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Der Feuerfluch des Llao

Gute und böse Geister, die in einem See wohnen, oder ein Erzengel, der mit Donner und Blitz auf der Erde erscheint - haben solche Mythen einen naturwissenschaftlichen Wert? Die erstaunliche Antwort ist: ja, zumindest manchmal. Seit einigen Jahren beschäftigen sich Geologen ganz ernsthaft mit diesen "Geomythen". Denn in manchen dieser Geschichten steckt ein wahrer Kern.

Von Dagmar Röhrlich |
    Mehr oder weniger verschlüsselt berichten sie von realen Katastrophen. Für die Menschen, die sie erlebt haben, waren sie so einschneidend, dass sie das Wissen darum an ihre Kinder und Kindeskinder weitergeben wollten. Die Mythen sollten warnen und das richtige Verhalten im Ernstfall selbst dann noch vermitteln, wenn das eigentliche Ereignis schon längst vergessen war. Genau das macht Geomythen so interessant für die Forschung.

    Geologen nutzen sie, um beispielsweise das Risiko eines Vulkanausbruchs besser einschätzen zu können oder um längst vergessene Gefahren zu entdecken. In Kamerun, wo 1986 ein See durch eine Kohlendioxideruptionen 1700 Menschen in den Tod riss, ist nun erforscht worden, wie solche Mythen entstehen, wie sie sich verändern und welchen Nutzen sie haben, um Opfer zu vermeiden.

    "Bislang stützten wir uns bei historischen Studien auf schriftliche Dokumente oder archäologische Funde. Mythen galten als wenig glaubwürdig. Inzwischen lernen wir aber, sie richtig zu interpretieren. Mit ihrer Hilfe können wir sehr weit in die Vergangenheit zurückschauen, bis in prähistorische Zeiten, als es noch keine Schrift gab – bis in die Jungsteinzeit."

    Es gab eine Zeit, da stieg Skell, der Gott des Himmels und der Erde, oft auf die Welt herab, um sich mit den Menschen zu unterhalten. Er wählte dazu den Berg Llao-Yaina, den ihr Mount Mazama nennt. Unter diesem Berg aber lebte der Gott der Unterwelt, Llao. Auch Llao liebte es, die Welt zu besuchen. Dazu schlüpfte er durch eine Höhle aus dem Inneren seines Berges nach oben, stieg auf den Gipfel, und sein Kopf berührte die Sterne. Eines Tages erblickte Llao bei einem seiner Besuche Loha, die Tochter des Häuptlings, und er verliebte sich in sie. Sie aber wies ihn zurück, weil er so hässlich war und aus der Unterwelt kam. Da wurde Llao wütend und stieß feurige Flüche aus. Erschreckt baten die Klamath-Indianer Skell um Hilfe. Skell stieg vom Himmel hinab, und die beiden Götter kämpften miteinander unter Donnergetöse. Sie ließen die Erde erzittern, bewarfen sich mit heißem, rotglühendem Gestein. Die Erde versank in tiefer, schrecklicher Dunkelheit. Es regnete brennende Asche. Alle Geister mischten sich in den Kampf ein, und die Menschen waren voller Entsetzen. Der Kampf tobte immer heftiger. Um die wilden Vulkangeister zu besänftigen, opferten sich schließlich zwei Medizinmänner: Gemeinsam stürzten sie sich hinab in den Schlund des Berges. Das beeindruckte Skell, den Gott des Himmels und der Erde, zutiefst, und er kämpfte erbitterter denn zuvor. Endlich trieb Skell Llao in die Unterwelt zurück. Mit einem Hieb zertrümmerte er den Berg über dem Kopf seines Gegners und versperrte ihm den Weg zurück. Llao war gefangen unter dem Gipfel des Mount Mazama. Und um dem düsteren Ort wieder Frieden und Ruhe zu schenken, füllte Skell ihn mit wunderbarem, blauem Wasser.

