Marika Linntam hat sich daran gewöhnt, unsichtbar zu sein. Nicht persönlich, da ist sie durchaus präsent. Gerade ist sie über den Flur im zweiten Stock der estnischen Ständigen Vertretung in Brüssel geeilt und hat Unterlagen besorgt, mit deren Hilfe sie später ihren Botschafter vorbereiten will.
Schwarzes Kostüm, zusammengebundene Haare, das korrekte Äußere einer geübten Diplomatin. Aber ihre Aufgabe, die bleibt oft im Verborgenen. Als Linntam beschreiben will, was sie tut, greift sie auf eine Metapher zurück:
"Die Rolle der Anticis wird manchmal mit dem Öl im Getriebe verglichen oder auch mit dem Zement zwischen den Backsteinen in einer Mauer, also etwas, das kaum zu sehen ist, aber die Maschinerie zusammenhält."
Schmiermittel oder Kitt – wer seine Rolle so beschreibt, muss bescheiden sein, aber auch überzeugt vom eigenen Tun. Wenn der Zement nichts taugt, hält schließlich die stärkste Mauer nicht. Ihr Job sei schon einzigartig, sagt Linntam:
"I think there is no other work really quite like that."
Die Anticis sind benannt nach einem Italiener
Marika Linntam ist eine Antici. So heißen im Brüsseler Jargon hochrangige Diplomaten, die den Botschaftern der Mitgliedsstaaten assistieren. Benannt sind sie nach einem Italiener, der 1975 als erster diese Gruppe leitete.
Beim EU-Gipfel fällt Linntam eine besondere Rolle zu: Mehrere Stunden lang wird sie die einzige sein, durch die ihr Ministerpräsident physischen Kontakt zur Außenwelt halten kann — gemeinsam mit den Anticis aus den anderen EU-Staaten, die eigentlich unsichtbar bleiben, aber die Maschine am Laufen halten.
"Wenn unser Regierungschef wegen einer Sache Rücksprache halten muss oder eine Akte braucht, hat er einen roten Knopf, über den er mich herbeirufen kann."
Wenn die Staatspräsidenten, Regierungschefs und Kanzler miteinander reden, in der Regel viermal im Jahr, sollen sie unter sich bleiben, ohne große Delegationen, die die Dynamik im Saal stören könnten. Deshalb gibt es die Anticis als Verbindungsleute. Diese Rolle ist nicht mehr so wichtig wie einst, schließlich kann heute jeder Regierungschef auch sein Smartphone benutzen.
Eigentümliches Protokoll-Verfahren
Es sei aber noch einfacher, wenn sie für ihn die Google-Suche im Internet übernimmt, scherzt Linntam. Vor allem aber besteht ihre Aufgabe darin, zu protokollieren, was die "Chefs" sagen. Dafür gibt es ein eigentümliches Verfahren: Im Saal der Staats- und Regierungschefs sitzen zwei Protokollanten. Im Viertelstundentakt kommt einer von ihnen in den Antici-Raum und trägt vor. Die Anticis schreiben mit. Aus zweiter Hand erhalten Linntam und ihre Kollegen so einen Eindruck davon, worüber die Chefs sich einig werden und worüber nicht, wer nachgibt, wer stur bleibt. Sie erspüren die Stimmung, die vorherrscht.
"Und wenn wir hören, wie die Dinge im Saal laufen, können wir uns mit dem Rest der Delegation kurzschließen und reagieren."
Der Gipfel ist ein wiederkehrender Höhepunkt in Linntams Job. Die eigentliche Arbeit beginnt aber lange zuvor:
"Die Vorbereitung auf den Europäischen Rat fängt für uns im Grunde dann an, wenn der letzte gerade aufgehört hat. Dann versuchen wir herauszufinden, worum es beim nächsten Gipfel gehen wird und wie wir uns dafür am besten wappnen können."
Bei den Sitzungen wird nichts dem Zufall überlassen. Das meiste von dem, was die Staats- und Regierungschefs entscheiden, ist bereits vorher verhandelt worden, zwischen den Fachministern, den Beratern der Regierungschefs, den Botschaftern — und ihren Assistenten, den Anticis. Unzählige Sitzungen der Botschafter bereiten Linntam und ihre Kollegen vor. Sie holen fachlichen Rat ein und loten aus, wo es Gegensätze und wo es Gemeinsamkeiten gibt.
Fülle an Themen
Der Niederländer Said Fazili macht eine kurze Pause im Café des Ratsgebäudes:
"Bei den Anticis geht es ein bisschen weniger darum, die anderen Mitgliedsstaaten von der eigenen nationalen Position zu überzeugen. Es geht mehr darum, Informationen über all die anderen Positionen zu sammeln, um zu sehen, wo es gemeinsame Grundlagen für eine europäische Lösung gibt."
Eigentlich soll er den Antici-Raum während des Gipfels nicht verlassen. Aber wenn die Chefs gemeinsam zu Abend essen oder frühstücken, sind ihre Gespräche informell und werden nicht protokolliert. Auch Fazilis Kollegin aus Schweden, Helena Zimmerdahl, nutzt die Zeit zum Verschnaufen. Sie erlebt ihren ersten Gipfel als Antici:
"Ich bin keine besonders sportliche Person, aber ich glaube, ich erlebe dasselbe wie jemand, der das erste Mal einen Marathon läuft: ich bin müde, aber ziemlich zufrieden."
Zimmerdahl ist beeindruckt von der Fülle an Themen, mit denen sie und ihre Kollegen aus den anderen Staaten sich beschäftigen müssen:
"Anticis decken alles ab, von Finanzen und Wirtschaft über Justiz und Inneres bis hin zur Außenpolitik und dem Europäischen Rat. Wenn ich zu einem Antici-Treffen gehe, kann jedes beliebige Thema aufkommen: die Modernisierung der Zollunion zum Beispiel. OK, nie davon gehört, muss ich erst mal googlen."
Alle Anticis auf Augenhöhe
Was alle Diplomaten loben: Die Kollegialität in der Gruppe. Auch gehe es ebenbürtig zu, sagt Said Fazili:
"Der Unterschied zwischen großen und kleinen Staaten ist ein wenig geringer in der Antici-Gruppe. Es geht mehr darum, Informationen auszutauschen und auf gute Ideen zu kommen."
Auf der großen Bühne sieht das schon wieder anders aus. Das weiß auch die Estin Marika Linntam. Ein kleines Land wie ihres hat bei den meisten Themen nicht viel zu melden. Im Moment ist es anders. Estland hat die rotierende Ratspräsidentschaft inne - der Höhepunkt für Marika Linntam in den vier Jahren, die sie ihren Antici-Job schon macht:
"Das ist eine lange Zeit, die meisten halten nicht so lange durch. Aber ich hatte die Ratspräsidentschaft im Kopf."
Dass Estland einmal mehr ist als ein kleines Land unter vielen, das wollte sie noch miterleben, bevor sie überlegt, auf welchem diplomatischen Posten sie fortan dient. Das Öl im Getriebe wird bald jemand anders sein.