischer Fehler Schröders, dieses mehr oder weniger in kleinster Runde zu beschließen und zu exekutieren?
Vogel: Schröder schreibt in seinen Erinnerungen, er habe diesen Weg gewählt, weil er sich nicht sicher war, dass die Partei ihm innerhalb eines angemessenen Zeitraumes gefolgt wäre. Und er hatte die Sorge, dass sich das alles zu weit hinausschiebt. Gut, das ist seine Sicht der Dinge. Ich glaube nach wie vor, dass eine intensive Befassung der Partei mit einer Darlegung der Realitäten - vor allem, darum ging es ja, Globalisierung, demografische Entwicklung, Schuldenstand und so weiter und so fort -, dass das manches vielleicht für uns weniger schmerzlich gemacht hätte. Das mindert meinen Respekt vor der Standfestigkeit von Schröder, mit dem ich früher nicht immer einer Meinung war, keineswegs. Standfestigkeit, die er übrigens auch in der Irak-Frage gezeigt hat, und heute ist das ja fast auch schon amerikanische Meinung, dass Schröder recht gehabt hat.
Vogel: "Ich bin insgesamt sehr dankbar für die Aufgaben, die mir in meinem Leben gestellt wurden."
Der Lebensabend eines "Elder Statesman"
Burchardt: Wir haben unser Gespräch sehr persönlich begonnen, und ich würde es auch ganz gern sehr persönlich beenden. Sie sind jetzt 80 Jahre alt, man hört es wirklich nicht, und man würde sich wünschen, auch manch anderer Politiker, der heute an den Hebeln sitzt, hätte so viel Erfahrung einzubringen. By the way, werden Sie noch öfter mal konsultiert von der Exekutive oder aus dem Parlament?
Vogel: Es gibt unverändert Kontakte und es gibt gelegentlich auch Fragen, die an einen gerichtet werden. Gerhard Schröder hat das während seiner Kanzlerschaft in drei, vier Fällen getan, aber man hatte ja auch ein Gesprächsverhältnis, wenn ich in Berlin war. Also nicht, dass man also meint, ohne den eigenen Rat lässt sich die Bundesrepublik nicht mehr regieren, nein. Ich arbeite aber sonst noch in verschiedenen Kuratorien mit, nicht, weil das meinem Geltungsbedürfnis gut tut, sondern weil ich glaube, man kann auf diese Weise doch einiges an Erfahrungen weitergeben.
Burchardt: Man darf ja den Ethikrat zum Beispiel erwähnen, oder die Aktion gegen das Vergessen.
Vogel: Ja, das ist mir sehr wichtig, was Sie zuletzt nennen, gegen Vergessen, für Demokratie. Ich meine, ich habe ja selber als junger Mensch, ’26 geboren, sieben Jahre im Jahr ’33 und so weiter, das schon noch bewusst miterlebt, und da hat sich mir dieses Vermächtnis der Widerständler - nie wieder, nicht noch einmal - sehr stark eingeprägt. Und das bedeutet nicht, dass man sagt, der Staat müsste oder man müsste oder die müssten! Selber sich engagieren! Und erstaunlicher- und erfreulicherweise merke ich, dass ich im Gespräch mit jüngeren Leuten, ja, das ist offenbar zwischen Großvätern und Enkeln dann manchmal etwas aufmerksamer, dass man da wirklich das eine oder andere weitergeben kann.
Burchardt: Sie leben jetzt mit Ihrer Frau in einem Stift hier in München, St. Augustinus, und deshalb der persönliche Abschluss dieses Gesprächs. Wie sind da Ihre Erfahrungen, auch vor dem Hintergrund dessen, dass ja auch jetzt man sozusagen in eine Generationensituation sich freiwillig reinbegeben hat, niemand hat Sie da gezwungen, die Sie dann doch irgendwo schon wahrscheinlich doch spüren lässt, ja, das ist jetzt die letzte Lebensphase?
Vogel: Ja, das war uns beiden beim Einzug schon klar, der nächste Umzug ist ein Umzug, der eigentlich nicht mehr so bezeichnet wird. Nein, das ist jetzt bis ans Lebensende, und wissen Sie, es ist ja gar nicht unvernünftig, dass man sich in meinem Alter auch mit dem Tod beschäftigt, auch mit seiner Frau darüber spricht, sie mit mir. Der Entschluss ist im Wesentlichen getroffen worden, und meine Frau hatte Schwierigkeiten mit dem Knie, die man nicht beheben konnte, wir hatten im zweiten Stock unserer alten Wohnung eine sehr steile Treppe und das ist für meine Frau eine Erleichterung, dass wir jetzt da an einem Mittagstisch teilnehmen. Aber man hat seine eigene, kleiner gewordene Wohnung und ich habe ja noch meine Außenkontakte, mit der U-Bahn ist man, mit dem Fußweg bis zur U-Bahn-Station, in etwa 25 Minuten hier am Marienplatz. Also, insofern ist es nicht ein verriegelter Abschluss gegenüber dem bisherigen Leben.
Burchardt: Den Schritt bedauern Sie nicht?
Vogel: Nein, ich halte ihn für richtig, eher noch richtiger, denn wissen Sie, wenn man wirklich mal pflegebedürftig wird und gar nicht mehr anders kann, dann erst, dann ist es schwierig, sich einzugewöhnen und zurechtzukommen.
Burchardt: Was bedauern Sie aus Ihrem politischen Leben nachträglich?
Vogel: Ja, da wird man immer gefragt, was würdest du ganz anders machen? Ich bitte, mich um Gottes Willen nicht misszuverstehen, aber ich habe genügend Situationen, wo ich heute noch frage, war das falsch oder war das richtig? Aber dass ich sagen könnte, das würde ich heute ganz anders machen, das sehe ich nicht. Ich bin insgesamt, wenn ich das sagen darf, Herr Burchardt, sehr dankbar für die Aufgaben, die mir in meinem Leben gestellt wurden, für das, was ich dann tun konnte, dass doch eine gewisse Anzahl von Menschen dadurch erträglicher, friedlicher leben konnte, und dass man das Gefühl hat, man kann mit sich selbst einigermaßen im Reinen sein.
Burchardt: Herr Doktor Vogel, herzlichen Dank.