    Und vom Gott der Unterwelt hat niemand je wieder etwas gehört. Ein alter, nordamerikanischer Indianer-Mythos. Er ist wahr – wenn auch nicht wörtlich zu nehmen:

    "Der Stamm der Klamath berichtet, wie der Crater Lake in Oregon entstanden ist. Wir können diese Geschichte von einem gewaltigen Vulkanausbruch tatsächlich geologisch bestätigen, dabei hat sich dieser Ausbruch vor fast 8000 Jahren ereignet."

    Genauer: vor 7684 Jahren. Das verrät die Aschelage des Ausbruchs, die in grönländischen Eisbohrkernen entdeckt worden ist. Die Eruption des Mount Mazama muss gewaltig gewesen sein, erzählt Elizabeth Barber. Die Linguistin und Archäologin forscht zusammen mit ihrem Mann Paul Barber in Los Angeles an der Entstehungsgeschichten von Mythen. Sie arbeitet am Occidental College, er am UCLA Fowler Museum of Cultural History.

    "Wo heute der Crater Lake ist, erhob sich damals ein dreieinhalbtausend Meter hoher Vulkankegel. Bei dem Ausbruch flog der halbe Berg in die Luft, zurück blieb die Caldera, die sich im Lauf der Jahrtausende mit Wasser füllte."

    "Die Geschichte des Klamath-Stammes, der von Llao, dem Gott der Unterwelt angegriffen wurde, ist leicht als Eruption zu entschlüsseln. Die Feuerflüche sind Lavaströme. Und der Moment, als der Gott des Himmels den Berg über dem Kopf seines Gegners zerschmetterte, das war die Explosion."

    "Früher glaubten die Menschen, dass jemand etwas geschehen lässt. Sie sagten nicht: Ein Vulkan bricht aus, sondern der Gott der Unterwelt oder des Feuers oder wer auch immer ist wütend."

    "In unserer modernen Gesellschaft denken wir in Ursache und Wirkung, und unsere Wissenschaftler verwenden viel Zeit darauf, Auslöser zu finden. Traditionelle Kulturen haben keinen Zugang zu solchen Ursache-Wirkungs-Beziehungen. Die Menschen wissen nicht, warum ein Vulkan ausbricht. Wenn unser Gehirn aber keine vernünftige Erklärung hat, sucht es nach Analogien: Weil ich handle, damit etwas passiert, muss es auch jemanden geben, der diese Katastrophe gewollt und ausgelöst hat."

    Und so übersetzten die Menschen das Geschehen in Übernatürliches. Götter oder Geister griffen in ihr Leben ein – und meist waren sie verärgert. Die Mythen sollten die Nachfahren warnen oder ihnen erklären, wie sie überleben können, wenn die Geister wieder einmal zürnen. Und so stecken hinter vielen Geschichten reale Begebenheiten. Die Frage ist, hinter welchen Geschichten? Und wie lässt sich aus den für uns märchenhaften Erzählungen die Wahrheit herausschälen?

    Ein Olivenbaum spendet lichten Schatten, und eine Katze streicht durch das hohe Gras – der Garten von Luigi Piccardi in den Bergen bei Fiesole. Luigi Piccardi ist Erdbebengeologe am Consiglio Nazionale delle Ricerche CNR in Florenz. Seit einigen Jahren arbeitet er mit Geomythen, erzählt er. Die alten Überlieferungen sind nützlich, weil große Naturkatastrophen selten auftreten. Deshalb kommt man nicht weit, wenn man sich allein auf die schriftliche Zeugnisse aus den Archiven verlässt. Die Geomythen sind da so etwas wie ein verborgener "Schatz".

