Doris Schäfer-Noske: Gutes Essen hat in Frankreich genauso Tradition wie die Liebe zur Literatur. Und eine Zeremonie, die diese beiden Traditionen vereint, ist die Vergabe des wichtigsten französischen Literaturpreises, des Prix Goncourt. Jedes Jahr Anfang November, etwa eine Woche, bevor Weinfreunde den Beaujoulais Primeur kaufen können, treffen sich die Akademie-Mitglieder im Pariser Restaurant "Drouant" in der Nähe der Oper. Sie speisen zusammen und danach verkünden sie den Preisträger. Der darf sich freuen, weil sich sein Buch jetzt sehr gut verkaufen wird. Der Schriftsteller Michel Tournier, einst Preisträger und Akademie-Mitglied, bezifferte die Einnahmen schon vor ein paar Jahren auf eine Million Euro.
In diesem Jahr geht der Prix Goncourt nun an Jérôme Ferrari für "Le sermon sur la chute de Rome". Ein Favoritensieg, hört man. Aber wer ist dieser Autor überhaupt, Jürgen Ritte - in Deutschland ist Jérôme Ferrari ja kaum bekannt?
Jürgen Ritte: In Frankreich ist er bisher auch sehr wenig bekannt. Das war ein Geheimtipp. Dass man ihn zum Favoriten gemacht hat in den letzten beiden Wochen, lag unter anderem daran, dass die anderen Mitkonkurrenten, Patrick Deville, der heute gegen ihn im Endspiel war und nur mit einer Stimme unterlegen ist, oder etwa Joel Dicker, der schon den Preis der Academie Francaise bekommen hat, alle schon in irgendeiner Weise gefeiert worden sind, was jetzt zu ihrem Nachteil gereichte, denn offenbar waren sie nicht mehr prioritär für den Prix Goncourt, den nun Jérôme Ferrari bekommt, der aber für viele Franzosen ein Unbekannter ist.
Schäfer-Noske: Sie hatten es gerade schon gesagt: Joel Dicker hat den Preis der Academie Francaise bekommen. Der Prix Goncourt ist ja ursprünglich auch als ein Gegenmodell zur Academie Francaise gegründet worden - damals, als Edmond de Goncourt sich gewehrt hat dagegen, dass seine Freunde Gustave Flaubert, George Sand, Guy de Maupassant keine Chance hatten, in die Akademie aufgenommen zu werden. Das heißt, man versucht hier immer noch, andere Leute auszuzeichnen?
Ritte: Ja, obwohl sich die Vorgaben etwas geändert haben. Als die Brüder Goncourt ihr Testament für den Preis aufsetzten, der seit 1903 vergeben wird, hat die Academie Francaise vornehmlich lyrische Werke gekrönt. Der Roman galt als niederes Genre. Und um dem Roman einen Preis zu schaffen, haben die Brüder Goncourt testamentarisch ihr Vermögen und ihre Autorenrechte sozusagen in diesen Preis überführt. Heutzutage hat die Academie Francaise selbst ihren Großen Preis des Romans, das ist der Grand Prix du Roman. Insofern versucht man, sich, glaube ich, nicht mehr so voneinander abzusetzen.
Was die Spezialität des Prix Goncourt ist, wenn man von einer Spezialität reden kann, ist, dass er bevorzugt Romane auszeichnet, die mit zeitgenössischen Themen zu tun haben, gesellschaftlicher Problematik zu tun haben, oder aber mit historischer Problematik, insofern sie die Weltkriege betrifft. Das war lange Zeit überhaupt das Kriterium für den Prix Goncourt.
Schäfer-Noske: Worum geht es denn dann in "Le sermon sur la chute de Rome"?
Ritte: Es geht um den Versuch, das wahre Leben im falschen zu finden, wenn man es philosophisch ausdrücken will. Es sind zwei Freunde, die aus Paris wieder wegziehen, zurück nach Korsika, in Korsika eine Wirtschaft übernehmen, ein Bistro übernehmen, und dort mit anderen Freunden, Freundinnen sozusagen das geglückte Leben versuchen, in dem es nur noch um die richtigen Würste geht, um die Gäste geht, wie man abends auf der Terrasse sitzt, also das perfekte Idyll in Korsika. Und in dieses Idyll bricht dann - in Korsika ist das manchmal so - über Nacht in Form einer Explosion die Gewalt ein, und dann kommt die ganze korsische Geschichte und mit der korsischen Geschichte auch die französische Geschichte wieder hoch. Also es ist dann eine Geschichte von Gewalt, die zum Teil sehr weit zurückreicht.