Hans-Jochen Vogel: "Eine sensible Phase in meinem Leben - also, schon."
Die Münchner Jahre
Rainer Burchardt: Herr Doktor Vogel, diese Aufnahme hier machen wir an einer Ihrer Wirkungsstätten von früher, nämlich direkt im Münchner Rathaus. Sie waren hier Oberbürgermeister, 12 Jahre lang. Was für ein Gefühl haben Sie, wenn Sie dieses Haus, heute noch, aus dem Abstand betrachtet, betreten?
Vogel: Eigentlich ein durchaus vertrautes Gefühl. Ich bin ja, seitdem ich im Ruhestand bin und wieder ganz in München lebe, immer wieder einmal hier im Rathaus, manchmal auch, wenn Kuratorien tagen, denen ich angehöre, also nichts, was mich innerlich aufregt oder aufwühlt. Aber es sind ja auch im Wesentlichen gute und erfreuliche Erinnerungen, die dann wach werden. Gerade hier in diesem Zimmer sind wichtige Beratungen geführt worden in Bezug auf die U-Bahn, Olympiavorbereitung, der Ältestenrat hat hier getagt.
Burchardt: Olympia 1972 war sicherlich für Sie eine sehr, sehr wichtige Entscheidung über das Kommunalpolitische hinaus. Die - wie Sie ja auch in Ihren Nachsichten, Ihrer Autobiografie, schreiben - doch eigentlich fröhlichen Olympischen Spiele in München wurden dann durch den Terroranschlag überdeckt. Nachträglich betrachtet: War das vermeidbar und hat der Staat damals, die Bundesrepublik, richtig reagiert?
Vogel: Es war ein Ereignis, mit dem man nicht rechnen musste. Sie haben Recht, es ist dadurch ein dunkler Schatten auf die fröhlichen und weltoffenen Spiele gefallen, die für München ja auch seiner eigenen Entwicklung wegen große Bedeutung hatten. Ich habe immer noch vor Augen die Trauerfeier auf dem Flughafen in Lod an einem Freitag Nachmittag, und bin mit demselben Flugzeug dahin geflogen, an dessen Bord auch die Särge der ermordeten, israelischen Sportler sich befanden. Vermeiden, ja, wer kann schon behaupten, etwas sei unvermeidlich, aber die dafür Zuständigen haben das Sicherheitskonzept mit allen teilnehmenden Staaten erörtert, auch mit Israel, und es sind gegen dieses Sicherheitskonzept keine Bedenken erhoben worden.
Burchardt: Sie sind ja 1972, und das war ja das Jahr, von einer Kommunalpolitik in die Bundespolitik gewechselt. War das für Sie auch mit ein Grund, München zu verlassen und zu sagen, ich mische jetzt doch mehr in der Bundespolitik mit, weil ich hier als Kommunalpolitiker ja auch eine gewisse Frustration jetzt erlebt habe?
Vogel: Ja und nein, also der eigentliche Grund war, dass ich bei den doch sehr ernsten innerparteilichen Auseinandersetzungen damals in München …
Burchardt: Sie galten als Juso-Fresser, wortwörtlich.
Vogel: Ja, das war eine der Bezeichnungen, die mir in jener Zeit mehrfach zugedacht wurden, weil ich eben in jener Zeit eine schwere, innerparteiliche Niederlage erlitten habe, und der Gedanke, ein weiteres Mal zu kandidieren und sechs Jahre zu amtieren mit einer Partei, die ganz offensichtlich mir nicht mehr im Einklang war, das verbot sich. Ich war dann eine zeitlang schon vor der Frage, ob ich nicht überhaupt mein politisches Engagement beende, und in eine Anwaltskanzlei gehe und als Anwalt arbeite. Aber da hat mich Volkmar Gabert, der bayrische Landesvorsitzende, den leider wohl nur noch wenige kennen, und insbesondere Willy Brandt gewarnt und haben mir beide gesagt, ich würde mir eines Tages Vorwürfe machen und wie ein Flüchtling vorkommen, wie einer, der davongelaufen ist. Und sie haben Recht behalten. Nach einigen Wochen habe ich mich dann auch bereit erklärt, eben für den Bundestag zu kandidieren und auch die Nachfolge von Volkmar Gabert als bayrischer Landesvorsitzender der SPD anzutreten. Aber eine sensible Phase in meinem Leben war das schon.
Burchardt: Es gibt ja hier eine Diaspora der SPD, wenn man das so sagen darf, in München Ausgerechnet 1968 bei Ihrer Wiederwahl haben Sie 74 Prozent der Stimmen gehabt. Das muss doch eigentlich eine Ermutigung für Sie gewesen sein, auch in dieser, ja, oberflächlich gesehen, wilden Zeit, eine solch große Zustimmung zu haben.
Vogel: Der Oberlehrer hebt ja den Finger, es war '66, und es waren 78 Prozent, aber das war noch vor diesen Auseinandersetzungen, von denen ich sprach. Die sind eigentlich erst um 1969 herum richtig in Gang gekommen und haben dann an Schärfe zugenommen. Ja, es waren außergewöhnliche Umstände, auch die positive Olympia-Entscheidung des IOC für München ging da voraus, und wir hatten eine Zusammenarbeit zwischen der SPD und der CSU, mein Gegenkandidat war mein Stellvertreter, der aber eigentlich nur für die Fortsetzung unserer Zusammenarbeit angetreten ist. Also, insofern darf man diese 78 Prozent auch nicht überhöhen, aber ich bestreite gar nicht, ich erinnere mich ganz gern, denn eine solche Bestätigung nach sechs Jahren immer noch als relativ junger Mann mit 40 Jahren zu bekommen, das hat schon gut getan.
Burchardt: Und Sie waren ja damals auch einer der Hoffnungsträger, aus der Zeit von Willy Brandt hergeleitet hätte man damals sagen können, Sie seien einer der Enkel von Ollenhauer gewesen.