    "Ich bin indirekt durch die Untersuchungen historischer Erdbeben auf die Geomythen gestoßen. Als ich schriftliche Berichte aus der Renaissance und dem Mittelalter durchsah, fiel mir auf, dass die Sprache der Aufzeichnungen mit zunehmendem Alter immer stärker an die der Mythen erinnerte. Obwohl die mit dem Beben verknüpften Phänomene gleich sind, ändert sich ihre Beschreibung. Da sagte ich mir: Wenn ich im Gelände eine Störung finde, von der in jüngeren Quellen steht, dass an ihr die Erde gebebt hat, während die älteren Quellen mir für dieselbe Störung und mit denselben Phänomenen vom Erscheinen des Erzengels Michael erzählen, warum sollte ich zweifeln, dass es sich in beiden Fällen um ein Erdbeben gehandelt hat?"

    In der noblen Stadt Siponto, die sich zwischen dem Adriatischen Meer und dem Gargano-Gebirge erstreckt, erschien einst der Heilige Erzengel Michael. Dreimal zeigte er sich, und das dritte Mal, es geschah in der Nacht des 29. Septembers: Die Erde erbebte, selbst die Berge schwankten, eine dunkle Wolke verhüllte sie. Die Luft war erfüllt von Flammen! Aufgescheucht rannten die Menschen zu ihrem Bischof, suchten Hilfe und Rat. Dem aber hatte mitten im Getöse eine Stimme verkündet: "Höre, ich bin der Erzengel Michael und will, dass die Grotte im Monte Tumba in eine Kirche verwandelt wird. Haltet sie in Ehren!" Der Bischof und seine Getreuen liefen so schnell ihre Füße sie trugen zu der Höhle – und als sie ankamen, lag dort ein blutrotes Tuch ausgebreitet , wie für einen Altar. Und wo der Erzengel den Boden berührt hatte, waren seine Fußabdrücke zurück geblieben.

    "Der Mythos vom Monte Sant’ Angelo, der in der lateinischen Urschrift Monte Tumba hieß, beschreibt den Abstieg des Erzengels Michael auf die Erde. Der Engel erschien in einer schon im Altertum heiligen Höhle, und die Geschichte erzählt, dass der Abstieg ein schweres Beben entfesselte."

    Im Jahre 493 n. Christus erschütterte dieses Beben das Gargano-Gebirge in Apulien so schwer, dass der Boden aufriss, heißt es. Der Mythos – oder in diesem Fall besser: die Legende – beschreibt dieses Beben sehr genau. Trotzdem blieb es in den Erdbebenkatalogen lange unberücksichtigt, eben weil die Legende die einzige Quelle war. Noch vor 20 Jahren nahmen sich Geologen kaum solcher Geschichten an: Es schien "gefährlich" für die Reputation, zu leicht geriet man in die Ecke mystischer Atlantis-Sucher. Das hat sich geändert. Der Grund dafür ist der Untergang der Saurier – genauer: die Hypothese, dass ihnen vor 65 Millionen Jahren ein Asteroideneinschlag den Garaus gemacht haben soll. 1980 hatten Vater und Sohn Alvarez diese Idee veröffentlicht und damit einen Damm gebrochen: Zuvor war der Gedanke, dass geradezu biblische Kataklysmen den Lauf der Erdgeschichte umlenken konnten, tabu. Nun avancierten globale Katastrophen zum Forschungsgegenstand. Von da aus war es nur ein kleiner Schritt zu der Frage, ob nicht auch Mythen mehr sein könnten als Märchen. Deshalb beschäftigte sich Luigi Piccardi näher mit der Legende über das Erscheinen des Erzengels, verglich sie mit Geländebefunden – und entdeckte eine aktive Störung – direkt unter dem Heiligtum:

    "Der Geomythos erzählt uns vor allem, dass an diesem Ort starke Erdbeben auftreten, und das haben wir geologisch nachgewiesen. An der Störung können Beben bis zur Stärke sieben entstehen, mehr können wir in Italien überhaupt nicht bekommen. Allerdings sind diese Beben selten, es liegen wohl 1500 Jahre und mehr zwischen ihnen."

