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Der große Bluff

Mehr Schein als Sein – wer wäre gegen Versuchungen gänzlich gefeit? "Die Welt will betrogen werden", heißt es im "Narrenschiff" des Sebastian Brant. Der Hochstapler indes gilt als Betrugsspezialist, meist mit sozial imponierendem Habitus. Im Grimm'schen Wörterbuch wird er definiert als "Gauner, der als ein Vornehmer bettelt".

Von Dietrich Leube |
    Die US-Schauspieler Leonardo DiCaprio (r.) und Tom Hanks (l.) sowie der Regisseur Steven Spielberg stehen am 26.1.2003 in Berlin vor einem Kinoplakat zu ihrem Streifen "Catch Me If You Can".
    In dem Film "Catch me if you can" verkörpert DiCaprio (r.) den smarten Frank Abagnale, der sich trotz seiner jungen Jahre bereits ein beträchtliches Vermögen ergaunert hat. Zu sehen mit Tom Hanks (l.) sowie Regisseur Steven Spielberg. (picture-alliance / dpa / Stephanie Pilick)
    Doch ein Panoptikum von Heiratsschwindlern, Gaunern mit Enkeltrick oder den alltäglichen politischen oder finanziellen Hasardeuren ist wenig unterhaltsam. Unsere Aufmerksamkeit gilt vielmehr den Koryphäen der Gattung. Gern wird ihr Mut, ihre Dreistigkeit bewundert, erst ihr Fiasko bestraft man mit Hohn.
    Anders als der gemeine Betrüger betritt der Glücksritter die Bühne vor aller Augen, als Zauberkünstler. Mit den gefälschten Insignien von Macht, Reichtum, Ansehen entlarvt er die echten Attribute. Er verfügt über besondere Talente, geheime Rezepte, blendendes Auftreten – mit einem Wort: Charisma. Er sucht Menschen, die es nach einem Mehr im Leben gelüstet, und er findet sie.
    "Die Hochstapler bilden die Elite unter den Betrügern. Sie begehen nicht einzelne, gelegentliche Delikte, der Betrug ist im Allgemeinen ihr Lebenszweck. Sie sind außerordentlich beweglich, vortreffliche Schauspieler mit aus Selbstsuggestionen geborener Überzeugungskraft, besten Manieren und gutem wirtschaftlichen Verständnis und meist von sehr ansprechender äußerer Erscheinung. Sie können nicht nur einzelne Menschen, sondern ganze Massen und Gesellschaftsschichten für sich einnehmen." (Aus: Das große Lexikon des Verbrechens
    Auszüge aus dem Manuskript der ersten Stunde
    Frank Abagnale
    "Catch me if you can" – "Fangt mich, wenn ihr könnt: Die verblüffende wahre Geschichte des jüngsten und waghalsigsten Hochstaplers in der Geschichte von Spaß und Profit" – so lautete 1980 der Titel eines amerikanischen Bestsellers, den Steven Spielberg 2002 mit Leonardo DiCaprio in der Hauptrolle verfilmte. Der Name des realen Helden: Frank Abagnale, geboren 1948 in New York. Beruf: Seit den 70er Jahren freier Unternehmer als Gutachter und Berater im Dokumenten- und Urkundenbereich.
    Begonnen hatte seine märchenhafte Karriere im "Land der unbegrenzten Möglichkeiten", als er im Alter von sechzehn seinem Vater, Inhaber eines Schreibwarengeschäfts in der New Yorker Madison Avenue, aus einer finanziellen Klemme helfen wollte. Als die Eltern sich scheiden ließen, beschloß der brave Junge, sie wieder zu versöhnen, indem er das nötige Geld beschaffte. Nach ersten Mißerfolgen mit gefälschten Benzinschecks begann bald darauf – learning by doing – sein atemberaubender Höhenflug: Innerhalb von knapp fünf Jahren erzielte er einen Umsatz von rund 2,5 Millionen Dollar, und zwar in der Verkleidung eines Piloten von "PanAm", als Arzt, Anwalt oder Geschichtsprofessor. Sein "Produktionsmittel": erstklassige falsche Schecks. Natürlich mußte er den jeweiligen Ort seiner kreativen Tätigkeit häufig wechseln, zumal es sich ein FBI-Agent in den Kopf gesetzt hatte, in einer Schnitzeljagd durch 26 Länder und von mehr als einer Million Meilen das Spiel zu gewinnen. Als "Fluchtmittel" erwies sich ein gut gemachter "PanAm"-Ausweis.
    Doch 1969 wurde eine Spielpause eingelegt, als Frank Abagnale in Frankreich geschnappt, nach Schweden und schließlich in die USA ausgeliefert wurde. Ohne jedes Verständnis für die Talente des Urkundenkünstlers wurde er zu zwölf Jahren Gefängnis verurteilt, doch nach wenigen Jahren auf besonderen Wunsch der amerikanischen Regierung wieder freigelassen, um seine Fähigkeiten dem FBI zur Verfügung zu stellen. Dort hielt er für dessen Experten Fortbildungsseminare.
