Ein schmuckloser Saal für einen Gottesdienst: ein großes Holzkreuz an der Wand, davor die Kanzel und das Klavier. Die Gemeindemitglieder sitzen auf grauen Plastik-Klappstühlen. Etwa 100 Gläubige sind an diesem Sonntag in die Early Rain Covenant Church gekommen. Eine protestantische Untergrundkirche in der 15-Millionen-Metropole Chengdu im Südwesten Chinas. Pastor der Gemeinde ist Wang Yi.
"Wenn wir nicht verfolgt werden, predigen wir das Evangelium. Und wenn die Verfolgung droht, predigen wir weiter das Evangelium! Wenn wir nicht verfolgt werden, gehen wir auf die Straße und verkünden das Wort Gottes. Und wenn die Verfolgung droht, gehen wir weiter auf die Straße und verkünden das Wort Gottes! Amen!"
Gegen staatliche Kontrolle
Der Raum für den Gottesdienst liegt in einem der zahllosen Hochhäuser von Chengdu. Anfangs fanden die Gottesdienste zu Hause statt, daher auch im Chinesischen die Bezeichnung "Familienkirche". Es ist eine nicht registrierte Gemeinde, die im kommunistischen Regime der Volksrepublik China eigentlich keinen Platz hat. Aber genau das nimmt Prediger Wang Yi nicht hin.
"Wir diskutieren untereinander die Beziehung der atheistischen Regierung zum christlichen Glauben. Und warum wir dagegen sind, dass die Partei oder der Kommunismus die Gedanken, die Seele und den Glauben von Menschen kontrollieren. Wir sprechen darüber, warum das falsch ist!"
Wang Yi ist 45 Jahre alt, er war Dozent an der Chengdu-Universität und nennt sich selbst einen liberalen Intellektuellen. 2005 ist er Christ geworden und hat drei Jahre später seinen Job an der Universität gekündigt, um eine protestantische Gemeinde in Chengdu aufzubauen. 2008 waren es noch 80 Gemeindemitglieder, heute sind es über 1000 Gläubige, die regelmäßig zu den Gottesdiensten kommen. So wie Wei Li Na, sie arbeitet als Erzieherin in einem Kindergarten.
"Die Regierung kontrolliert, die Regierung zieht unsere Bücher aus dem Verkehr, unsere Gemeinde wird überwacht. Und das alles ist schlimmer geworden. In meinem Heimatort in der Provinz Henan haben sie ganze Gemeinden aufgelöst. Wir hatten dort sechszehn kleine Kirchen, die Regierung hat zehn davon geschlossen."
Die sündige Regierung
Auch die Gemeinde von Wang Yi bekommt fast jeden Sonntag Besuch von den chinesischen Sicherheitsbehörden. Normalerweise sind die Polizisten so höflich, sich draußen hinzusetzen und den Gottesdienst nicht weiter zu stören. Prediger Wang Yi gilt als politischer Quertreiber, in seinen Predigten kritisiert er nicht selten scharf die chinesische Politik.
"Wenn wir über den Präsident reden, erklären wir ihn zum Sünder. Und wenn wir über den Generalsekretär der Partei reden, erklären wir ihn zum Sünder. Wir glauben, dass wir die Verantwortung haben, Xi Jinping zu erklären, dass er ein Sünder ist. Die Regierung, die er führt, hat sich gegenüber Gott in großem Maße versündigt. Weil sie die Kirche unseres Herrn Jesus Christus verfolgt! Und wenn sie damit nicht aufhört, wird sie untergehen."
Die Repression gegenüber Religionsgemeinschaften hat unter Staats- und Parteichef Xi Jinping zugenommen. Anfang des Jahres ist in China ein neues Religionsgesetz in Kraft treten. Das sieht vor allem stärkere Kontrollen vor: von Geistlichen und von Gemeinden, von religiösen Materialien aus dem Ausland, von religiösen Internetseiten und kirchlicher Jugendarbeit. Die Logik der Kommunistischen Partei: China müsse sich vor fremder Unterwanderung durch Religionen schützen.
"Xi Jinping will die Gesellschaft umfassend kontrollieren. Aber die Kirche hat er noch nicht ganz unter Kontrolle. Deshalb lässt er Kreuze von den Kirchen abnehmen und löst große Treffen von Gläubigen auf. Die Regierung will verhindern, dass die Familienkirche ein Teil der chinesischen Öffentlichkeit wird."
Kirchen bekommen Zulauf trotz Repression
Nach dem Gottesdienst gibt es einen Gesprächskreis für Erwachsene. Thema unter anderem: Wie soll man sich während der chinesischen Flaggen-Zeremonie bei der Arbeit oder in der Schule verhalten? Für viele Chinesen ist das ein heiliger Moment, für die Christen um Pastor Wang Yi nicht.
Nach der Sonntagschule für die Kinder werden Tische zusammengeschoben, es gibt ein gemeinsames Mittagessen. Jeder hat ein Gericht mitgebracht, alles kommt auf die lange Tafel. Erst beten – dann essen.
Auffällig ist, wie jung die Menschen sind, die meisten hier haben kleine Kinder. Die chinesische Kulturrevolution in den 60er/70er Jahren hatte die Religion und den traditionellen Glauben weitgehend zerstört. Seitdem erlebt China seit rund 40 Jahren ein rasantes Wirtschaftswachstum. Fast jeder zweite Chinese bezeichnet sich heute als Atheist, passend zur offiziellen Ideologie der Volksrepublik. Trotzdem haben Glaubensgemeinschaften und Kirchen in den vergangenen Jahren Zulauf erhalten. Sind aber gleichzeitig immer gefährdet, sagt Pastor Wang Yi.
"In China können Familienkirchen jederzeit aufgelöst werden. Wir müssen die Orte wechseln, dürfen uns nicht versammeln und es besteht immer Verhaftungsgefahr. Ich habe mich an diesen unsicheren Lebensstil gewöhnt. Seit vielen Jahren rechne ich damit, meine Freiheit zu verlieren und in Haft zu kommen."
Wang Yi bekommt nicht mal eine Kreditkarte von seiner Bank, geschweige denn einen Immobilien-Kredit. Sein Beruf gilt als illegal.
Wenn die Gemeindemitglieder der Hauskirche ihr Liederbuch rausholen, ist es irgendwie immer auch ein Ansingen gegen die Repression und die Ungewissheit. Wenige Tage, nachdem wir die Gemeinde von Wang Yi in Chengdu besucht haben, werden 20 Gemeindemitglieder von der chinesischen Polizei festgenommen. Grund: sie hatten auf der Straße in Chengdu missioniert. Sie kamen nach einem Tag frei – und werden es wieder tun.