    Geologisch betrachtet entpuppten sich die Fußstapfen als die Stelle, an der bei dem Beben die Störung aufriss. Die Luft war mit Flammen erfüllt, weil während der Erschütterungen brennbare Gase aus dem Untergrund strömten und sich entzündeten. Die Erscheinung des Erzengels: Sie war ein starkes Erdbeben.

    "Weil dieses legendäre Beben aus den Erdbebenkatalogen ausgeschlossen war, galt das Gebiet als gering gefährdet. Jetzt beziehen wir es mit ein und das erhöht das rechnerische Risiko. Das Gebiet wird jetzt als sehr gefährdet eingestuft."

    Die Region wird inzwischen seismisch sehr genau überwacht. Das große Beben, von dem der Mythos berichtet, liegt mehr als 1500 Jahre zurück. Die Spannungen haben sich an der Störung wieder aufgebaut, jederzeit könnte sich ein neues Beben lösen. Und tatsächlich ist die Erde unruhig: Es vergeht keine Woche ohne Erschütterungen.

    "Jetzt können wir nur hoffen, dass sich die im Untergrund aufgestaute Energie in vielen kleineren Beben abbaut, und sie deshalb nicht mehr für ein großes Beben reicht."

    Ich werde euch von einer Zeit erzählen, lang ist es schon her, als der Himmel auf die Erde gefallen ist. Es begann alles mit einem schweren Regen. Die Menschen waren ängstlich und baten ihre Schamanen, den Regen aufzuhalten. Aber vergebens. Der nächste Tag sah die Wolken fallen. "Nun ist das Ende der Welt gekommen", sagten die Leute. Ein Mann riet ihnen, unter einem Pfefferbaum Schutz zu suchen – nur der Pfefferbaum sei stark genug, das Gewicht des Himmels zu tragen. Und der Himmel zerschmetterte die Hütten und die anderen Bäume und tötete die Menschen. Es war dunkler als in der dunkelsten Nacht, obwohl es heller Tag war. Ein paar Männer hatten es geschafft und mit ihren Familien Zuflucht unter den Pfefferbäumen gefunden. "Lebst Du noch?" fragte einer den anderen. "Ja", kam dann die Antwort. Der Himmel lag auf der Erde. Die Menschen versuchten, ihn mit Messern und Äxten zu durchstoßen: Es gelang nicht. Da erinnerte sich ein Mann an die Meerschweinchenzähne, die er seit Jahren an einer Kordel bei sich trug. Damit begann er den Himmel aufzuschneiden. Das rettete ihn. Da lief er schnell zu den anderen und gab ihnen je einen Zahn. Sie alle schnitten den Himmel über sich auf. Schon sahen sie den Tag wieder, und sie freuten sich.

    "Dieser Mythos der Nikvalé-Indianer beschreibt den Ascheregen eines großen, aber entfernten Vulkanausbruchs. Die Leute haben nichts von der Lava mitbekommen, keine donnernde Eruption. Auch von Hitze oder Glutwolken ist keine Rede, nur noch von großen Mengen Asche, die aus dem Himmel fielen, das Land unter sich begruben und das Atmen fast unmöglich machten."

    Auf 1000 Jahre bringt es diese Erzählung der südamerikanischen Nikvalé-Indiander aus dem Gran Chaco, erklärt Bruce Masse. Er ist Archäologe an den Los Alamos National Laboratories in New Mexico. Damit handelt es sich um einen alten Mythos, aber keineswegs um den ältesten. Der Kampf von Skell und Llao bringt es auf 8000 Jahre, und bei den Aborigines sind Forscher auf Erzählungen von wahren Ereignissen gestoßen, die möglicherweise 16 000 Jahre zurückreichen. All diese Mythen haben eines gemeinsam: Sie haben die Zeiten ohne größere Störungen überdauert. Elizabeth Barber:

    "Der Mythos der Klamath-Indianer von Skell und Llao wurde in den 1860er Jahren aufgeschrieben, als die Europäer erstmals in dieses Gebiet kamen, noch bevor die Vermischung der Kulturen begann. Deshalb wurde uns die Geschichte in einer sehr ursprünglichen Form überliefert."