Vogel: Ja, der Begriff war damals nicht üblich. Für Willy Brandt hat meine erste Wahl 1960 eine gewisse Bedeutung gehabt, denn er hat ja gegen Adenauer dann antreten wollen und auch sollen und war ja auch um Jahrzehnte jünger als Adenauer. Und da war es für ihn hier interessant zu sehen, ob ein bei der Kandidatur 33-Jähriger und bei der Wahl 34-Jähriger eine breite Zustimmung findet. Er hat mir übrigens in dem Wahlkampf auch sehr geholfen, mit einer großen Kundgebung, da hatte ich noch ziemliches Lampenfieber, das erste Mal vor 5000 oder 6000 Menschen in der Bayernhalle. Aber Willy Brandt hat mir dann schon öfters gesagt, dass das für ihn auch wichtig war, für seinen Entschluss, gegen Adenauer anzutreten. Ich glaube, der Altersabstand zwischen Adenauer und ihm war auch 35 oder 38 Jahre, also fast so groß wie der zwischen meinem Vorgänger Thomas Wimmer und mir, und etwas kleiner war der Abstand gegenüber meinem Gegenkandidaten 1960, das war der sogenannte Ochsen-Sepp, an den manche noch eine Erinnerung haben, Doktor Josef Müller, längere Zeit Landesvorsitzender der CSU. Er war Justizminister, wie ich beim bayrischen Justizministerium als junger Mann angefangen habe, und meine Urkunde trägt seine Unterschrift.
Burchardt: Aber eine direkte Konfrontation mit Franz Josef Strauß haben Sie auf der landespolitischen Ebene eigentlich nicht gehabt?
Vogel: Also, Franz Josef Strauß hatte 1960 noch keine zentrale Position bei der CSU. Dann gab es schon Konflikte, etwa, als wir hier das Volksbegehren - Übergang von der Bekenntnisschule, wo die Bekenntnisse noch getrennt waren, zur christlichen Gemeinschaftsschule - initiiert haben, da war er erst ganz am Schluss auch im Ergebnis dafür, und ebenso bei diesem Volksbegehren ‚Rundfunkfreiheit’, das war ein Vorstoß gegen eine stärkere staatliche Beteiligung am Rundfunkrat und am Verwaltungsrat. Also, da gab es schon Auseinandersetzungen, aber sie haben sich eigentlich erst dann verstärkt, als ich in Bonn war und er natürlich auch in Bonn. Ministerpräsident war hier zu meiner Zeit Alfons Goppel, ein Mann, an den ich immer noch mit Respekt zurückdenke, ein Landesvater und einer, der München selbst gegen den Widerstand seiner eigenen Landtagsfraktion - die waren nicht der Meinung, dass München da immer zu Hilfe gekommen werden sollte - sehr unterstützt hat beim Verkehrsausbau, U-Bahn, S-Bahn und dann auch bei den Olympischen Spielen.
Burchardt: Man glaubt es ja kaum, nachträglich betrachtet: Es gab hier mal einen sozialdemokratischen Ministerpräsidenten in Bayern, Wilhelm Hoegner, und in vielen Ihrer Veröffentlichungen, auch in Ihren Reden, Herr Vogel, nehmen Sie immer mal wieder Bezug auf diese Leitfigur, die für Sie persönlich und für Ihre politische Sozialisierung sicher auch eine große Rolle gespielt hat. Sie kommen ja eigentlich aus Göttingen, sind dort geboren, haben auch in München, aber auch in Marburg, studiert, und wenn man so wie heute mit Ihnen hier in der Umgebung des Rathauses geht, da erkennt Sie jeder. Sie werden gegrüßt von allen Seiten, ich behaupte mal, Sie sind noch immer einer der bekanntesten Bayern. Sind Sie Bayer?
Vogel: Ja, selbstverständlich bin ich das. Das ist ein Punkt, wo ich immer sehr entschieden mich geäußert habe. Es ist wahr, ich bin in Göttingen geboren, das hängt mit beruflichen Gründen meines Vaters zusammen, aber meine Eltern, meine Großeltern, meine Urgroßeltern, das sind alles Münchener und Bayern, und ich kann sogar eine der Ahnenprobe besonderer Art ablegen, von meinen acht Urgroßeltern liegen sechs auf Münchener Friedhöfen. Ich habe dann immer gesagt, dass, wenn ein Pferd im Kuhstall geboren wird, es kein Ochse ist, sondern auch ein Pferd, und das wurde akzeptiert, denn bei meinem ersten Wahlkampf gab es schon so ein Flüstergeraune, das ist ja gar kein Bayer, sondern der kommt von dort droben, und was damals manchmal noch schlimmer war, das ist ein Flüchtling. Und das konnte ich aber nun eindeutig klären und widerlegen. Ein doppelter Urgroßvater von mir war kurze Zeit bayrischer Innenminister bei Ludwig I. und musste dann gehen, weil er mit der Lola Montez nicht einverstanden war, und so weiter, und so fort.
Vogel: "Was mich so sehr beeindruckt hat, das war eben gerade auch die Person von Kurt Schumacher."
Der Sozialdemokrat
Burchardt: Zu Ihrer Familiengeschichte gehört auch, dass Sie einen Bruder, Bernhard, haben, der auch eine politische Karriere in Deutschland hinter sich hat, allerdings für die CDU. Wie war es denn eigentlich damals, in einer Familie gewissermaßen mit zwei politischen Richtungen aufzuwachsen?
Vogel: Zunächst einmal, die Familie war, was die Mutter angeht, eine bürgerliche Familie aus dem bayrischen, aus dem Münchener Beamtenmilieu. Der Vater ist im Oktober 1932 der NSDAP beigetreten, hat sich aber schon 36 ganz von allen politischen Aktivitäten zurückgezogen und hat die frühe Begeisterung, die zu seinem Beitritt geführt hat - Massenarbeitslosigkeit, Versailles war wohl für ihn ein Grund - als Irrtum seines Lebens dann später sehr selbstkritisch betrachtet. Auf unsere politische Sozialisation haben die Eltern keinen Einfluss genommen, wir haben beide gefühlt und gemeint, es genügt nicht, wenn man sich nur um sein eigenes Fortkommen kümmert. Das war ja damals in den unmittelbaren Nachkriegsjahren schon eine Aufgabe für sich, sondern man muss sich auch für das Gemeinwesen engagieren.
Burchardt: Aber haben Sie dann eine Münze geworfen, du gehst jetzt in die CDU, ich gehe in die SPD, oder wie ist das gelaufen?
