Stefan Heinlein: Syrien, Mexiko und Afghanistan - das waren die drei Länder mit den meisten getöteten Journalisten im vergangenen Jahr. Auch in China, Ägypten und Saudi-Arabien leben Berichterstatter gefährlich. Wer dort Kritik an den Herrschenden wagt, riskiert, hinter Gitter zu wandern. In Europa dagegen hat die Presse- und Meinungsfreiheit einen hohen Stellenwert. Umso dramatischer die Fälle aus den vergangenen Monaten. Zwei Investigativ-Journalisten wurden mitten in Europa ermordet, weil sie es wagten, einen Sumpf an Korruption und dunklen Machenschaften öffentlich zu machen. In Malta wurde Daphne Caruana Galizia von einer Autobombe zerfetzt, vier Monate später in der Slowakei Jan Kuciak und seine Freundin erschossen. Die Morde haben Politik und Gesellschaft in beiden Ländern tief erschüttert. Heute beginnt in der Slowakei der Prozess gegen die mutmaßlichen Hintermänner des Auftragsmordes.
Am Telefon begrüße ich jetzt den slowakischen Schriftsteller und Journalisten Michal Hvorecky. Guten Tag nach Bratislava!
Michal Hvorecky: Guten Morgen!
Heinlein: Wie wichtig ist der Beginn des heutigen Prozesses für die Menschen, für Politik und Gesellschaft bei Ihnen in der Slowakei?
Hvorecky: Ich glaube, für alle kritisch denkenden Menschen, die Gerechtigkeit für alle wünschen, ist es enorm wichtig, weil Vertrauen in den Rechtsstaat schwindet gerade massiv. Das heißt, wir glauben, wenn es tatsächlich zu einem gerechten Prozess kommt, dann ist das auch eine Hoffnung für alle.
Heinlein: Wie groß ist Ihre Hoffnung, dass bei diesem Prozess tatsächlich alles auf den Tisch kommt, nicht nur dieser Auftragsmord, sondern das gesamte Netzwerk der Verstrickungen von Politik, Justiz mit kriminellen Geschäftsleuten und auch mafiaähnlichen Banden?
Hvorecky: Na ja, das ist die große Frage. Es sind neben Kocner vier weitere Personen beschuldigt, die auch an dem Doppelmord beteiligt waren. Einer der Verdächtigen arbeitet mit Ermittlern zusammen. Das heißt, es kommen sicherlich jeden Tag neue Informationen aufs Bild, und wir sind alle sehr gespannt.
Schon jetzt die letzten Wochen und Monate waren sehr dramatisch, weil fast jeden Tag gab es neue Informationen. Man hat Aufzeichnungen der Handy-Kommunikation von Marian Kocner - das ist der mutmaßliche Auftraggeber – gefunden. Es gab Tonbandaufnahmen aus seiner Wohnung und da hat es unglaubliche Informationen über sein Mafia-Netzwerk gegeben, das er wirklich bis in die Spitzenpolitik aufgebaut hat in den letzten Jahren. Er dachte ja, er ist unantastbar, und das könnte sich jetzt endlich ändern.
"Es sind tatsächlich schlimme Sachen passiert"
Heinlein: Es wird Zeit, dass sich was verändert, denn über 30 Jahre sind vergangen seit der sanften Revolution – so heißt es bei Ihnen in der Slowakei. Seit 2004 ist Ihr Land EU-Mitglied. Wie war es denn möglich in den vergangenen Jahren, dass Oligarchen und eine Art organisierte Wirtschaftskriminalität dennoch Teile von Politik und auch der Justiz kontrollierten?
Hvorecky: Ich glaube, trotz all dem ist die Slowakei eine Erfolgsgeschichte. Dieses Land hat einiges erreicht. Es hat sich auch viel zum Besseren entwickelt. Aber es herrscht leider auch hier viel Korruption. Wir haben Probleme mit dem, wie die Parteien finanziert werden. Es entstand diese Oligarchen-Pseudoelite, Menschen, die tatsächlich dachten, sie gehören nicht in den Rechtsstaat, sie sind über dem Rechtsstaat, und die haben sich hier ihre Netze aufgebaut.
Auf der anderen Seite erleben wir gerade in den letzten zwei Jahren eine Wiederbelebung der Zivilgesellschaft. Vor allem die junge Generation ging massiv auf die Straßen und wünscht sich eine andere Art und Weise, wie man hier regiert, wie dieser Staat funktioniert. Es gibt sehr, sehr viele Initiativen für mehr Rechtsstaatlichkeit, für mehr Transparenz. In dem Sinne: Ich würde nicht nur skeptisch jetzt behaupten, alles ist schlimm. Es sind tatsächlich schlimme Sachen passiert. Es ist dieser brutale Doppelmord passiert, was immer noch ein Schock und ein Trauma für dieses Land ist. Aber trotzdem ist die Slowakei eine Insel der Demokratie, noch nicht eines autoritären Staates wie in der Region.
Heinlein: Kann man sagen, dass der Fall Kuciak, so tragisch er ist, die slowakische Gesellschaft aufgeweckt hat? Es gab ja im Anschluss die recht erfolgreiche Bürgerbewegung für eine anständige Slowakei. Ist die junge Generation in der Slowakei wacher und aufmerksamer als ihre Väter und Großväter?