    Der Pfefferbaum-Mythos der Nikvalé-Indianer wurde zu Beginn des 20. Jahrhunderts niedergeschrieben, als Ärzte, Anthropologen und Geistliche in Südamerika viereinhalbtausend Mythen zusammentrugen. Auch er ist unverfälscht, denn die Heimat der Nikvalé-Indianer lag sehr abgeschieden: Nach 1000 Jahren lebten die Nachfahren jener Menschen, denen der Himmel auf den Kopf gefallen war, immer noch im Land ihrer Ahnen. Genau solche Geschichten interessieren die Geologen. Es scheint, als ob ein Geomythos so lange überdauert, wie die Gemeinschaft der Menschen, die ihn erzählen.

    "Mythen, die von erdgeschichtlichen Ereignissen handeln, haben viel größere zeitliche Dimensionen, als Mythen, die von realen Personen berichten. Die verblassen schon nach 100 oder 150 Jahren. Sieht ein Volk dagegen Tag für Tag einen Berg, werden Geschichten über Jahrtausende hinweg erstaunlich genau weitergegeben."

    "In vielen Kulturen sind diese Mythen so wichtig, dass sie nur von Spezialisten erzählt werden, die bei großen Festen vor ihrem Publikum bestehen müssen. Auf Hawaii war es so, dass nur die Mitglieder bestimmter Familien Erzähler werden durften. Sie wurden in den Beruf hineingeboren, trainierten ihr Leben lang. Machten sie ihren Job schlecht, wurden sie getötet."

    Zweifelsohne ein Ansporn, die Geschichte getreulich wiederzugeben, ergänzt Bruce Masse – denn jeder im Publikum kannte sie in- und auswendig.

    "Durch meine Arbeit als Archäologe in der Südsee und besonders auf Hawaii habe ich gelernt, dass die Ureinwohner Mythen erzählen, die sich recht gut mit der archäologischen Überlieferung decken."

    Besonders gilt das für die Mythen über die Vulkangöttin Pele. Sie sind eng mit der Abstammungsgeschichte hawaiianischer Könige verknüpft: über 95 Generationen hinweg – oder etwa 2000 Jahre. 2000 Jahre, in denen die wütenden Schlachten Peles mit den Göttern und Geistern mit den Namen der Könige verwoben wurden. Diese Schlachten sind nichts anderes als eine endlose Abfolge von Vulkanausbrüche:

    "Pele war sehr gefürchtet, und die mächtigen Könige opferten ihr. Wenn sich ein Lavastrom einem Dorf näherte, ging der Herrscher zu der Lava, schnitt sich eine Locke des Haares ab und warf sie hinein, um Pele zu besänftigen und sie dazu zu bewegen, die Lava vor dem Dorf anzuhalten."

    Wann immer das Opfer geholfen hat, wurden ruhmvolle Mythen über diesen König erzählt. - Aber längst nicht immer nahm Pele das Geschenk gnädig an.

    Der Stammesälteste war gestorben, und das ganze Tal trauerte um ihn. Er war ein mächtiger Mann gewesen, und er wollte, dass sich die Menschen noch lange an ihn erinnerten. Deshalb hatte er seine Beerdigung genau geplant. Aber seine Familie war geizig. Warum sollten sie die fetteste Kuh schlachten, fragten sie sich. "Reicht die magere nicht auch für das Seelenmahl? Der Tote weiß nicht, dass wir seine Wünsche nicht erfüllen." Und so geschah es. Das Dorf aber lag nahe an einem See, und dieser See hatte den alten Herrscher gut gekannt. Er war entsetzt, wie wenig die Familie den Willen ihres Toten respektierte und wurde böse. Zornig wallte er auf, hauchte seinen tödlichen Atem über das Dorf. Eine weißliche Wolke stieg auf, breitete sich schnell über seine Ufer aus und wälzte sich den Berghang hinab, fast wie ein rauchender Strom. Die Wolke drückte alle Pflanzen nieder, knickte die Bäume. Nichts konnte sie stoppen: Weit drang der Rauch ins Land vor. So tötete der See alle Missetäter als Strafe für ihren Ungehorsam und Geiz.