Vogel: Nein, dies ist der Punkt, wo wir gemeinsam gefühlt haben, man muss sich fürs Gemeinwesen engagieren. Ich habe mir die Parteien angeguckt und habe die programmatischen Äußerungen gelesen, und bin zum Ergebnis gekommen, am nächsten steht mir die SPD. Und da haben Männer wie Kurt Schumacher, wie Wilhelm Hoegner, Waldemar von Knoeringen eine Rolle gespielt. Der Bernd ist sieben Jahre jünger und da wächst man schon in einer gewissen natürlichen Opposition zu dem Älteren auf. Er hat in Heidelberg studiert und kam in einen Kreis um Dolf Sternberger und andere, und ist dann dort aufgefordert worden, für die CSU - nein, Entschuldigung, CDU - für den Heidelberger Stadtrat zu kandidieren. Und dann haben sich die Wege so ergeben. Wir haben immer ein sehr anständiges, gutes, brüderliches Verhältnis gehabt, obwohl wir ganz unterschiedliche Meinungen in vielen Fragen hatten, aber, Herr Burchardt, wir hatten den Vorteil, dass wir nie im gleichen Gremium waren. Wir waren nie zusammen im Bundestag, ich war hier Bürgermeister, er war im Heidelberger Stadtrat, er war dann Minister und Ministerpräsident in Rheinland-Pfalz. Ein halbes Jahr, wie ich regierender Bürgermeister in Berlin war - das ist ja gleichzeitig der Status des Ministerpräsidenten -, da waren wir mal im Bundesrat beieinander, das wäre dann schwierig geworden.
Burchardt: Aber Kain und Abel waren Sie nicht.
Vogel: Nein, um Gottes Willen. Wir leben ja auch beide noch.
Burchardt: In der Zeit gab es ja nun bei der CDU auch das sogenannte Ahlener Programm, wäre das für Sie nicht auch attraktiv gewesen, wenn man mal jetzt vom Ideologischen hergeht? Damals stand unter anderem so Spannendes drin wie die Überwindung des Kapitalismus.
Vogel: Ja, ja, das war die Zeit, wo dort Walter Dirks Einfluss hatte, auch Jakob Kaiser in Berlin. Aber was mich so sehr beeindruckt hat, das war eben gerade auch die Person von Kurt Schumacher. Ich habe ihn einmal erlebt, in Rosenheim, im Juni 1949 auf dem Marktplatz, wissen Sie, dieses scharfe Profil, diese Glaubwürdigkeit nach zehn Jahren KZ, der Arm im Krieg, im ersten Weltkrieg, verloren, der Unterschenkel amputiert, das war, glaube ich, dann mit der entscheidende Anlass, in die SPD zu gehen. Ich habe mich auch mit der Geschichte der Partei beschäftigt, ihren Anfängen, Mitte des 19. Jahrhunderts, und, nein, also, die Versuchung, hier in Bayern zur CSU zu gehen, war nicht sehr stark, obwohl es auch dort honorige Leute gab.
Vogel: "Es ging darum, die Mauer durchlässiger zu machen, es ging darum, den Frieden in Mitteleuropa zu bewahren."
Mauertrauma und Ostpolitik
Burchardt: Wie haben Sie den Mauerbau damals erlebt und wie war Ihre Position damals? Wie war denn das Verhältnis zur CDU? Adenauer hat ja sich doch eine Menge Zeit gelassen, ehe er dann nach Berlin kam, die Amerikaner ebenfalls, haben nur Lyndon B. Johnson geschickt..
Vogel: Ich habe daran sehr konkrete Erinnerungen Also, der Flüchtlingsstrom aus der DDR, der sich ja nur noch über Ost- und Westberlin bewegen konnte, der schwoll an. Ulbricht hatte zwar gesagt, es wird nie eine Mauer oder eine Absperrung geben, aber dann kam eben am 13. August diese Meldung und die ersten Bilder auch. Es gab hier eine Solidaritätskundgebung, auf der ich gesprochen habe, und ich bin am 18. August ’61 nach Berlin gereist, um die Solidaritätsgrüße der Münchener zu überbringen. Ich habe Willy Brandt getroffen, sogar in seiner Privatwohnung, weil er die Rede für den Bundestag am nächsten Tag vorbereitete, und bin dann - das muss man immer erst näher erklären - mit einem sozialdemokratischen Abgeordneten, der noch Ostberliner Bürger war, aber im Westen vom Abgeordnetenhaus - es gab keine Bundestagswahl im eigentlichen Sinn - gewählt worden war, war ich dann in Ostberlin, einige Stunden, bin noch auf Sozialdemokraten gestoßen vom Kreisverband Friedrichshain, die ziemlich verschreckt in einem Hinterzimmer beieinandersaßen, denn die Partei existierte legal noch bis da in Ostberlin. Und dann waren wir auf der Straße unterwegs, es war ein merkwürdige, angespannte Ruhe, dann kamen zwei Leute und sagten, sie kämen im Auftrag des Ostberliner Oberbürgermeisters Friedrich Ebert, also, der Sohn vom Reichspräsidenten, und wir sollten doch bitte ins Rathaus kommen und uns erläutern lassen, warum diese Maßnahme notwendig sei. Das haben wir abgelehnt und haben uns dann rasch wieder nach Westberlin zurückbegeben.
Burchardt: Haben Sie es bedauert, dass das eine verpasste Chance war?
Vogel: Ich habe es nicht bedauert, denn es wäre medial als Unterstützung ausgelegt worden, dass der Münchener Oberbürgermeister und ein SPD-Bundestagsabgeordneter sich fünf Tage danach beim Oberbürgermeister von Ostberlin einfinden. Wir hätten ja gar keine Möglichkeit gehabt, auf das einzuwirken, was dann davon mitgeteilt wird.
Burchardt: Aber in Ihrem weiteren Lebensweg haben Sie ja durchaus auch sehr konstruktiv zur Überwindung der Mauer beigetragen, durch Zusammenarbeit, mehr im Hinterzimmer, oder sagen wir inoffiziell genauer als offiziell, durch den sogenannten Freikauf von Häftlingen aus der DDR, mit Ihrem Namensvetter, dem Rechtsanwalt Vogel, mit dem Sie ja wohl auch eine persönliche Freundschaft verbunden hat, den Eindruck musste man jedenfalls haben. War das auch schon so ein Stückchen an der Mauer jetzt zu knacken und doch, ja, ein Stück in Richtung Einheit?