    Als sich in der ganzen Welt Behörden und Unternehmen für den Wunderknaben interessierten, gründete er die Consulting-Firma "Abagnale & Associates", die seither mit großem Erfolg auf dem Gebiet des kreativen Finanzverkehrs und des innovativen Umgangs mit Urkunden aller Art präventiv tätig ist. Die Jugendsünde von 2,5 Millionen hatte rasch beglichen werden können.
    Irving Goffman
    Wir alle spielen Theater

    Die Selbstdarstellung im Alltag.
    Vorw. v. Ralf Dahrendorf.
    2009 Piper
    "Wir alle spielen Theater": Das Buch des amerikanischen Soziologen Irving Goffman hat in den 60er Jahren - nicht nur in der Wissenschaft - Karriere gemacht. Der Erfolg war wohl nicht zuletzt seinem leicht frivol klingenden Titel geschuldet. Denn die Untersuchungen elementarer Verhaltensmuster, insbesondere die der Selbstdarstellung des Menschen im Alltag, warteten keinesfalls mit spektakulären Entdeckungen oder kühnen Thesen auf. Schließlich können wir uns in hellen Momenten selbst eingestehen, daß wir nicht ohne gute Ausreden und Mittel der Selbstbestätigung, nicht ohne unsere großen und kleinen Lügen durch den Tag kommen. Um nicht die Balance zu verlieren, kommt es doch wesentlich darauf an, daß wir an den Anschein von Wirklichkeit glauben, den wir bei den Anderen zu erzeugen suchen.
    Grob vereinfacht gesagt, handelt es sich im täglichen Miteinander also darum, zu täuschen, möglichst, ohne getäuscht zu werden. Soweit das Schema.
    Wir wollen uns heute allerdings mitnichten über "Interaktionsrituale", "Impression Management", "Rahmenanalyse" und dergleichen unterhalten, sondern über Großformate von Strategien der Täuschung und des Schwindels, die über das alltägliche Maß von Trickserei, Aufschneiderei, Schlitzohrigkeit, Schmeichelei, Opportunismus, Schönrednerei und was sonst die vielfältigen Formen des Umgangs mit unseren Nächsten sind, weit hinausragen – durch ihre Virtuosität, ihre Tollkühnheit und nicht selten das Geniale streifende Kreativität. Mit einem Wort : über Hochstapelei als schöne Kunst.
    Conrad Bussow (* 1552 oder 1553, vermutlich in Ilten bei Hannover; † 1617) war ein deutscher Offizier und Abenteurer und der Verfasser der Moskowitischen Chronik (Originaltitel: Verwirrter Zustand des russischen Reichs ...), einer Chronik Russlands zur Zeit der Smuta (dt. Zeit der Wirren). Trotz ihrer mitunter nicht zuverlässigen Wiedergabe von Fakten gilt Bussows Moskowitische Chronik als eine der wichtigsten nicht-russischen Quellen für die Geschichte Russlands zwischen 1584 und 1613. Mehr
    "Ein wunderseltsame Histori von Arnoldo Tillio, welcher sich zu Artigat in Lombardey bei Betranda Rolsia für Martin Guerra, ihren abwesenden rechten Ehemann auf gegebene Wahrzeichen zugetan, auch unwissend von ihr dafür erkennet und aufgenommen worden und in dreyen Jaren zwey Kinder mit ihr erzeuget, bis endtlich der Betrug an Tag kommen und er nach langwiriger Rechtfertigung erstlich zu Artigat, darnach auch zu Tolossa, dahin er freffentlich appelliret, auf allerley ergangene Kundtschafft und persönliche Darstellung des rechten Martin Guerra zum Tode verurtheilet, wieder gen Artigat geführet, mit dem Strang am Galgen erwürget und zu Aschen verbrennet worden."
    "Ein wunderseltsame Histori von Arnoldo Tillio, welcher sich zu Artigat in Lombardey bei Betranda Rolsia für Martin Guerra, ihren abwesenden rechten Ehemann auf gegebene Wahrzeichen zugetan, auch unwissend von ihr dafür erkennet und aufgenommen worden und in dreyen Jaren zwey Kinder mit ihr erzeuget, bis endtlich der Betrug an Tag kommen und er nach langwiriger Rechtfertigung erstlich zu Artigat, darnach auch zu Tolossa, dahin er freffentlich appelliret, auf allerley ergangene Kundtschafft und persönliche Darstellung des rechten Martin Guerra zum Tode verurtheilet, wieder gen Artigat geführet, mit dem Strang am Galgen erwürget und zu Aschen verbrennet worden."
