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Der Fall Paty und die Reaktionen in Deutschland
"Wir dürfen die Augen nicht verschließen"

Die große Mehrheit muslimischer Schülerinnen und Schüler in Deutschland zeigt sich erschüttert von der Ermordung des französischen Geschichtslehrers. Eine kleine Minderheit aber rechtfertigt die Tat in sozialen Netzwerken und im Unterricht. Lehrerinnen und Lehrer fühlen sich allein gelassen.

Von Carsten Dippel |
Schüler in einem Klassenzimmer in einer Maria-Montessori-Grunschule in Berlin-Tempelhof
Konfliktfeld Schule - ist die Ermordung Patys ein Weckruf? (imago stock&people/ Liesa Johannssen)
Als der französische Lehrer Samuel Paty am 16. Oktober in der Nähe von Paris einem Terrorakt zum Opfer fiel, hatten die Berliner Schulferien. Zu Schulbeginn am Montag nach der Tat stand zunächst alles ganz im Zeichen neuer Maßnahmen gegen die Pandemie. Aber natürlich war auch hier die erschütternde Tat Gesprächsstoff unter Schülern und Lehrern. Am Montag darauf ordnete der Schulsenat für die Oberschulen eine Schweigeminute an.
"Das hat uns alle wirklich schockiert, dass also ein Lehrer, der eigentlich nur seinen Beruf ausübt und versucht, die Kinder mit Toleranz, mit Werten vertraut zu machen, dass der dann dafür mit seinem Leben bezahlen muss. Das hat uns alle wahnsinnig schockiert."
Beschimpfungen und Drohungen
Karina Jehniche leitet eine Grundschule in Berlin-Spandau, deren Schülerinnen und Schüler zu über 80 Prozent einen Migrationshintergrund haben. Bei der Schweigeminute an den Oberschulen kam es in einigen Fällen zu verbalen Entgleisungen. Schüler, die die Tat guthießen und meinten, Paty habe seine gerechte Strafe für die Verunglimpfung des Propheten erhalten. Es gab Beschimpfungen und Drohungen gegen LehrerInnen, die in der Presse über Probleme mit radikalisierten muslimischen Jugendlichen sprachen. Manche KollegInnen, sagt Jehniche, hätten Angst, sich überhaupt noch öffentlich zu äußern. Jehniche:
"Ich finde, soweit darf es doch in einer demokratischen Gesellschaft nicht kommen, dass man nicht öffentlich sagen darf, man ist schockiert, dass dort jemand ermordet wurde! Wenn so ein Punkt eingetreten ist, dass die dann Angst haben, sich öffentlich zu ihren demokratischen Werten zu bekennen, dann haben wir schon was falsch gemacht, wenn diese Angst schon bei den Menschen existiert. Dann ist eigentlich schon wieder fünf nach zwölf."
Geschichtsunterricht in Frankreich
Wenn in den Schulen der Banlieue die Shoah auf dem Plan steht, schalten viele muslimische Schülerinnen und Schüler ab oder äußern sich antisemitisch. Lehrkräfte versuchen ein neues Konzept: weniger Emotion, mehr Ideologiekritik.
Auch an ihrer Grundschule gebe es Kinder, die ungefiltert radikale Ansichten über die Ermordung des französischen Lehrers wiedergeben. Da werde schnell mal etwas nachgeplappert, was die älteren Geschwister oder gar die Eltern vorgeben. Und das bereite ihr Sorge. Jehniche:
"Aber sie sind auf dem Weg dahin, das zu ihrem eigenen Denken zu machen. Wir haben eine Gruppe von muslimischen Kindern, wo ich auch weiß, dass deren Eltern dafür sind, dass so ein Mann bestraft wird, der so klar für Toleranz spricht."