Vogel: Sie haben in dem Zusammenhang des Mauerbaus noch Willy Brandt und Adenauer erwähnt. Für Willy Brandt waren die Erfahrungen dieser Tage und Wochen, dass die Vereinigten Staaten über die Position "Wir halten an Westberlin fest" nicht hinausgingen, mit Anstoß für die Ostpolitik, die er mit Egon Bahr zusammen dann entwickelt hat. Adenauer hatte da wirklich ein unverständliches Verhalten, er hat noch nach dem Mauerbau in Regensburg auf einer Wahlversammlung Willy Brandt als Herbert Frahm angesprochen, auch auf seine uneheliche Geburt angedeutet, das war alles sehr unerfreulich. Ja, ich habe natürlich auch einige Jahre gebraucht, bis ich verstanden habe, dass nach der Westintegration nun die Ostpolitik Willy Brandts uns weiterführen, den Frieden in Europa sichern, und in weiter Ferne eben auch wieder zur deutschen Einheit führen kann. Und in meinen verschiedenen Funktionen habe ich versucht, mit meinen Mitteln diese Politik fortzusetzen. Und in diese Zeit fällt übrigens auch als ich Parteivorsitzender war, der Papierstreit der Ideologien …
Burchardt: Mit der SED.
Vogel: … gemeinsame Sicherheit, mit der SED. Und das, was mir doch sehr gegenwärtig war, durch diese Kontakte und diese Gespräche, war die Gefahr für die SED, dass sich dort eine Ansteckung an die Demokratie ergab, stärker als die umgekehrte Gefahr, dass durch diese Kontakte sich bei uns eine Infektion durch den SED-Kommunismus ergeben hätte. Ich habe mich dann, vor allen Dingen, weil ich ja ’83 Berliner Bundestagsabgeordneter war, in meinem Bürgerbüro um Tausende von Fällen bemüht, in denen es um Haftentlassung in der DDR, Familienzusammenführung und so weiter ging. Ich habe immer auf einem jährlichen - ja, einmal jährlich - Treffen mit Honecker am Hubertusstock eine solche Liste mitgebracht. Ja, es ging darum, die Mauer durchlässiger zu machen, es ging darum, den Frieden in Mitteleuropa zu bewahren. Dass damals ja doch immer irgendwo im Kopf auch die Gefahr eines Atomkrieges eine Rolle spielte, das ist der heutigen Generation schwer zu vermitteln.
Burchardt: Das ist gar nicht lange her und kaum noch vorstellbar.
Vogel: Und dann kam die Entwicklung, auf die wir ja wohl noch zu sprechen kommen, in einem Tempo, das niemand erwartet hat.
Burchardt: Eine Episode Ihres Lebens, Herr Doktor Vogel, war ja auch die Zeit als regierender Bürgermeister. Sie haben dann die Wahl gegen Richard von Weizsäcker anschließend verloren, ein gutes halbes Jahr war es nur. Haben Sie aus dieser Zeit auch etwas mitgenommen für Ihre spätere Tätigkeit, was deutsch-deutsche Politik bedeutet?
Vogel: Ja, es war damals diese kritische Situation der Stadt, aber insbesondere auch meiner Partei, Dietrich Stobbe trat zurück, weil seine Personalvorschläge keine Mehrheit mehr fanden. Es war kein großer Andrang von denen, die damals nach Berlin gehen wollten, genauer gesagt, ich war der Einzige, der dann gesagt hat, ‚hic rodus, hic salta’, denn wir haben ja immer von den Schwestern und Brüdern in Berlin geredet und so weiter. Ein halbes Jahr, die Lage der Stadt war durch die Ausbesetzung gekennzeichnet, ich habe da eine Menge gelernt, auch in Bezug auf das deutsch-deutsche Verhältnis. Es ist ein Unterschied, ob Sie all das an Ort und Stelle erleben oder weitab in Bonn. Ich habe übrigens damals auch gemerkt mit meiner Frau, dass wir uns in weiten Teilen Europas viel besser auskannten als in der DDR. Wir sind dann als Privatleute - das ging, mit Westberliner Ausweis - ganz planmäßig in einen DDR-Bezirk nach dem anderen gereist, haben dann meistens dort mit evangelischen Pastoren gesprochen und da habe ich also dann erst Mecklenburg und Vorpommern und Thüringen und Sachsen und auch Magdeburger Gegend, Brandenburg, kennengelernt.
Burchardt: Das war ja so Anfang der 80er Jahre. War da schon spürbar, dass in spätestens sechs, sieben Jahren da was richtig Dickes passiert?
Vogel: Nein, nein. Die Zahl derer, die das alles vorausgesehen haben, hat ’89 dann sprunghaft zugenommen, aber die Frage kann ich nur mit einem Nein beantworten. Es war die Hoffnung, das war ja dann schon der Anfang, auch von Gorbatschow, dass sich Reformentwicklungen auch in der DDR abspielen würden und dass eben die Mauer immer mehr an Bedeutung verliert, und dass ist nicht nur ein Neben-, sondern auch ein Miteinander geben würde. Aber das Tempo, in dem das dann alles zur Implosion des Sowjetsystems und letzten Endes zur deutschen Einheit geführt hat, das hat wohl kaum einer vorausgesehen. Selbst ’89 gibt es noch von Strauß und Kohl aber auch von anderen Äußerungen, die erkennen lassen, dass sie es auch noch in weiter Ferne gesehen haben. Strauß hat ja immer davon gesprochen, wenn es ein zweites Österreich gibt in der DDR, Verhältnisse wie in Österreich, dann sei die Notwendigkeit, einen Nationalstaat wieder zu bilden, gar nicht gegeben.
Vogel: "Ich wollte ja auch der Partei ersparen, dass man nun wochenlang jemanden sucht, das macht ja einen ganz peinlichen Eindruck."
Der ewige Kandidat
Burchardt: Herr Vogel, Sie haben eben was ganz Interessantes gesagt, es hat sich damals niemand gedrängt, nach Berlin zu gehen. Sie waren quasi als Parteisoldat dann angetreten, auch in einer möglicherweise absehbar schwierigen Situation. Sie sind dann 1983 Kanzlerkandidat geworden. Auch da hat sich, das war ja nun gerade nach dem Regierungswechsel, niemand so richtig gedrängelt.