    Lug und Trug: Die Kunst der Hochstapelei - Welcher Reiz von echten Vertretern dieser Betrügerkaste ausgeht, zeigt ein Ausritt in die Vergangenheit. Nachlesen
    Natalie Zemon Davis
    Die
    wahrhaftigeGeschichtevonderWiederkehrdes Martin Guerre
    Mit e. Nachw. v. Carlo Ginzburg. Aus d. Amerikan. v. Ute u. Wolf H. Leube .
    Wagenbach
    Das Languedoc im 16. Jahrhundert ist der Schauplatz eines historischen Kriminalromans: Ein Bauer, Ehemann und Vater verschwindet spurlos, taucht nach Jahren wieder auf und ist doch nicht, der er vorgibt zu sein.
    Die Chromolithografie ais dem 19. Jahrhundert zeigt eine magische Zeremonie, abgehalten von Giuseppe Balsamo, auch bekannt als Graf Cagliostro (1743-1795) als Teil eines Freimaurer-Rituals.
    Die Chromolithografie ais dem 19. Jahrhundert zeigt eine magische Zeremonie, abgehalten von Giuseppe Balsamo, auch bekannt als Graf Cagliostro (1743-1795) als Teil eines Freimaurer-Rituals. (imago / Leemage)
    Auszüge aus dem Manuskript der Zweiten Stunde:
    Giuseppe Balsamo
    "Er gab sich in jeder Hinsicht als Wunderknabe. Er wollte verblüffen und verblüffte auch tatsächlich. Er hatte eine entschiedene Art zu sprechen, die jedoch nicht missfiel, denn er war gelehrt, sprach fließend alle Sprachen, war sehr musikalisch, ein großer Kenner der Chemie, besaß angenehme Züge und verstand es, sich bei allen Frauen beliebt zu machen. Er war weder unverschämt noch achtbar, aber wider meinen Willen erschien er mir merkwürdig, denn er setzte mich wirklich in Erstaunen. Dieser Mensch war so glücklich über seine Narrheit."
    An Cagliostro allerdings, mit dem er manches Mal in einem Atem genannt wurde, läßt Casanova kein gutes Haar. Er beschimpft ihn als "eines jener arbeitsscheuen Genies, die ein Landstreicherleben der Arbeit vorziehen", nennt ihn schlicht einen "ungebildeten Gauner".
    Wenn jedoch von den Großmeistern der Hochstapelei im 18. Jahrhundert die Rede ist – vom exzentrischen Spiritisten James Graham, vom politischen Abenteurer und "König von Korsika" Theodor von Neuhoff oder den Alchemisten und "Goldmachern" Caetano und Klettenberg –, dann wird an erster Stelle stets Cagliostro genannt. Warum gerade dieser als hässlich, vulgär und unverschämt beschriebene Schwindler den Reigen anführt, ist eine Frage, die weniger seine Fähigkeiten als seine Wirkung, also sein williges Publikum betrifft. Doch davon später.
    Zunächst jedoch einiges Wissenswertes aus seinem Leben, soweit die Details einigermaßen gesichert sind.
    Giuseppe Balsamo, der sich auf dem Zenith seiner Laufbahn Cagliostro nannte, soll als Sohn eines Kurzwarenhändlers 1743 in Palermo geboren sein.
    Man muß sich den jungen Balsamo als einen intelligenten, gerissenen sizilianischen Gassenjungen vorstellen. Mönche bringen ihm Lesen und Schreiben bei. Er tanzt ihnen auf der Nase herum, wird davongejagt, schlägt sich durch als geschickter Fälscher von Urkunden, und sei es auch nur einer Theaterkarte. Er will von Schätzen in Meereshöhlen Kenntnis haben, läßt sich dieses Geheimwissen bezahlen und macht sich aus dem Staub. Leibliche Genüsse gehen ihm über alles. Doch nicht die geringste Lust dürfte es ihm bereitet haben, seine Zeitgenossen zu beeindrucken und übers Ohr zu hauen. Auf der Flucht vor den Opfern seiner Überredungskünste und vor der Polizei taucht er unter und etliche Jahre später in Rom wieder auf, wo er die vierzehnjährige Tochter eines römischen Gürtlers heiratet – Lorenza Feliciani, genannt Serafina, nach der Schilderung von Augenzeugen ein auffallend hübsches Mädchen. Von nun an, man schreibt das Jahr 1768, arbeiten die beiden als erfolgreiches Gespann, Serafina als Lockvogel und ihr Mann als Impresario.
    Es bedarf einiger Phantasie, sich auszumalen, was diese Lebens- und Arbeitsgemeinschaft für die junge Frau bedeutet haben mag. Wohl ergab sich dabei auch für sie manch spaßiger Schabernack, etwa wenn sie sich einem wohlhabenden Lüstling zum Schein zugänglich zeigte, dann aber auf ein vereinbartes Zeichen der empörte Gatte dazwischentrat und der überrumpelte Ehrenmann sich von der drohenden Schmach freikaufen mußte.