Kluft zwischen Schule und Elternhäusern
Der Fall Paty bringt etwas zum Vorschein, was auch in Deutschland und besonders in sogenannten Brennpunktbezirken wie etwa Berlin-Neukölln seit Jahren zu beobachten ist: Eine wachsende Kluft zwischen Schule und manchen Schülern und deren Elternhäuser, die den Staat, die Grundwerte dieser Gesellschaft ablehnen. Verbale Angriffe, Verachtung gegenüber Lehrinhalten, etwa zum Holocaust. "Erdogan, Ehrenmann" oder "wir Türken sind doch die Juden von heute" als Zwischenruf im Unterricht. Ein Teil der Schülerinnen und Schüler habe sich von der offenen, liberalen Gesellschaft entkoppelt, meint sie:
"Das heißt ja nicht mal unbedingt, dass die immer extremistisch sind. Das ist ja damit auch gar nicht gemeint. Aber wir erreichen mit dem, was wir tun, erreichen wir eben viele Menschen nicht. Wenn ich hier in den Umkreis meiner Schule gucke: Meine knapp 90 Prozent Eltern mit Migrationshintergrund gucken weder deutsches Fernsehen noch hören sie deutsches Radio noch lesen sie eine deutsche Tageszeitung. Also, das ist auch eine Illusion, die wir haben, die sich mit der Realität überhaupt nicht mehr deckt. Weil, das einzige Bindeglied zur deutschen Gesellschaft, das sind wir, indem wir mit ihren Kindern hier arbeiten."
Auszeichnung für Lehrerin Schmidthals
Mit muslimischen Schülerinnen und Schülern besucht die Lehrerin Sabeth Schmidthals frühere Konzentrationslager und Gedenkstätten. In Israel lernen sie jüdisches und arabisches Leben kennen. Dafür bekommt sie nun einen Preis.
Ein gutes Beispiel dafür sei der Ramadan. Es gebe immer mehr Kinder auch in den unteren Klassen, die die vierwöchige Fastenzeit einhalten wollen, obwohl das der Koran nicht vorschreibt. Fällt der Ramadan, bei dem tagsüber weder gegessen noch getrunken werden darf, auf heiße Sommertage, sei das ein gewaltiges Problem für die Schüler. Erst recht in einer Ganztagsschule, wie sie Astrid Sabine Busse, Vorsitzende des Interessenverbandes Berliner Schulleitungen, am andern Ende der Stadt in Neukölln leitet. Busse:
"Als ich junge Lehrerin gewesen bin, hatte ich ja immer Schülerinnen und Schüler muslimischen Glaubens. Das war ganz natürlich und normal, die Kinder haben ihre Feste gefeiert, haben aber zum Beispiel nicht gefastet, weil Kinder mussten damals überhaupt nicht fasten während des Ramadans. Das war also die Ausübung ihrer Religion. Und dann hat sich ja im Laufe der Zeit der politische Islam durchgesetzt und das ist etwas anderes."
Salafistisches Familienzentrum in der Nachbarschaft
Seit mehr als dreißig Jahren ist die engagierte Frau Lehrerin. Die über 600 Schüler an ihrer Einrichtung kommen meist aus arabischen und türkischen Familien. Viele LehrerInnen haben selbst einen Migrationshintergrund. Das Viertel habe sich in den letzten Jahren sehr verändert, gleiche immer mehr einer Parallelwelt mit einer eigenen Infrastruktur. In der Nähe liegt eine salafistische Moschee. Das angeschlossene Familienzentrum sei sehr beliebt, unabhängig davon, wie religiös die Eltern sind. Auch Kinder und Jugendliche ihrer Schule besuchten es. Busse:
"Und auf einmal hat man ganz viele auch junge Zuhörerinnen und Zuhörer. Dann sind das oft charismatische junge Männer. Also da steckt, finde ich, auch ein System dahinter und das macht man schon seit sehr langer Zeit. Das ist ein langer Plan."
