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Der Fall Nawalny
„Noch kein Bruch in den deutsch-russischen Beziehungen“

Nach Ansicht von Putin-Biograf Alexander Rahr könne man nicht ohne Weiteres davon ausgehen, dass der Kreml hinter dem Giftanschlag auf Alexei Nawalny stecke. Möglicherweise seien Chemiewaffen der Kontrolle des Kremls entwichen. Rahr plädierte im Dlf für eine deutsch-russische Untersuchungskommission.

Alexander Rahr im Gespräch mit Dirk Müller |
Der russische Aktivist Alexej Nawalny wird in einer Isolationskapsel in die Berlin Universitätsklinik Charité eingeliefert
Über die Untersuchungsergebnisse des Kreml-Kritikers Alexej Nawalny besteht Uneinigkeit zwischen Deutschland und Russland (imago/Vyacheslav Filippov/TASS)
Die Bundesregierung sieht es nach Untersuchungen eines Speziallabors der Bundeswehr als zweifelsfrei belegt an, dass Kreml-Kritiker Alexej Nawalny mit dem militärischen Nervengift Nowitschok vergiftet wurde. Der Kreml hingegen dreht den Spieß einfach um: Alexei Nawalny vergiftet – das könne in Deutschland passiert sein.
In Lubmin in Mecklenburg-Vorpommern werden Röhren für die Gaspipeline Nord Stream 2 verlegt. Daneben steht ein Arbeiter.
Welche Bedeutung Nord Stream 2 für Deutschland und Europa hat Nach dem Fall Nawalny werden die Rufe nach weiteren Sanktionen gegen Russland laut. Dies könnte das Ende der Ostsee-Pipeline Nord Stream 2 bedeuten. Wie abhängig ist Deutschland vom russischen Erdgas? Braucht es eine zweite Pipeline durch die Ostsee? Welche politischen Interessen sind im Spiel?
Nach anfänglichem Zögern hat nun auch die Europäische Union der Überzeugung von Bundeskanzlerin Angela Merkel zugestimmt und fordert Sanktionen, die Nato wiederum fordert eine internationale Untersuchung. Alexander Rahr lehnt das ab. Der Politikwissenschaftler und Putin-Biograf, Berater von Gazprom und Honorarprofessor an der Moskauer Diplomatenhochschule für Ökonomie plädierte im Dlf für eine deutsch-russische Untersuchungskommission. Diese müsse die Umstände der Untersuchung von Nawalny in Deutschland ebenso wie eine Analyse der Blutproben des Kremlkritikers vornehmen. Denn es bestehe die Gefahr, dass Chemiewaffen aus der Kontrolle des Kremls entwichen seien - Nawalny habe in Russland viele Feinde.
"Chemiewaffen, die scheinbar aus der Kontrolle des Kremls entwichen sind"
Erst wenn eine solche Untersuchung abgeschlossen sei, sollte man Sanktionen erwägen. Noch könne von einem Bruch in den deutsch-russischen Beziehungen nicht die Rede sein, sagte Rahr im Dlf - Russland wolle aber sein Gesicht wahren.
Norbert Röttgen (CDU), Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses des Bundestags
Röttgen: Die einzige Sprache, die Putin versteht, ist Erdgas
CDU-Außenpolitiker Röttgen fordert eine scharfe Reaktion auf die Vergiftung des Kreml-Kritikers Alexej Nawalny. Die Pipeline Nord Stream 2 müsse auf den Prüfstand, sagte Röttgen im Dlf.
Dirk Müller: Herr Rahr, verstehen Sie wenigstens den Kreml?