Und der Titel ist nun ein Zitat des Heiligen Augustinus, der in seiner berühmten Predigt über den Verfall Roms gesagt hat: Es gibt kein Reich von Ewigkeit auf dieser Welt. Und eben auch kein Bistro in Korsika, das ewige Heimat des Glücks sein könnte.
Schäfer-Noske: Ist es denn eine gute Wahl aus Ihrer Sicht?
Ritte: Na, ich denke schon. Mein Favorit ganz persönlich war der knapp unterlegene Patrick Deville mit einer wunderbaren Geschichte, auch einer Dokufiktion, kann man sagen, über Alexandre Yersin, den auch kein Mensch kennt, aber er ist eine Figur, die es wirklich gegeben hat. Das ist der Entdecker des Pest-Bazillus. Und dessen aufregende Geschichte zwischen Frankreich, Deutschland und vor allen Dingen Vietnam, Indochina damals, erzählt Patrick Deville nach, und das in einem Stil, der einfach mitreißend ist, auch sehr komisch ist. Aber auch Jérôme Ferrari ist ein großer Stilist. Also es waren für meine Begriffe in der Tat zwei Romane jetzt im Endspiel, die es beide verdient hatten, weil sie beide literarisch sehr, sehr stark sind und auch vom Inhalt her einiges zu bieten haben.
Schäfer-Noske: Herr Ritte, heute ist ja noch ein wichtiger Literaturpreis vergeben worden: der Prix Renaudot. Wer hat den denn bekommen?
Ritte: Das war die große Überraschung heute. Den bekam Scholastique Mukasonga. Sie stammt aus Ruanda, ist ein Flüchtling aus Ruanda und erzählt die Geschichte eines Geschwisterpaares - zwei Mädchen, die den Häschern entkommen - und das zum Teil über Ägypten - und nach Frankreich kommen. Also auch das ist ein Thema, das den Jurys immer ganz gut gefällt, wenn die Frankofonie, also die Weltgeltung des Französischen, mit so einem Preis auch gefeiert werden kann. Das ist in ihrem Falle ja so, also eine ruandische Autorin, die auf Französisch schreibt und jetzt diesen Prix Renaudot bekommt, der traditionellerweise an die literarisch etwas experimentelleren und anspruchsvolleren Werke geht und vor allen Dingen an jüngere Autoren. Diese Dame hatte niemand auf der Rechnung, ihr Buch heißt "Notre-Dame du Nil", und ich glaube, das sollten wir jetzt lesen.
Schäfer-Noske: Jürgen Ritte war das über die Vergabe des Prix Goncourt und des Prix Renaudot.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
In diesem Jahr geht der Prix Goncourt nun an Jérôme Ferrari für "Le sermon sur la chute de Rome". Ein Favoritensieg, hört man. Aber wer ist dieser Autor überhaupt, Jürgen Ritte - in Deutschland ist Jérôme Ferrari ja kaum bekannt?
Jürgen Ritte: In Frankreich ist er bisher auch sehr wenig bekannt. Das war ein Geheimtipp. Dass man ihn zum Favoriten gemacht hat in den letzten beiden Wochen, lag unter anderem daran, dass die anderen Mitkonkurrenten, Patrick Deville, der heute gegen ihn im Endspiel war und nur mit einer Stimme unterlegen ist, oder etwa Joel Dicker, der schon den Preis der Academie Francaise bekommen hat, alle schon in irgendeiner Weise gefeiert worden sind, was jetzt zu ihrem Nachteil gereichte, denn offenbar waren sie nicht mehr prioritär für den Prix Goncourt, den nun Jérôme Ferrari bekommt, der aber für viele Franzosen ein Unbekannter ist.
Schäfer-Noske: Sie hatten es gerade schon gesagt: Joel Dicker hat den Preis der Academie Francaise bekommen. Der Prix Goncourt ist ja ursprünglich auch als ein Gegenmodell zur Academie Francaise gegründet worden - damals, als Edmond de Goncourt sich gewehrt hat dagegen, dass seine Freunde Gustave Flaubert, George Sand, Guy de Maupassant keine Chance hatten, in die Akademie aufgenommen zu werden. Das heißt, man versucht hier immer noch, andere Leute auszuzeichnen?
