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Der große Bagarozy

Wo wäre heute ein Ort, wo man seine fixen Ideen, Visionen und Gespenster los wird? In der talking cure der psychiatrischen Praxis. Sie ist die Ausnüchterungszelle für phantasmatisch Heimgesuchte. Die Poeten haben seit jeher eine instinktive Abneigung gegen räuberischen Redekuren. Sie lieben die wahnhafte Rede selbst. Und wenn ihnen so ohne weiteres niemand mehr glaubt, weil die Zeiten nicht danach sind, dann müssen sie eben ihre Erzähltechnik verbessern.

Hubert Winkels | 01.01.1980
    Nach dem Unhold Johanser, dem Helden seines letzten Romans "Thanatos", holt Helmut Krausser jetzt den großen Meister aus dem Hintergrund selbst auf die Bühne: den Teufel alias Stanislaus Nagy alias "Der große Bagarozy". Er sieht nicht schlecht aus, hat kleine, ins Violette spielende Augen und trägt einen alten Staubmantel. Er ist nicht von vorgestern, denn er weiß genau, daß Typen wie er nur noch kulturgeschichtliche Kuriosa sind. Andererseits trägt man schwer an der großen Vergangenheit, so daß man etwas gekrümmt geht und überhaupt recht melancholisch in die Welt schaut.

    Dieser Stanislaus Nagy nun, die inkarnierte Obsession einer früheren Zeit, hat ein Problem. Alleingelassen, weil sein großer Widerpart Gott das Zeitlose längst gesegnet hat, ist er von einer Schwäche befallen, die ansonsten nur Menschenkindem zukommt: er hat nämlich selbst eine Obsession, und die hat einen großen Namen: Maria Callas, auch Die Göttliche genannt. Und mit dieser Obsession sucht er nun die Psychiaterin Cora auf, die sich, wir erfahren es gleich auf den ersten Seiten des Romans, dadurch auszeichnet, daß sie eben keine Obsession hat. Sie ist ganz direkt unserer alltäglichen transzendenz- und leidenschaftslosen Mittelstandshölle entsprungen. Desinteressiert an Patientengeschichten, interessiert allein an Patientenhonoraren, reicht ihr Erwartungshorizont just bis zum nächsten grünen Hügel, wo die ganz Reichen hinter Elektrodraht wohnen, und wo sie mit ihrem ungeliebten Steuerberatergatten ein DINK (Double Income No Kids) - Leben mit zwei kastrierten schwulen Katern zu verbringen gedenkt.

    Krausser hat also für seine Geschichte übers teuflische Geschichtenerzählen eine letzte metaphysische Schwundstufe gewählt, auf der die Menschen nur noch an sozialem Aufstieg oder gelegentlich an makabren Todesfällen interessiert sind, der letzte Transzendenzagent Teufel hingegen ganz menschlich an unerfüllter Liebe leidet.

    Nun bietet sich solch ein Stoff für tiefe Grübeleien und schwere Zeichen geradezu an. Doch das ist Helmut Kraussers Sache diesmal nicht. Er geht es lockerer an denn je. Wahrscheinlich wollte er sich nach seinem schwarzen Romanbrocken "Thanatos" (und bevor er das Gegenstück "Eros" angeht) bei einem diabolisch- kecken 'Nebenwerk' erholen. Tatsächlich ist eine recht entspannte Humoreske entstanden, die man in einem Zug liest, ohne daß sich die Frage nach der tieferen Bedeutung dauernd aufdrängt wie dies zum Beispiel in Botho Strauß' jüngstem Erzählband "Wohnen, Dämmern, Lügen" geschieht, in den die Geschichte von Cora und Nagy von der Anlage her bestens hineinpaßt.

    Krausser kann Dialoge schreiben, Handlung vorantreiben, Pointen setzen. Eine Figur von innen auffalten, kann er nicht. Sein Stanislaus Nagy erzählt von der Callas lebhaft und detailreich, immer der Ungläubigkeit seiner Zuhörerin gewahr. Die kalte Cora blockt erst ab, doch nach und nach erliegt sie dem nonchalanten Charme ihres couchresistenten Klienten. Sie verläßt den sicheren Hafen der therapeutischen Praxis und sucht mit ihm Orte auf, die sich allesamt als Rückseiten unserer täglichen Wunschwelten lesen lassen. Sie folgt ihm in ein nächtliches Kaufhaus, trifft ihn in Spelunken, in düsteren Hafengegenden und in seiner Bettenburgkemenate, wo er zwischen Müll und Schmutz statt der Genitalien seine Callas-Devotionalien zückt. So erfährt sie die tragische Geschichte jener pickligen, dicklichen, von ihrer Mutter tyrannisierten Göre Maria Callas, wie sie die Weit sah, als diese ihr winselnd zu Füßen lag, wie das Callas-Idol wuchs, während die Person dahinter samt ihrer Stimme zu einem Häuflein Elend schrumpfte; und daß der fotogene schwarze Pudel der Diva niemand anderes als Nagy selbst war.