Alexander Rahr: Ich habe noch keine offizielle wirkliche Nachricht aus dem Kreml bekommen. Ich glaube, was der Kreml jetzt sucht, ist, die Beziehung zu Deutschland nicht zu gefährden und zu Europa nicht völlig zu zerstören. Man will aber gleichzeitig das Gesicht wahren. Man will abwarten, und man will vor allen Dingen eine Untersuchungskommission, eine deutsch-russische und keine internationale Kommission bilden, die genau die Vorfälle jetzt untersucht, die in Bonn passiert sind, nämlich die Analyse der Blutproben von Nawalny in Berlin. Wenn das passiert, dann, glaube ich, wird es mehr Verständnis geben auf beiden Seiten. Entweder werden die Russen die Ergebnisse der Berliner oder Münchener Ärzte und Spezialisten akzeptieren oder nicht, aber dann können wir entscheiden, ob wir Sanktionen durchführen oder nicht. Ich verstehe diese große Empörung, die verstehen die Russen nicht, warum wir so empört sind. Ich verstehe sie. Es ist ein Positionspolitiker fast umgebracht worden, aber gleichzeitig müssen wir schauen, dass wir mit den Russen weiterhin ins Gespräch kommen, weil es geht jetzt nicht so sehr um Nawalny, meiner Meinung nach, obwohl es natürlich um ihn geht, sondern um die Chemiewaffen, die scheinbar, möglicherweise ja aus der Kontrolle des Kremls entwichen sind, weil ich der Überzeugung bin, dass das nicht der Kreml gewesen ist, sondern vagabundierende chemische Waffen, die in Russland auf dem Territorium existieren. Das ist eine riesige Gefahr.
Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) trifft im Kanzleramt zu einer Erklärung über die jüngsten Entwicklungen im Fall des russischen Regierungskritikers Alexej Nawalny ein
Deutschland in der Zwickmühle zwischen Geschäft und Moral
Nach dem Giftanschlag auf den Kreml-Kritiker Alexej Nawalny führt an Sanktionen gegen Russland kaum noch ein Weg vorbei, meint Theo Geers. Die bisherige Linie der Bundesregierung, die Gaspipeline Nord Stream 2 als rein wirtschaftliches Projekt zu behandeln, sei nicht mehr haltbar.
"Eine gemeinsame Untersuchungskommission ist besser"
Müller: Jetzt versuchen wir das noch mal zu sortieren, Herr Rahr. Sie sagen, die Russen verstehen die Empörung in Deutschland nicht, die Aufregung international, europaweit, weltweit. Warum verstehen die Russen das nicht?
Rahr: Erst mal sagen sie, dass das ihr eigener Staatsbürger ist, auf eigenem Territorium faktisch attackiert worden ist, und zweitens ist es in der Tat so …
Müller: Macht die Sache ja nicht besser, wenn es in Russland passiert ist.
Rahr: Macht es nicht besser, aber wir müssen mit dem Gegenpart ja reden, und die Russen sagen, dass es genauso gut Hinweise geben könnte oder Szenarien, nach denen die Täter von außerhalb Russlands gekommen sind. Das gehört sich aufzuklären. Es gibt Varianten, es gibt mehrere Möglichkeiten, jetzt vorzugehen. Ich glaube, die gemeinsame Untersuchungskommission ist besser. Die Engländer haben damals alles abgelehnt, mit den Russen nicht zusammenarbeiten wollen beim Fall Skripal. Ich schätze die deutsche Regierung anders ein. Ich glaube, man wird den Russen noch eine Chance geben, in Deutschland unter den Experten die notwendigen Analysen zu machen.
Die Arbeit im Anti-Korruptionsbüro von Kreml-Kritiker Alexej Nawalnyj geht auch nach dem Anschlag auf ihn weiter - "Nicht lügen und nicht stehlen" ist das Motto, 03.09.20
Mitstreiter führen Nawalnys Wahlkampf weiter
Die Videos des Kreml-Kritikers Alexej Nawalny von seinen Recherchen tauchen derzeit massenhaft im Internet auf. In einem dieser Wahlvideos führt er vor, wie Korruption in Tomsk vermutlich abläuft.
Müller: Das haben Sie so klar verstanden? Weil, wir haben gestern unterschiedliche Analysen und Nachrichten, auch Berichte in den Nachrichtenagenturen bekommen über die Reaktionen in Moskau. Wir haben zumindest eine Reaktion des russischen Außenministers Sergei Lawrow noch einmal festgehalten. Hören wir uns mal an.
