Archiv


Der Front National auf dem Vormarsch

Mit Parolen gegen Einwanderer, den Euro und für mehr Sicherheit hat sich die Partei Front National inzwischen als dritte politische Kraft in Frankreich etabliert. In der Hafenstadt Marseille verbuchte die rechtsextreme Partei bei den Kantonalwahlen mehr als 40 Prozent. Doch was macht die Rechtsextremen für die Hafenstadt, in der jeder vierte Einwohner Muslim ist, so attraktiv?

Von Ursula Duplantier | 22.11.2011
    Weiße Betonblöcke mit bis zu 20 Etagen ragen steil in den dunkelblauen Himmel. Davor ein verwahrloster Sportplatz, mit Müll und einem verbrannten Moped. Eine trostlose Hochhaussiedlung aus Asphalt und Beton.

    Hier im Norden von Marseille wohnen vor allem Familien, die in den 60er-und 70er-Jahren von Afrika kommend nach Marseille eingewandert sind: Maghrebiner, Komoren und Einwohner der Insel Mayotte. Auch die 34-jährige Komorin Noro Issan ist hier groß geworden. Die Frau mit dem bronzefarbenen Teint und denen zum Zopf gebändigten Haaren ist bestürzt darüber, wie sich ihr altes Zuhause in den vergangenen Jahren verändert hat.

    "Es gibt hier eine soziale und sich ausweitende Misere. In diesen Hochhausgettos herrscht die größte Arbeitslosigkeit, vor allem unter den Jugendlichen. Es gibt viel Unsicherheit und Kriminalität. So ziehen sich die Bewohner immer mehr auf sich selbst zurück, sie haben Angst vor ihrem Nachbarn, Angst vor dem was passiert, sie haben sogar Angst vor der Jugend im Viertel, weil die sie angreifen könnten."

    Gerade hier, wo sich Armut und Arbeitslosigkeit ballen und die verschiedensten Kulturen zusammenleben, verbucht der rechtsextreme Front National seine größten Erfolge. Bei den Kantonalwahlen im März dieses Jahres erreichten die Rechtsextremen in den nördlichen Vierteln fast 40 Prozent. Einwanderer wählen also ausgerechnet die Partei, die Ausländer am Liebsten aus der Stadt verbannen möchte. Noro Issan kennt die Gründe:

    "Viele leiden unter der Gettoisierung. Man parkt sie in diesen Siedlungen, alle verschiedenen Kulturen miteinander. Sie müssen also zusammenleben, kennen sich aber nicht. Wenn es ein Problem gibt, sind die anderen Ausländer schuld. Sie selbst haben vergessen, dass sie Ausländer sind."

    Auch der Telekom-Angestellte Stéphane Ravier hatte von den Zuständen genug. Er ist Sohn einer italienischen Einwanderin. Als seine Siedlung immer weiter herunterkommt und dort immer mehr Afrikaner einziehen, wird er Mitglied beim Front National, mit 22 Jahren. Heute, 20 Jahre später, hat sich an den Zuständen in den Siedlungen kaum etwas verändert. Heute, 20 Jahre später, möchte in diesen nördlichen Vierteln keiner mehr wohnen. Stéphane Ravier ist inzwischen einer der führenden Regionalpolitiker der Partei.

    "Wenn man fünf Millionen Arbeitslose hat, sehe ich keinen Grund, warum man zweihunderttausend Ausländer pro Jahr kommen lassen soll, es sei denn um Sozialhilfe zu leisten. 96 Prozent von denen haben keinen Arbeitsvertrag, sodass wir ihnen Wohnungen verschaffen müssen, sie versorgen müssen, sie absichern - alles Kosten für die Gemeinschaft. Wir wollen vor dieser Situation warnen, in dem wir die Einwanderung stoppen, beziehungsweise die Strömung der Einwanderung umdrehen."

    Eine Stadt, die aber auch in diesem Jahr ihrem Ruf als Hochburg der Kriminalität alle Ehre macht. In den Schlagzeilen ist immer wieder die Rede von zunehmenden Überfällen, Morden und Drogenhandel, denen Polizei und Politiker offenbar machtlos gegenüberstehen. Da scheint der Front National mit seinem radikalen Programm gegen Einwanderer, Kriminalität und den Euro für viele Marseiller der einzige Ausweg. Seine Wähler kommen mittlerweile aus allen Schichten, auch immer mehr aus dem gehobenen Mittelstand. Denn die Rechtsextremen versprechen einfache Lösungen für die vielen Konflikte in Marseille, meint der Marseiller Soziologe Jean Viard.

    "Da ist natürlich die Arbeitslosigkeit, das Gemisch der Kulturen in dieser Stadt und das Problem mit den ehemaligen Kolonien wie Algerien. Außerdem gibt es hier Korruption und eine politische Klasse, die veraltet ist und Vetternwirtschaft betreibt.
    Die Wahl des Front National ist aber auch eine identitätsstiftende Wahl, von denen, die sagen möchten: Ich bin Franzose. Vor allem in einer Stadt, die an der Landesgrenze zum Mittelmeer liegt. Besonders Einwanderer, denen man es nicht direkt ansieht, wollen damit beweisen, dass sie zu Frankreich gehören."

    Für Noro Issan sind es alles Marseiller. Ob Italiener, Armenier oder Afrikaner. Sie wünscht sich, dass sich die verschiedenen Kulturen besser kennenlernen und zusammenhalten, statt sich gegenseitig für die Missstände in Marseille verantwortlich zu machen. Und dafür kämpft sie in der Stadt, die für sie und die vielen anderen Einwandererfamilien schon längst eine Heimat geworden ist.