    Über drei Kraterseen in Kamerun und Ruanda sind Schauergeschichten im Umlauf:

    "Die Seen töten Menschen, heißt es. Sie wechseln den Ort, explodieren, merkwürdige Dinge kommen aus ihnen heraus oder verschwinden darin. Wenn man etwa zu einer bestimmten Zeit ein Opfer bringt und in den See schaut, sieht man darin ein winziges Dorf, mit winzigen Leuten, die tanzen, Korn mahlen, kochen. Die Menschen in dieser Gegend haben Angst vor den Seen."

    Tatsächlich kommt aus dem Wasser immer wieder der Tod – so auch am 21. August 1986, als am Nyos-See in Kamerun mehr als 1700 Menschen starben, erzählt die Anthropologin Eugenia Shanklin vom College of New Jersey. Die Geschichte sorgte in der ganzen Welt für Schlagzeilen, vor allem als sich Eugenia Shanklin nach der rätselhaften Katastrophe an die uralten Mythen der Gegend erinnerte. Geologen untersuchten den See - und fanden die "Geister": Sie hausten tief unter dem Gewässer in der Magmenkammer eines Vulkans. Luigi Piccardi:

    "Die Geschichte vom Nyos-See ist einmalig, mit Blick auf die Bedeutung der Geomythen herausragend, denn bis 1986 war dieses Phänomen unbekannt. Am Nyos-See entweicht aus einer Magmenkammer ständig Kohlendioxid, das sich in den Wasserschichten am Seegrund löst. Das Tiefenwasser wird zu Sprudel. Normalerweise hält das Gewicht der Wassersäule das Kohlendioxid gefangen – aber schon ein kleiner Erdrutsch, ein schwaches Beben reichen, und alles schäumt auf wie Mineralwasser in einer geschüttelten Flasche. Das Kohlendioxidgas wird frei, strömt plötzlich als weiße, giftige Wolke aus, die in einem Umkreis von 25 Kilometern Tiere und Menschen tötet."

    Wie Nebel breitete sich das tödliche Gas über das Seeufer aus. Weil Kohlendioxid schwerer ist als Luft, blieb es am Boden. Wer in die Wolke geriet, starb. 1986 gehörten die Todesopfer fast alle Stämmen an, die in das Gebiet eingewandert waren. Sie hatten am fruchtbaren Seeufer gesiedelt, das die Einheimischen seltsamerweise nicht nutzten. Dass es einen guten Grund dafür gab, von dem Mythen erzählen, wussten sie nicht. Und das wurde ihr Verderben, sagt Elizabeth Barber.

    "Eine der wichtigsten Aufgaben von Mythen ist, echte Informationen zu überliefern. Das können bedeutsame Warnungen sein, wie etwa am Nyos-See. Es können aber auch Mitteilungen sein wie: Wir haben diese Stadt erbaut. Oder es ist praktisches Wissen, wie die Geschichten über Sternkonstellationen, die wichtig sind für Zeitberechnung oder Navigation."

    Solcherart Wissen lässt sich auch heute noch für die Katastrophenvorsorge nutzen: Nach dem Desaster bereiste Eugenia Shanklin das Gebiet um den Nyos-See im Auftrag der Regierung von Kamerun:

    "Ich sprach mit so vielen Überlebenden, wie ich konnte, und trug in Karten ein, welche Mythen sie kannten und wo sie sich während der Katastrophe aufgehalten hatten. So erfuhren wir, wo besonders viel Kohlendioxid aus der Wasseroberfläche entwichen war."

    Diese Karten wiesen die Gefahrenzonen um den See herum aus – und die wurden von den Behörden für die Besiedlung gesperrt. Dieser Geomythos mündete also tatsächlich in amtliche Verbote – zum Schutz der Menschen. Aber nicht alle Geomythen finden so viel Beachtung.