Die übergroße Mehrheit der Schülerinnen und Schüler mit Migrationsgeschichte stehe dem fern. Sie will keine pauschalen Aussagen über "die Muslime" treffen. Sorge bereitet Astrid Busse aber der Einfluss der lauten Minderheit. Das äußere sich im Geschichts- und Biologieunterricht, wenn es etwa um die Evolution geht, bei Fragen zur Homosexualität und insbesondere beim Frauenbild. Busse:
"Also irgendwo wird kleinen Mädchen eingepflanzt, dass nicht Bildung und Selbständigkeit Erfolg im Leben ist, sondern eben ganz früh eine Familie zu gründen und der Mann ist dann das Oberhaupt. Die fragen eben nicht, wie erfolgreich bin ich bei den Bundesjugendspielen, sondern, kriege ich einen guten Ehemann. Und die Frage, wenn sie zehn Jahre oder jünger sind, finde ich dann immer schon sehr befremdlich."
Körperlichkeit als Problem
Ein anderes Konfliktfeld betrifft die Sexualkunde und den Schwimmunterricht. Dieser ist ab der dritten Klasse eigentlich obligatorisch. Doch manche Eltern lassen an diesem Tag ihre Kinder einfach zu Hause. Körperlichkeit und Sexualität werden als Problem aufgefasst. Sie wollen nicht, dass ihre Kinder Aufklärung erfahren. Es geht bei alldem um eine grundsätzliche Auseinandersetzung mit der Frage, wie weit die Religionsfreiheit letztlich reiche, sagt der Vorsitzende des Berliner Geschichtslehrerverbandes, Peter Stolz:
"Niemand geht den Prozess an, weil man Angst hat in der Öffentlichkeit, dass Riesenschwierigkeiten entstehen im gesellschaftlichen Gefüge, weil man sagt, also, wisst ihr, euer Islam so, wie ihr ihn im Moment lebt, ist für uns, in unserer Gesellschaft, nach unserem Grundgesetz nur in Teilen akzeptabel. Weil der ist in Teilen so außerhalb der Grundprinzipien des Grundgesetzes, dass das ja auch mit der Religionsfreiheit nicht abgedeckt ist."
Stolz ist Lehrer an einem Gymnasium in Berlin-Friedrichshain. Viele Schüler dort kommen aus atheistisch geprägten Elternhäusern. Als sie im Unterricht über den Fall Paty sprachen, musste er erst einmal darüber aufklären, was radikaler Islam bedeutet, weshalb Karikaturen in einer Satirezeitschrift zum Aufruhr in der muslimischen Welt führen. Stolz hat lange Zeit in Bezirken gearbeitet, die vor 25 Jahren noch einen geringen Anteil an Schülern mit Migrationshintergrund hatten, inzwischen aber in den Klassen eine deutliche Mehrheit darstellen.
"Hier kommen Kinder aus einer Sozialisation, wo die Instanzen, die für sie wichtig sind – Eltern, Großeltern, Imam –, die ihnen eine bestimmte Sicht geben, das gibt ihnen auch Halt und Identität. Bei uns lernen sie jetzt was anderes kennen und sie wissen manchmal nicht, was jetzt richtig ist."
Brücken errichten - durch Schulsozialarbeit
Eine Brücke zu bauen, sei die große Herausforderung. Verstärkt mit Schulsozialarbeitern zu arbeiten, sei ein richtiger Ansatz.
"Deswegen ist meine These immer, man müsste viel mehr über diese Problemlagen reden und gucken, wie man da einen Weg findet, dass die normalen schulischen Anforderungen, die wir ja haben, dass die durchgesetzt werden können und dass trotzdem die Kinder nicht den Eindruck haben, ihnen wird da was weggenommen."
Letztlich, so sagt es der erfahrene Lehrer, müssten sie in den Schulen ein Problem lösen, welches die Politik seit 30 Jahren nicht entschieden genug angehe. Auf keinen Fall dürfe der Staat die Augen vor dieser Entwicklung verschließen und die LehrerInnen mit den Konflikten alleinlassen. Vielleicht, so überlegt er, könne die schreckliche Tat in Frankreich einen Weckruf bedeuten.