Ritte: Ja, obwohl sich die Vorgaben etwas geändert haben. Als die Brüder Goncourt ihr Testament für den Preis aufsetzten, der seit 1903 vergeben wird, hat die Academie Francaise vornehmlich lyrische Werke gekrönt. Der Roman galt als niederes Genre. Und um dem Roman einen Preis zu schaffen, haben die Brüder Goncourt testamentarisch ihr Vermögen und ihre Autorenrechte sozusagen in diesen Preis überführt. Heutzutage hat die Academie Francaise selbst ihren Großen Preis des Romans, das ist der Grand Prix du Roman. Insofern versucht man, sich, glaube ich, nicht mehr so voneinander abzusetzen.
Was die Spezialität des Prix Goncourt ist, wenn man von einer Spezialität reden kann, ist, dass er bevorzugt Romane auszeichnet, die mit zeitgenössischen Themen zu tun haben, gesellschaftlicher Problematik zu tun haben, oder aber mit historischer Problematik, insofern sie die Weltkriege betrifft. Das war lange Zeit überhaupt das Kriterium für den Prix Goncourt.
Schäfer-Noske: Worum geht es denn dann in "Le sermon sur la chute de Rome"?
Ritte: Es geht um den Versuch, das wahre Leben im falschen zu finden, wenn man es philosophisch ausdrücken will. Es sind zwei Freunde, die aus Paris wieder wegziehen, zurück nach Korsika, in Korsika eine Wirtschaft übernehmen, ein Bistro übernehmen, und dort mit anderen Freunden, Freundinnen sozusagen das geglückte Leben versuchen, in dem es nur noch um die richtigen Würste geht, um die Gäste geht, wie man abends auf der Terrasse sitzt, also das perfekte Idyll in Korsika. Und in dieses Idyll bricht dann - in Korsika ist das manchmal so - über Nacht in Form einer Explosion die Gewalt ein, und dann kommt die ganze korsische Geschichte und mit der korsischen Geschichte auch die französische Geschichte wieder hoch. Also es ist dann eine Geschichte von Gewalt, die zum Teil sehr weit zurückreicht.
Und der Titel ist nun ein Zitat des Heiligen Augustinus, der in seiner berühmten Predigt über den Verfall Roms gesagt hat: Es gibt kein Reich von Ewigkeit auf dieser Welt. Und eben auch kein Bistro in Korsika, das ewige Heimat des Glücks sein könnte.
Schäfer-Noske: Ist es denn eine gute Wahl aus Ihrer Sicht?
Ritte: Na, ich denke schon. Mein Favorit ganz persönlich war der knapp unterlegene Patrick Deville mit einer wunderbaren Geschichte, auch einer Dokufiktion, kann man sagen, über Alexandre Yersin, den auch kein Mensch kennt, aber er ist eine Figur, die es wirklich gegeben hat. Das ist der Entdecker des Pest-Bazillus. Und dessen aufregende Geschichte zwischen Frankreich, Deutschland und vor allen Dingen Vietnam, Indochina damals, erzählt Patrick Deville nach, und das in einem Stil, der einfach mitreißend ist, auch sehr komisch ist. Aber auch Jérôme Ferrari ist ein großer Stilist. Also es waren für meine Begriffe in der Tat zwei Romane jetzt im Endspiel, die es beide verdient hatten, weil sie beide literarisch sehr, sehr stark sind und auch vom Inhalt her einiges zu bieten haben.
Schäfer-Noske: Herr Ritte, heute ist ja noch ein wichtiger Literaturpreis vergeben worden: der Prix Renaudot. Wer hat den denn bekommen?
Ritte: Das war die große Überraschung heute. Den bekam Scholastique Mukasonga. Sie stammt aus Ruanda, ist ein Flüchtling aus Ruanda und erzählt die Geschichte eines Geschwisterpaares - zwei Mädchen, die den Häschern entkommen - und das zum Teil über Ägypten - und nach Frankreich kommen. Also auch das ist ein Thema, das den Jurys immer ganz gut gefällt, wenn die Frankofonie, also die Weltgeltung des Französischen, mit so einem Preis auch gefeiert werden kann. Das ist in ihrem Falle ja so, also eine ruandische Autorin, die auf Französisch schreibt und jetzt diesen Prix Renaudot bekommt, der traditionellerweise an die literarisch etwas experimentelleren und anspruchsvolleren Werke geht und vor allen Dingen an jüngere Autoren. Diese Dame hatte niemand auf der Rechnung, ihr Buch heißt "Notre-Dame du Nil", und ich glaube, das sollten wir jetzt lesen.
Schäfer-Noske: Jürgen Ritte war das über die Vergabe des Prix Goncourt und des Prix Renaudot.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.