    Hier kann sich Krausser jenen süffigen Kolportageton leisten, den die Literaturliebhaber nur ertragen, wenn er Teil einer Fiktion ist, die sich selbst zur Disposition stellt. Und das tut sie. Was ist das eigentlich für eine Geschichte, die dieser unselige Nagy da erzählt? Will er mich aufs Kreuz legen, fragt sich die Psychiaterin, und wünscht sich nichts sehnlicher als eben dies. Sie will mehr sein als nur ein Ohr für soviel Leidenschaft. Als die professionell kalte Fassade bricht, verwandelt sich nicht etwa eine Frau, die Prosecco trinkt, in eine Frau, die zuviel liebt, sondern herauskommt eine Mischung aus schierem Kitsch und schierer Geilheit. Der Teufelskerl, der die Frau jetzt offenbar hat, wo er sie haben wollte, läßt sie allerdings abblitzen. Wie wild und erregt sie ist, möchte er schon wissen, doch als kalter Zuschauer des Lebens wendet er sich lässig wieder ab.

    Der Leser weiß sowenig wie die Frau selbst, ob hier der Teufel tanzt oder die eigenen Wünsche, ob phantasiert wird oder intrigiert, und wenn, aus welcher Not heraus oder zu welchem Ende. Es ist ein luftiges Spiel, satirisch, frivol, spitzfindig. Aber wenn der Roman schon eine Psychiaterin zur Heldin hat, dann sollte er auch an der Kunst, in eine Seele zu schauen, partizipieren. Die Figur ist von der ersten Seite an fixiert, schlimmer: denunziert. Ihre Fühlosigkeit ist behauptet, ihr Begehren bleibt rein fleischlich und andererseits abstrakt. Damit verharrt die klug ausgetüftelte und imposant aufgezogene Verwicklung im Stadium einer Versuchsanordnung.

    Blut sichert, einer alten Motivtradition zufolge, bekanntlich Recht wie Realitätsbezug. Mit ihm werden Teufelspakte unterzeichnet, und es signalisiert das Ende intellektueller Spielereien. Nicht so in diesem Fall. An einer Stelle, wo die Erzählung ein wenig zu zerfasern droht, hat Krausser, ein passionierter Schachspieler nebenbei bemerkt, einen geschickten Zug getan: Coras Mann, der stumpfe Steuerberater, der sich einzig noch an bizarren Todesfällen aus der Rubrik Vermischte Nachrichten labt (die wir denn auch, locker über den Roman verstreut, lesen), träumt vom Teufel und wie dieser ihm einige Alternativen für sein baldiges Ableben offeriert. Es ist die einzige Stelle, wo wir die Perspektive des Ehemannes einnehmen. Aufwachend blickt er in die Pistolenmündung, die ihm seine Frau vor den Kopf hält. Dann knallt's. Endlich ist das Opfer da, endlich hat der Teufel teuflisch zugeschlagen, endlich ist die Frau zum Werkzeug des Bösen geworden. Es wurde auch Zeit. Aber dann staunen wir nicht schlecht, daß Cora der Polizei jenen Patienten als verdächtig meldet, der ihr seine Callas-Besessenheit angetragen hat. Nagy wird gesucht, gefunden wird schließlich nur ein schwarzer Pudel, der sich schleunigst aus dem Staub macht. Auch der Mord wird somit Teil eines frivolen Spiels, bei dem bis zuletzt unklar bleibt, wer die Fäden zieht, wessen Projektionen wir folgen. Das Problem ist nur, daß es uns auch nicht recht interessiert. Wir bewundern die interne Organisation der Fabel, bleiben mit unserem Staunen aber draußen.

    Der kleine Roman vom "großen Bagarozy" ist ein leichthändiges Spiel mit alten und neuen Mythen. Krausser will sie nicht decouvrieren, und er will sie nicht mit Bedeutung aufladen. Er läßt sie testweise zirkulieren, geistreich und witzig. Weder die einmontierten ganzseitigen Callas-Fotos noch die Zeitungsnotizen wirken deplaziert. Der Autor zeigt, was er kann, und das ist nicht wenig. Doch eines passiert nicht: daß dieser Mythenmix uns anspricht, aufnimmt, für einen Moment vergessen macht, daß wir es mit einem Kunststück zu tun haben. Über einige Ausdrucksschwächen, Krausser-notorische Flüchtigkeiten, mag man sich ärgern. Das pseudopräzise 'Wegwerfnicken' der Psychiaterin in der sechsten Zeile stört uns ebenso wie das gekletterte Adjektiv 'formunvollendet', insbesondere vor dem Hauptwort Fetzen. Doch das sind läßliche Sünden. Was wir dem Könner Krausser übelnehmen ist eine Unbeteiligtheit des Erzählers, die auch uns unbeteiligt sein läßt. Selbst der coolste Teufel bedarf der Empathie, damit uns Lesern friert. Wir wollen unsere Gespenster nicht weg-, sondem in verbesserter Technik zurückbekommen.