Sergei Lawrow: Wir würden gerne wissen, ob Frau Merkel, nachdem sie uns seit zwei Tagen beschuldigt, plant, ihre Behörden anzuweisen, die Fragen unseres Generalstaatsanwalts zu beantworten.
"Noch kein Bruch in den Beziehungen"
Müller: Das heißt also, der schwarze Peter liegt jetzt auf der deutschen Seite?
Rahr: Ja, leider ist es ein Hin und Her. Die Russen sagen, sie haben ein Rechtsbegehren in Deutschland gestellt, Deutschland hat nicht geantwortet, Deutschland sagt das Gegenteil, sie sagen, die Russen müssen uns Informationen liefern. Wie gesagt, das ist aber noch kein Bruch in den Beziehungen, sondern eine Möglichkeit, jetzt gemeinsam, wie gesagt, eine Kommission zu bilden, um die Sache zu untersuchen.
Müller: Weil der Kreml, wie Sie sagen, definitiv überhaupt nicht weiß, wie das geschehen kann.
Rahr: Wissen Sie, wir können ja die Russen ja jetzt voll unter Druck setzen mit neuen Sanktionen, bloß wir dürfen nicht vergessen …
Müller: Aber es geht ja erst mal um die Aufklärung des Falls. Das ist ja der zweite Schritt.
Rahr: Ja, natürlich, um die Aufklärung des Falls und vor allen Dingen um die Chemiewaffen. Das muss man machen, und da sind wir dran interessiert. Das muss man auch erreichen, und einen anderen Weg sehe ich jetzt nicht, als die Russen zu einem Gespräch zu fordern, weil Chemiewaffen scheinbar nicht unter Kontrolle sind. Das ist das, was auch die Nato höchst interessiert. Das ist eine Gefahr für die ganze Welt, und die Sache muss man klären.
Müller: Das sagt die Nato, ja? Aber wenn der Kreml, die russischen Geheimdienste verantwortlich sein sollten, das ist ja das, was die Kanzlerin zumindest ganz klar so definiert hat, dann wäre das Problem mit den Chemiewaffen wiederum geklärt.
Rahr: Ich glaube, dass die Bundeskanzlerin das nicht so klar gesagt hat, sondern gesagt hat, sie fordert von Russland eine Erklärung. Auch Steinmeier hat gesagt, die Täter sitzen in Russland, aber es ist nicht klar. Das ist wie bei der Sache in England mit Skripal gewesen, ob der Kreml dahintersteht ...
"Es gibt keine hundertprozentigen Beweise, dass das der Kreml war"
Müller: Um den Kritiker eines Landes loszuwerden, hat sie auch gesagt.
Rahr: Ja, aber es muss ja nicht unbedingt sein, dass es der Kreml war, sondern es kann genauso gut sein, der Nawalny, der so viele Feinde in Russland hat und so viel recherchiert hat und vielen Leuten - Korruptionären, die Karriere kaputtgemacht hat, manche sogar davon vor dem Gefängnis stehen, dass sie auch dahinterstecken können. Das sind zwei Varianten, die müssen untersucht werden, und deshalb ist Aufklärung natürlich notwendig.
Müller: Schauen wir dann noch mal auf die anderen Zusammenhänge, die jetzt immer gezogen werden. Wir haben Alexander Litwinenko gehabt 2006, wir haben Sergei Skripal gehabt 2018, wir haben tödliche Schüsse auf Boris Nemzow gehabt, auf Anna Politkowskaja, alles Kritiker, Oppositionelle, die den Kreml, die sich auch ganz speziell gegen Waldimir Putin gestellt haben, die sind jetzt alle tot. Wenn Alexei Nawalny Glück hat, dann überlebt er diesen Anschlag. Ist es da so absurd, aus westlicher Sicht, aus deutscher Sicht, zu sagen, das war der Kreml?
Rahr: Skripal ist nicht tot, und zwei andere …
Müller: Skripal hat überlebt, da haben Sie recht.