Hvorecky: Ich hoffe, nicht nur die junge Generation. Ich glaube, das hat man auch erst nach dem Doppelmord verstanden, wie wichtig die freie Presse für Demokratie ist. Das hat man früher ein bisschen unterschätzt. Unser journalistischer Stand hatte einen nicht besonders guten Ruf im Land. Aber seitdem spüren die Journalisten und die Autoren einfach mehr Unterstützung von der Öffentlichkeit, weil man versteht, dass die eigentlich tatsächlich diese Kontrolle der Macht bedeuten.
Wir werden auch bei der Parlamentswahl Ende Februar sehen, ob dieses Land so tief gespalten ist, wie wir denken, ob sich tatsächlich eine Mehrheit die autoritäre Macht wünscht, oder demokratisch denkt. Das ist jetzt das Entscheidende.
"Der Kampf ist bei weitem noch nicht zu Ende"
Heinlein: Wie groß ist denn die Gefahr, die Sie gerade beschrieben haben, dass die Slowakei den Weg von Polen und Ungarn nehmen könnte und die alte Garde weiterregiert und an den Fundamenten wie in Polen von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit arbeitet?
Hvorecky: Ja, das ist schwer einzuschätzen. Überraschend ist die regierende stärkste sozialdemokratische Partei immer noch die stärkste politische Kraft in der Slowakei. In dem Sinne hat sich nicht so wahnsinnig viel verändert. Ein paar Politiker haben sie gewechselt, aber die tatsächliche Macht liegt immer noch bei der gleichen Regierungskoalition. In dem Sinne: Wir sind eine parlamentarische Demokratie. Es sollen die Menschen wählen gehen. Und dann entscheiden wir, wie sich die Slowakei weiterentwickelt. Der Kampf ist bei weitem noch nicht zu Ende.
Heinlein: Wie wichtig, Herr Hvorecky, vor dem Hintergrund, den Sie gerade geschildert haben, ist für die Gestaltung einer besseren Zukunft in den ost- und mitteleuropäischen Ländern dann auch die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, mit dem Erbe des Sozialismus?
Hvorecky: Das ist wahrscheinlich das Allerwichtigste. Diese Vergangenheitsbewältigung ist etwas, woran wir bis jetzt gescheitert sind. Die Machtstrukturen, die ich beschrieben habe, diese mafiaähnlichen Strukturen, die haben ihre Wurzeln eigentlich noch im Realsozialismus. Das sind oft die gleichen alten Apparatschiks, die einfach dann die Seite gewechselt haben und sich wirtschaftlich etabliert haben, aber nicht mehr politisch. Und es ist auch diese neue Art der Medien, soziale Netzwerke beeinflussen die Stimmung sehr.
Kocner selbst, der Hauptverdächtige, wollte ja auch YouTuber werden. Er hat die Journalisten bespitzeln lassen und hat sich diese Informationsmedien angekauft, um die Öffentlichkeit stark zu beeinflussen, gegen Demokratie, gegen den Rechtsstaat und für seine Macht.
"Die politische Bildung hat versagt"
Heinlein: Ist das dennoch immer noch in den Köpfen vieler Menschen, vielleicht gerade auf dem Land, dieses Erbe des Sozialismus, den Mund nicht aufmachen, sich wegducken und die Mächtigen in Ruhe lassen? Ist das noch in den Köpfen vieler Menschen?
Hvorecky: Ich glaube, schon. Das zeigen auch viele Statistiken. Wir haben tatsächlich Probleme damit, dass immer mehr Menschen, über die Hälfte glaubt, vor der Wende war es besser. Das Vertrauen nicht nur in den Rechtsstaat, sondern auch in die Demokratie sinkt, erodiert vor unseren Augen. Ich glaube, das hat die Politik auch nach der Wende unterschätzt. Man hat jahrelang geglaubt, dass der freie Markt, dass der Neoliberalismus dann auch mehr Demokratie bedeuten wird.
Die politische Bildung hat versagt und Leute verstehen einfach oft nicht, wie wichtig Demokratie ist für die freie Welt. Dieser Fall Kuciak, er hat eigentlich viele von diesen Strukturen aufgedeckt in seinen Recherchen. Deswegen ist sein Erbe so wichtig, weil er war jung, aber er hat gezeigt, wie wir mit der Vergangenheit und mit der Vergangenheit vieler Menschen in der Spitzenpolitik umgehen sollen, und die konnten seine Kritik einfach nicht ertragen.
Heinlein: Sie haben es angedeutet und das ist die Frage zum Schluss, Herr Hvorecky. In wenigen Wochen, im Februar wird bei Ihnen in der Slowakei ein neues Parlament gewählt. Es gibt die Bürgerbewegung, es gibt die neue Präsidentin Caputova. Kann der eigentliche grundlegende Wandel in den Köpfen und auch der politische Wandel nicht auf der Straße, sondern nur durch das Parlament geschehen? Ist das wichtig für diese Wahl?
Hvorecky: Na ja. Ich glaube, viele in Europa fühlen heute, dass es nicht mehr reicht, nur zu wählen. Aber das ist das Grundsätzliche. Wir sollen wählen gehen, aber auch mehr tun, mehr aktiv werden, sich engagieren, und das tun tatsächlich auch sehr viele. Es wird spannend, weil es sind tatsächlich in den letzten zwei Jahren auch ganz neue politische Parteien entstanden, junge Parteien mit jungen Leitfiguren.
Das heißt, es bewegt sich was, aber es dauert nun mal und die Gegenkraft ist auch sehr mächtig. Das heißt, die wollen einfach diese Macht nicht aufgeben. In dem Sinne gibt es in Osteuropa jetzt gerade sehr viele Tendenzen, diese Strukturen zu ändern, aber das geht nicht blitzschnell. Das geht nirgendwo so schnell.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.