Vogel: Hat sich niemand gedrängelt, nein.
Burchardt: Und 1987, als es um den SPD-Vorsitz ging, ich kann mich noch sehr gut erinnern an die Tagung in Norderstedt, wo ja eigentlich schon Oskar Lafontaine als Parteivorsitzender gehandelt wurde, und Hans-Jochen Vogel wurde es dann. Können Sie resümieren, nachträglich sagen, ja, Sie sind dann immer derjenige gewesen, der die Dreckarbeit gemacht hat?
Vogel: Dreckarbeit würde ich nicht sagen.
Burchardt: Die Kärrnerarbeit, um mit Herbert Wehner zu sprechen, vielleicht?
Vogel: Eher das, ja, ja. Also, 1982, Helmut Schmidt war gefragt worden, aber hat aus wirklich einleuchtenden Gründen gesagt, er kann jetzt nicht kandidieren, Doppelbeschluss und so weiter. Johannes Rau war aus verständlichen Gründen ganz auf Nordrhein-Westfalen konzentriert und dann kam halt die Frage an mich, und ich wollte ja auch der Partei ersparen, dass man nun wochenlang jemanden sucht, das macht ja einen ganz peinlichen Eindruck, nicht? Na ja, und dann kam die Wahl. Übrigens, es waren beides Niederlagen, Berlin und auch da. Berlin, würde ich mal sagen, gegen Weizsäcker eine Wahl zu verlieren, ist keine Schande, aber es waren 38,3 Prozent, und bei der Bundestagswahl auch. Heute wären beide Volksparteien froh, wenn sie 38,3 Prozent hätten, nicht? Damals ging man mit 38,3 in die Opposition in Berlin, heute kann man mit knapp 30 regieren. So ist Demokratie, in Ordnung. Ja, und ’87, da hatte Willy - und ich war ja damit auch d’accord, Johannes Rau, und mit mir hat er darüber gesprochen - die Meinung, man könnte jetzt eine Generation weitergehen. Ich bin ja, vergleichbar mit Willy Brandt, eine ganz andere Generation. Willy Brandt und ich sind 13 Jahre auseinander, Helmut Schmidt und ich sind acht Jahre auseinander, und er hatte die Meinung, das soll der Oskar Lafontaine machen, der Saarländer. Und der hat das in Norderstedt abgelehnt! Der hat aus Gründen, die ich im einzelnen nicht kenne, aber wo er sicher auch private Gründe hatte, hat er gesagt, nein, macht er nicht. Na gut, er hat ja dann 1990 ein zweites Mal Nein gesagt, da war es wieder so, es darf doch nicht sein, dass jetzt, nachdem diese unglückselige Geschichte mit der Pressesprecherin gelaufen war, dass die Partei sagt, ja, um Gottes Willen, wer macht das jetzt? Und da ich Fraktionsvorsitzender war und dadurch auch einen gewissen Rückhalt in der Partei hatte, hat der Willy dann gesagt, also gut, wenn der nicht will …
Burchardt: Da Sie das Stichwort Fraktionsvorsitzender anbringen, drängt sich ja die Frage auf, auch bei einer nachträglichen Bewertung: Sie haben seinerzeit ja doch immer verlautbaren lassen, es sei gut, wenn beide Ämter in einer Hand sind. Bei Willy Brandt ist das nicht der Fall gewesen. Würden Sie heute auch noch sagen, das war richtig, dass ich das in der Zeit, als ich Parteivorsitzender war, dann eben auch als Fraktionsvorsitzender die Führungsrolle hatte?
Vogel: Ja, Herr Burchardt, das hängt wirklich ganz von den Zeitumständen ab. Ich habe also nie eine generelle Theorie vertreten, dass der Fraktions- und der Parteivorsitzende in der Opposition oder der Kanzler und der Parteivorsitzende, wenn man in der Regierung ist, in einer Hand liegen müssen. Das war in der SPD auch durchaus unterschiedlich. Kommt auf die Umstände, kommt auf die Personen an, und für diese, ja, von ’87 bis ’91, war es wohl vernünftig, würde ich heute sagen. Es war immerhin, was man auch leicht vergisst, eine Zeit, in der wir vier Bundesländer gewonnen haben, neu, eine Mehrheit sich dann sogar im Bundesrat ergab, auch für Sozialdemokraten keine Selbstverständlichkeit, aber das war die Konstellation.
Vogel: "Jetzt müssen wir unsere Programmatik ein bisschen wieder konkreter und fester gestalten."
Ein ökonomisches Godesberg?
Burchardt: In dem Moment, als Sie den Parteivorsitz abgegeben haben Anfang der 90er Jahre an Björn Engholm, da trat doch eigentlich von da an eine gewisse Kurzatmigkeit der Parteivorsitzenden bis auf den heutigen Tag in der SPD ein. Man kann ja auch mal fragen: Hat das möglicherweise auch was damit zu tun, dass es einfach eine programmatische Orientierungssuche gegeben hat in dieser ganzen Zeit, die sich dann eben auch personell so ausgewirkt hat, weil nach der Einheit und durch natürlich auch die Ökonomisierung des öffentlichen Lebens, wie man immer so schön sagt - mit anderen Worten durch die schwierigere soziale Lage in Deutschland -, die Sozialdemokraten auf eine Art und Weise herausgefordert haben, die ihre eigene Identität in Frage gestellt hat?