Rahr: Pussy-Riot-Anhänger, die scheinbar auch vergiftet worden sind, sind auch nicht tot. Das heißt, entweder sind diejenigen, die vergiften, Stümper, Idioten, oder sie wollen provozieren, oder sie wollen Angst einjagen. Das sind alles Dinge, die festzustellen sind. Es gibt aber – ich muss das sagen, fast wie ein Detektiv –, es gibt keine hundertprozentigen Beweise, dass das der Kreml war.
Müller: Dann haben die Geheimdienste gut gearbeitet.
Rahr: Oder es gibt andere Leute, die nach Geheimdienstmanier arbeiten und ihr Handwerk schlecht, mehr oder weniger schlecht, verstehen, Angst einjagen wollen, aber ihre Sache nicht zu Ende gebracht haben.
"Russland will sein Gesicht natürlich nicht verlieren"
Müller: Also Sie sagen ganz klar Vorverurteilung?
Rahr: Ja, das ist ja auch fair. Man muss sagen, man muss abwarten. Wir werden ja in wenigen Tagen erfahren mehr oder weniger, was passiert ist. Wenn sich Russland so verhält, dass es überhaupt keine Informationen hergibt, dann haben wir eine andere Situation, aber im Moment sind wir doch erst zwei Tage, nachdem feststeht, dass mit Nowitschok der Anschlag verübt wurde. Dann sind wir in einer Situation, wo es noch Zeit genug ist, zu verhandeln. Russland will sein Gesicht natürlich nicht verlieren. Die Regierung will nicht mit dem Rücken zur Wand stehen. Das muss man ja auch verstehen. Außerdem kann Russland auch mit Sanktionen zurückschlagen. Wir sehen ja, was Lukaschenko jetzt macht. Er sperrt sein Territorium für Transite nach Asien. Wir werden durch Sanktionen natürlich auch Verluste erleiden. Da muss man immer abwägen, wenn man jetzt natürlich aus Gründen, Empörung, Sanktionen fordert und bestraft.
Müller: Zudem es ja, Herr Rahr, schon Sanktionen gibt. Zweiter Schritt, Sanktionen, Konsequenzen, Nord Stream 2, das wird diskutiert, das wird in der deutschen Politik von vielen zumindest gefordert, dieses ganze Projekt zumindest auf Eis zu legen, eventuell ganz zu canceln. Wie wichtig ist Nord Stream 2 für Russland?
Nord Stream 2 als Prestigeprojekt sehr wichtig
Rahr: Es ist natürlich ein Prestigeprojekt, sehr wichtig. Im Moment wird nicht so viel Gas gebraucht im Westen, deshalb, denke ich, ist dieses Projekt jetzt nicht so wichtig – es gibt ja Nord Stream 1 –, aber nichtsdestotrotz ist es wichtig für beide Seiten, weil damit wir auch als Europäer die Erdgasversorgung für Europa sicherstellen wollten für eine Zeit, wo Erdgas eine wichtigere Rolle spielen wird als Atomenergie, als Kohle und Öl.
Müller: Wirtschaftlich bedeutsam, hoher Anteil beim russischen Export?
Rahr: Ja, der wird sogar steigen, weil die Ressourcen in der Europäischen Union zuneige gehen, und wir sind auf Erdgaslieferungen angewiesen aus Russland, mit denen wir 50 Jahre lang zusammenarbeiten, aus Norwegen – ein sehr verlässlicher und guter Partner – und künftig auch Flüssiggas aus den USA.
Müller: Sie meinen jetzt Deutschland, aber wie wichtig ist es für Russland, was macht das in Russland aus? Wie viele Milliarden sind das, die da umgesetzt werden durch Nord Stream?
Rahr: Durch Nord Stream, ich kann jetzt nicht die Zahlen sehen. Es ist bloß eine Zukunftsinvestition. Noch einmal, in einer Zeit, wo möglicherweise andere Pipelines obsolet werden - das sind moderne Pipelines, die mit Gas Europa versorgen können, aber vor allen Dingen geht es auch darum: Deutschland hat sich ja bereiterklärt zu einem Hub, zu einem Verteiler von russischem Gas zu werden. Das war ein großer Vorteil für Deutschland.
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