"Guten Tag, wir werden bei diesem Europäischen Rat eine Vielzahl an Themen besprechen."
Bundeskanzlerin Merkel ist am VIP-Eingang des Brüsseler Ratsgebäudes vorgefahren und wendet sich den Journalisten zu, die zu einer Traube gedrängt daneben dem warten.
"Ich werde hier einige Themen ansprechen, die aus meiner Sicht sehr zügig bearbeitet werden müssen."
Viel Neues ist in der Regel nicht zu erwarten, wenn die Staats- und Regierungschefs sich bei dieser Gelegenheit vor die Kameras und Mikrofone stellen. David Herszenhorn wird nach einer Weile trotzdem aufmerksam. Der Journalist steht nicht am Eingang. Er verfolgt die Ankunft der Politiker per Videoübertragung im gewaltigen Foyer des Ratsgebäudes, das für den Gipfel zum Pressezentrum umfunktioniert wurde. Einer seiner Kollegen hat ihn gerade angestoßen und auf Merkel hingewiesen. Sie sprechen beide kein Deutsch, aber trotzdem fällt ihnen etwas auf:
"Angela Merkel redet jetzt schon eine halbe Ewigkeit. Normalerweise ist dieser Ankunftskommentar ziemlich oberflächlich, ein kurzes Hallo und vielleicht ein paar Fragen. Aber nun steht da die Kanzlerin, die wichtigste Regierungschefin in Europa, und äußert sich ausführlicher als gewöhnlich. Also fragen wir uns: Was sagt sie uns, wie greifen wir das auf?"
"Es sind Indizien, auf die wir Reporter achten"
Herszenhorn spekuliert: Merkel kann in Brüssel momentan nicht so frei entscheiden wie sonst. Sie muss Rücksicht darauf nehmen, dass die neue Regierung in Berlin noch nicht steht. Will sie das kompensieren? Außerdem ist kurz vor ihr Emmanuel Macron angekommen. Der junge französische Präsident ist der neue Superstar der europäischen Szene. Hat Merkel Angst, dass er ihr die Führungsrolle streitig macht?
"Es sind Indizien, auf die wir Reporter achten, Stichworte, visuelle Anhaltspunkte, Geräusche, manchmal ändert sich nur die Atmosphäre im Raum und du merkst, irgendetwas ist anders. Zum Beispiel, wenn einer der Diplomaten hier im Pressezentrum auftaucht und berichtet, was oben im Saal passiert."
Herszenhorn ist Chefreporter von "Politico". Das vor allem online publizierte Politmagazin hat sich zur Aufgabe gemacht, den Brüsseler Betrieb aus europäischer Perspektive zu betrachten, nicht aus der jeweiligen nationalen Sicht wie viele andere Journalistenkollegen in Brüssel. Politico mischte vor zehn Jahren in Washington die Politikberichterstattung auf. Der europäische Ableger ist ein Joint Venture der Amerikaner mit dem deutschen Medienkonzern Axel Springer. Für Herszenhorn, der lange für die New York Times gearbeitet hat, haben Brüssel und der EU-Gipfel einen besonderen Reiz:
"Ich habe über andere große Hauptstädte berichtet, vor allem über Washington und Moskau. Und was mich nervös macht, ist, dass wir hier die 28 Regierungschefs haben, dann die drei Köpfe der EU-Institutionen – Rat, Kommission und Parlament –, 31 Leute also, und jeder von ihnen kann zu jedem beliebigen Zeitpunkt die nächste Schlagzeile produzieren."
Rund 4.000 Journalisten begleiten jeden Gipfel
David Herszenhorn blickt durch seine kleinen runden Brillengläser in das weite, vier Stockwerke hohe, glasgedeckte Atrium. An langen Tischreihen tippen die Kollegen der anderen Medien auf ihren Laptops, telefonieren oder unterhalten sich. Einige sprechen mit bedeutsamer Miene Aufsager in ihre auf Stative geschraubten Kameras.
Um die 4.000 Journalisten begleiten jeden EU-Gipfel. Und weil die meisten Beschlüsse der Politiker zuvor von Diplomaten ausgehandelt wurden und weitgehend feststehen, hört David Herszenhorn vor allem auf die Zwischentöne:
"Die formalen Schlussfolgerungen werden bis hin zur Zeichensetzung durchgekaut. Aber wenn es eine Debatte ohne gemeinsamen Beschluss gibt, über die Türkei und die Flüchtlingskrise zum Beispiel, dann ist der Austausch viel offener. Da erfahren wir, was die Politiker wirklich denken."
Doch um das zu erfahren, kann Herszenhorn sich nicht auf die offiziellen Verlautbarungen verlassen. Nach der Pressekonferenz von Ratspräsident Donald Tusk und Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker heftet er sich an die Fersen eines EU-Beamten. Der versorgt die Journalisten mit Hintergrundinformationen und versucht, den Reportern seine Sicht des Gipfels plausibel zu machen. Danach wagt David Herszenhorn ein erstes Fazit des Gipfels: Nach dem Brexit-Votum hätten die verbleibenden EU-Staaten die Reihen geschlossen, sagt er. Aber jetzt kehre wieder Normalität ein und damit der Zwist unter ihnen.
"Für mich ist es das Cannes der EU"
Zum Ende des Gipfels ist es nicht Merkel, die lange redet, sondern Frankreichs Präsident Macron. Seine Pressekonferenz verfolgt Maia de la Baume für "Politico". Die Französin ist mit der Politik groß geworden. Ihr Vater war Diplomat und zog mit seiner Familie von Polen in die USA, weiter in die Schweiz und nach Italien. Lange hat de la Baume in Paris gearbeitet, dann zog es sie nach Brüssel.
"Ich beobachte, wie Frankreich wieder mehr Gewicht in Europa bekommt. Das hatten wir verloren. Deutschland war übermächtig. Jetzt erhält Macron nicht nur Aufmerksamkeit, er sorgt auch für Optimismus in Brüssel."
Maia de la Baume hat vor den offiziellen Verlautbarungen bereits Diplomaten ausgequetscht, um möglichst viel von dem zu erfahren, was im Verhandlungssaal hinter verschlossenen Türen abgelaufen ist. Die Atmosphäre, die Konflikte, die Spannungen, die wolle sie heraushören.
"Leute werden bestimmt lachen, aber für mich ist der Europäische Rat das Festival von Cannes der EU."
Mit den Pressekonferenzen geht dieses "Festival" zu Ende. Für Maia de la Baume aber geht die Arbeit weiter. Während im französischen Pressesaal die Stuhlreihen abgebaut werden, tippt die Reporterin die wichtigsten Äußerungen Macrons in ihren Rechner. Die Kollegen brauchen sie für ihre Berichte.