Vogel: Dazu zwei Bemerkungen. Zuerst: Ich habe deswegen im Jahr ’91 gesagt, wir sollten jetzt einen neuen Parteivorsitzenden wählen, weil durch die Situation mit Lafontaine, wo ich ja erklärt habe, er soll das jetzt nach der Wahl machen und er hat es abgelehnt, schon der Eindruck, mit Recht, entstanden war, ich würde mit meinen 65 Jahren jetzt meinen: Weitergabe. Und da hat man sich aus guten Gründen auf den Björn Engholm verständigt. Die folgenden Wechsel müsste man alle einzeln anschauen, die kann man nicht über einen Kamm schlagen. Jetzt die zweite Bemerkung zu Ihrer These: Das hat eine Rolle gespielt ab 1998. Regierungsübernahme, und dann die allmählich näherrückende und dann vollzogene Notwendigkeit, dass man auf die völlig veränderten Realitäten mit Reformaktivitäten antwortet, die der SPD nicht leicht zu vermitteln waren und auch zu Mitgliederverlusten und Landtagswahlverlusten geführt haben. Das ist richtig. Ich meine, der Übergang zum Beispiel von Schröder auf Müntefering ist damit zu erklären, der Rücktritt von Müntefering war die Folge einer emotionalen Explosion im Vorstand im Jahre 2005, die rational wirklich nicht zu verstehen war. Platzek in allen Ehren, gesundheitliche Gründe, die er ja auch offen dargelegt hat, die muss man akzeptieren. Aber jetzt, und da haben Sie recht, müssen wir unsere Programmatik ein bisschen wieder konkreter und fester gestalten, dass wir nicht in den Verdacht der Kurzatmigkeit und der Beliebigkeit kommen - nicht nur Kurzatmigkeit, was die Amtszeiten angeht, sondern Kurzatmigkeit auch, was die programmatischen Aussagen angeht.
Burchardt: Herr Doktor Vogel, das ist die aktuelle Programmatik, ich würde aber trotzdem noch mal gern zurückkommen auf eine Phase, die Sie vorhin kurz angerissen haben, nämlich auf die Ostpolitik, die ja sicherlich für die SPD identitätsstiftend ohne Ende gewesen ist in der damaligen Zeit. Wie haben Sie selber dieses eigentlich erlebt? Denn Sie haben ja auch angesprochen, dieses Streitpapier mit der SED, war das nicht ein ständiges Jonglieren zwischen der Symbolik des Kniefalls von Willy Brandt in Warschau auf der einen Seite und auf der anderen Seite, na ja, die Sozis, irgendwie sind sie ja dann doch wieder unzuverlässig, vaterlandslose Gesellen, auch solche Begriffe kamen ja wieder hoch, Herbert Wehner und seine Moskauzeit wurden wieder angesprochen. Ist das nicht damals eine für die SPD ebenso schwierige Zeit gewesen, wenngleich sie ja letztendlich heute unter dem Strich als sehr positiv gewertet wird?
Vogel: Sicher gab es diese Spannungen und es gab auch Attacken aus dem Bereich der Union, wobei ich insbesondere an die CSU denke und an Franz Josef Strauß, den man nur als im hohen Maße bedenklich bezeichnen kann. Aber so wie die Westintegration Adenauers wichtig war und erfolgreich - Adenauer hatte ja ’57 sein bestes Wahlergebnis -, so war auch dann die darauf aufbauende Ostpolitik Willy Brandts für unsere weitere Entwicklung von elementarer Bedeutung, und sie war erfolgreich. 1972 44,5 Prozent, das einzige Mal stärkste Fraktion im Bundestag, also, die Mehrheit der Menschen hat das alles akzeptiert und durchaus bejaht, und es gab ja auch einen Mitgliederzuwachs, die berühmten …
Burchardt: Willy-Wähler, ja.
Vogel: Willy-Wähler. Übrigens, zu all dem hat Herbert Wehner auch einen großen Beitrag geleistet. Also, es waren zwei Abschnitte unserer deutschen Geschichte, die aber insgesamt durchaus unter dem Stichwort Erfolg rubriziert werden können. Insofern vergleiche ich es nicht ganz mit den heutigen Schwierigkeiten, die sind anderer Natur, und dieser überzeugenden Erfolg, den Willy ’72 erzielt hat und Helmut Schmidt konnte ihn ja auf etwas niedrigerem Niveau ’76 und ’80 wiederholen, soweit sind wir noch nicht wieder.
Burchardt: Wobei ja da auch eigentlich - wenn ich das jetzt mal in eine Frage gekleidet als Behauptung aufstellen darf - auch ein gewisser Identitätssprung stattgefunden hat. Das heißt, eine regionalpolitische - wenn man jetzt Europa nimmt oder den Osten nimmt - ausgerichtete Politik wurde plötzlich doch unterworfen den ökonomischen Zwängen. ’73 gab es dann ja die Ölpreiskrise, die erste jedenfalls. Godesberg hat seinerzeit die Ostpolitik ja im Wesentlichen möglich gemacht. Hat die SPD es unter Umständen versäumt, in der Zeit nach ’73 sich früher und ausführlicher Gedanken über ein ökonomisches Godesberg zu machen?
Vogel: Also, darüber müsste man noch ein bisschen diskutieren, wenn man Zeit hätte, welche Bedeutung Godesberg für die Ostpolitik gehabt hat. Die entscheidende Bedeutung von Godesberg lag darin, dass sich die SPD in der Praxis schon länger, aber in ihrer Programmatik von der Vorstellung verabschiedet hat, es gäbe eine Gesetzmäßigkeit der Geschichte, die im Sozialismus eben dann endet. Und Godesberg hat gesagt, es ist eine dauernde und immer aufs neue zu bewältigende Aufgabe, die Gesellschaft zu gestalten und zu bewahren unter den Kriterien der drei Grundrechte Freiheit, Gerechtigkeit, Solidarität. Diese Öffnung hat die Basis der SPD verbreitert und hat auf diese Weise dann auch eben die Ostpolitik ermöglicht, auch eine Modernisierung, denn Willy Brandt war natürlich für die alten Sozialdemokraten zunächst eine überraschende Persönlichkeit, in seinem Auftreten im 61er Wahlkampf und auch mit seinen, im ganz weiten Spektrum, eher rechten Positionen. Ja, jetzt in die Gegenwart, sicher, aber das hat uns ja auch einige Belehrungen durch die Geschichte und die Entwicklung eingetragen, dass beispielsweise die Agenda 2010 im Bundestag erstmals präsentiert wurde und nicht vorher in der Partei Gegenstand einer - nicht endlosen, aber doch intensiven - Debatte war. Die kam erst hinterher. Und dieses Minus, das wollen wir ja jetzt durch die Diskussion über ein neues Grundsatzprogramm aufholen.