    "Tsunami sind oft in Mythen übersetzt worden, und der schreckliche Tsunami von 2004 ist da ein sehr interessantes Beispiel."

    In der realen Welt entstehen die Riesenwellen durch Seebeben oder untermeerische Landrutsche. In den Mythen haben sie übernatürliche Ursachen, die rund um die Weltmeere mit vergleichbaren Motiven beschrieben werden. So erzählen sich die Indianer in Britisch-Kolumbien von dem unversöhnlichen Kampf zwischen dem gewaltigen Donnervogel und einem Riesenwal, der die Wassermassen aufwühlt. Die Moken, die See-Zigeuner aus Thailand, glauben, dass wütende Ahnen die Erde von den Menschen reinigen wollen und deshalb die Menschenfresserwelle Laboon schicken. - Weihnachten 2004 müssen die Ahnen sehr wütend gewesen sein, denn Laboon tötete mehr als 300.000 Menschen. Sie wussten die Warnzeichen nicht zu deuten.

    "Die Mythen der Moken erzählen: Wenn das Meer verschwindet, schau’ nicht nach, was los ist, sondern lauf so schnell Du kannst in die Hügel!
    Weihnachten 2004 verstanden die Moken die Warnung ihrer Ahnen immer noch und flohen. Die Touristen dagegen und viele Einheimische waren vom Schauspiel des zurückweichenden Ozeans fasziniert. In den Tümpeln drängten sich die Meerestiere. Die Fischer lockte ein unerwarteter Fang, die Seegurken und Aale ließen sich einsammeln. Aber dann kam das Wasser zurück..."

    Geomythen sind "modern". Für die Geologen sind sie aber nur dann von Wert, wenn sich ihr wahrer Kern im Gelände wirklich mit harten Fakten untermauern lässt. Viele Geschichten lassen sich nicht mehr entschlüsseln. So sind bislang alle Versuche gescheitert, den von Feuer und Rauch begleiteten biblischen Auszug der Juden aus Ägypten mit einem bestimmten Vulkanausbruch zu verknüpfen, wie etwa dem des Thera 1625 v. Chr. Weder ist der Weg des Auszugs klar, noch die zeitliche Abfolge der Ereignisse. Damit lässt sich wohl nichts mehr anfangen. Aber immer wieder stoßen die Wissenschaftler auf Erzählungen, die wie Zeitkapseln von längst Vergangenem berichten. Etwa davon, wie es war, als vor 5600 Jahren ein Meteorit über dem Gran Chaco zerbrach. Die Krater sind in Argentinien noch heute zu sehen...

    Das ganze Dorf schlief fest. Es war Mitternacht. Da erwachte der Häuptling – und er sah, wie sich der Mond rötlich färbte. Erschrocken weckte er die anderen: "Der Mond wird gefressen", rief er entsetzt. Ein Jaguar! Das konnte nur ein Jaguar sein! Nur ein Jaguar, in dem die Seelen der Toten leben, kann den Mond jagen. Die Menschen schrieen vor Angst. Sie schlugen ihre hölzernen Mörser wie Trommeln, sie prügelten ihre Hunde, sie machten so viel Lärm, wie möglich, um den Jaguar zu zwingen, seine Beute los zu lassen. Aber vergebens. Die Luft war erfüllt von Brüllen, als Trümmer des Mondes auf die Erde fielen und sie in Brand setzten. Niemand konnte entkommen. Die Männer und Frauen rannten zum See. Das Wasser kochte – nur nicht da, wo das Schilf wuchs. Wer es nicht ins Schilf schaffte, starb. Er verbrannte lebendig. Das Feuer fraß alles – und erlosch. Denn ein großer Wind hob an. Regen peitschte das Land – und die Toten verwandelten sich in Vögel, die in den dunklen Himmel hinauf flogen.