Burchardt: War das, wenn ich Sie zu einer Beurteilung bringen darf, war das ein verfahrenstechnischer und unsozialdemokratischer Fehler Schröders, dieses mehr oder weniger in kleinster Runde zu beschließen und zu exekutieren?
Vogel: Schröder schreibt in seinen Erinnerungen, er habe diesen Weg gewählt, weil er sich nicht sicher war, dass die Partei ihm innerhalb eines angemessenen Zeitraumes gefolgt wäre. Und er hatte die Sorge, dass sich das alles zu weit hinausschiebt. Gut, das ist seine Sicht der Dinge. Ich glaube nach wie vor, dass eine intensive Befassung der Partei mit einer Darlegung der Realitäten - vor allem, darum ging es ja, Globalisierung, demografische Entwicklung, Schuldenstand und so weiter und so fort -, dass das manches vielleicht für uns weniger schmerzlich gemacht hätte. Das mindert meinen Respekt vor der Standfestigkeit von Schröder, mit dem ich früher nicht immer einer Meinung war, keineswegs. Standfestigkeit, die er übrigens auch in der Irak-Frage gezeigt hat, und heute ist das ja fast auch schon amerikanische Meinung, dass Schröder recht gehabt hat.
Vogel: "Ich bin insgesamt sehr dankbar für die Aufgaben, die mir in meinem Leben gestellt wurden."
Der Lebensabend eines "Elder Statesman"
Burchardt: Wir haben unser Gespräch sehr persönlich begonnen, und ich würde es auch ganz gern sehr persönlich beenden. Sie sind jetzt 80 Jahre alt, man hört es wirklich nicht, und man würde sich wünschen, auch manch anderer Politiker, der heute an den Hebeln sitzt, hätte so viel Erfahrung einzubringen. By the way, werden Sie noch öfter mal konsultiert von der Exekutive oder aus dem Parlament?
Vogel: Es gibt unverändert Kontakte und es gibt gelegentlich auch Fragen, die an einen gerichtet werden. Gerhard Schröder hat das während seiner Kanzlerschaft in drei, vier Fällen getan, aber man hatte ja auch ein Gesprächsverhältnis, wenn ich in Berlin war. Also nicht, dass man also meint, ohne den eigenen Rat lässt sich die Bundesrepublik nicht mehr regieren, nein. Ich arbeite aber sonst noch in verschiedenen Kuratorien mit, nicht, weil das meinem Geltungsbedürfnis gut tut, sondern weil ich glaube, man kann auf diese Weise doch einiges an Erfahrungen weitergeben.
Burchardt: Man darf ja den Ethikrat zum Beispiel erwähnen, oder die Aktion gegen das Vergessen.
Vogel: Ja, das ist mir sehr wichtig, was Sie zuletzt nennen, gegen Vergessen, für Demokratie. Ich meine, ich habe ja selber als junger Mensch, ’26 geboren, sieben Jahre im Jahr ’33 und so weiter, das schon noch bewusst miterlebt, und da hat sich mir dieses Vermächtnis der Widerständler - nie wieder, nicht noch einmal - sehr stark eingeprägt. Und das bedeutet nicht, dass man sagt, der Staat müsste oder man müsste oder die müssten! Selber sich engagieren! Und erstaunlicher- und erfreulicherweise merke ich, dass ich im Gespräch mit jüngeren Leuten, ja, das ist offenbar zwischen Großvätern und Enkeln dann manchmal etwas aufmerksamer, dass man da wirklich das eine oder andere weitergeben kann.
Burchardt: Sie leben jetzt mit Ihrer Frau in einem Stift hier in München, St. Augustinus, und deshalb der persönliche Abschluss dieses Gesprächs. Wie sind da Ihre Erfahrungen, auch vor dem Hintergrund dessen, dass ja auch jetzt man sozusagen in eine Generationensituation sich freiwillig reinbegeben hat, niemand hat Sie da gezwungen, die Sie dann doch irgendwo schon wahrscheinlich doch spüren lässt, ja, das ist jetzt die letzte Lebensphase?
Vogel: Ja, das war uns beiden beim Einzug schon klar, der nächste Umzug ist ein Umzug, der eigentlich nicht mehr so bezeichnet wird. Nein, das ist jetzt bis ans Lebensende, und wissen Sie, es ist ja gar nicht unvernünftig, dass man sich in meinem Alter auch mit dem Tod beschäftigt, auch mit seiner Frau darüber spricht, sie mit mir. Der Entschluss ist im Wesentlichen getroffen worden, und meine Frau hatte Schwierigkeiten mit dem Knie, die man nicht beheben konnte, wir hatten im zweiten Stock unserer alten Wohnung eine sehr steile Treppe und das ist für meine Frau eine Erleichterung, dass wir jetzt da an einem Mittagstisch teilnehmen. Aber man hat seine eigene, kleiner gewordene Wohnung und ich habe ja noch meine Außenkontakte, mit der U-Bahn ist man, mit dem Fußweg bis zur U-Bahn-Station, in etwa 25 Minuten hier am Marienplatz. Also, insofern ist es nicht ein verriegelter Abschluss gegenüber dem bisherigen Leben.
Burchardt: Den Schritt bedauern Sie nicht?
Vogel: Nein, ich halte ihn für richtig, eher noch richtiger, denn wissen Sie, wenn man wirklich mal pflegebedürftig wird und gar nicht mehr anders kann, dann erst, dann ist es schwierig, sich einzugewöhnen und zurechtzukommen.
Burchardt: Was bedauern Sie aus Ihrem politischen Leben nachträglich?
Vogel: Ja, da wird man immer gefragt, was würdest du ganz anders machen? Ich bitte, mich um Gottes Willen nicht misszuverstehen, aber ich habe genügend Situationen, wo ich heute noch frage, war das falsch oder war das richtig? Aber dass ich sagen könnte, das würde ich heute ganz anders machen, das sehe ich nicht. Ich bin insgesamt, wenn ich das sagen darf, Herr Burchardt, sehr dankbar für die Aufgaben, die mir in meinem Leben gestellt wurden, für das, was ich dann tun konnte, dass doch eine gewisse Anzahl von Menschen dadurch erträglicher, friedlicher leben konnte, und dass man das Gefühl hat, man kann mit sich selbst einigermaßen im Reinen sein.
Burchardt: Herr Doktor Vogel, herzlichen Dank.