    Michael Schneider
    Das Geheimnis des Cagliostro

    Roman.
    2007 Kiepenheuer & Witsch
    Magier, Wunderheiler, Scharlatan: Des Grafen Cagliostros wundersamer Aufstieg und Fall Der Roman über das Geheimnis eines schillernden und gefährlichen Lebens: Mozart schuf Sarastro nach seinem Vorbild, Goethe machte sich in Palermo auf die Suche nach seiner Familie. Der selbsternannte Graf Cagliostro ist einer der berühmtesten und rätselhaftesten Männer des 18. Jahrhunderts und fällt in die Hände der römischen Inquisition.Es beginnt mit dem Ende: Im Jahr 1791 macht der Großinquisitor Zelada dem Grafen Cagliostro den Prozess. Der vom europäischen Adel hofierte, von den Massen geliebte und von den Brüdern seiner ägyptischen Loge verehrte "Großkophta" schweigt zumeist bei den Verhören, doch seine "Bekenntnisse, von eigener Hand in der Bastille verfasst" geben beredte Auskunft über ein atemberaubendes Leben, das immer am Abgrund entlangläuft und Zelada zunehmend in seinen Bann schlägt.Von frühester Jugend an hat Cagliostro seine Mitmenschen zu bezaubern und zu täuschen gewusst und es damit weit gebracht. Im Duktus eines Schelmenromans erzählt Michael Schneider vom unwahrscheinlichen Aufstieg eines Gossenjungen aus Palermo, der als Giuseppe Balsamo zur Welt kommt, zum gefeierten Heilkundigen und Logenvorsteher wird, immer in der Gefahr aufzufliegen und immer aufs Neue wagemutig und vom Schicksal begünstigt. Ein Leben an der Seite seiner Komplizin, der Gräfin Serafina, das in der sogenannten "Halsband-Affäre" gipfelt und ein pralles Sittengemälde des 18. Jahrhunderts. Michael Schneider erzählt von einem Getriebenen, der sich nicht abfindet mit seiner Herkunft, sondern Großes wagt, viel gewinnt und alles zu verlieren droht. Ein Rebell mit guten Gründen, der sich gegen den Klerus auflehnt, die Vornehmen und Reichen prellt und seine Heilkunst für die Armen einsetzt, die er unentgeltlich behandelt. Ein Mann, der immer wieder seinen Kopf aus der Schlinge zieht bis die Inquisition zuschlägt.
    Sir Roger Charles Doughty Tichborne

    Am 11.Januardes Jahres 1867 spielte sich in einem Pariser Hotel in der Rue de Lille eine herzergreifende Szene ab: Lady Henriette Félicité Tichborne, natürliche Tochter eines Bourbonenherzogs, verheiratet mit Baron James Tichborne, schloß an diesem denkwürdigen Tag ihren totgeglaubten Sohn in die Arme: Sir Roger Charles Doughty Tichborne. 13 Jahre lang hatte ihr Mutterherz der feste Glaube nie verlassen, daß er entgegen jeder Wahrscheinlichkeit einen Schiffsuntergang vor der brasilianischen Küste überlebt habe und sie ihn eines Tages finden würde. Ermutigt durch eine Wahrsagerin, hatte sie Suchanzeigen in der Times aufgegeben und schließlich die Nachricht eines australischen Anwalts erhalten: Der Vermißte sei gefunden. Er habe sich an ein Schiffsunglück erinnert und rauche eine Bruyère-Pfeife mit den Initialen "R.C.T." Es handle sich um einen Schlachter aus Wagga Wagga, der sich den Namen Thomas Castro zugelegt habe und zur Zeit bankrott sei, aber von einem Besitzanspruch in England spreche. Der Alias-Name sei nicht ungewöhnlich in Australien: Seit dem Ende der britischen Tradition, Straftäter dorthin zu verschicken, wimmle es nur so von Leuten, die sich falsche Namen zugelegt hätten. Doch auf nachdrückliches Zureden habe er eingeräumt, der Gesuchte zu sein. Lady Tichborne, überglücklich, nahm Verbindung mit dem Anwalt auf.
    Die Tichbornes, eine der ältesten Adelsfamilien Englands, waren – dies sollte vielleicht erwähnt werden – auch nach der Reformation des achten Heinrich katholisch geblieben, und so wurde der älteste Sohn und künftige Erbe von Besitz und Titel in Stonyhorst, einer elitären Jesuitenschule, erzogen. Davor hatte die Mutter, die das Leben in England kaum weniger hasste als ihren Gatten, Roger nach Paris mitgenommen und ihn dort unterrichten lassen. Der Vater setzte die Rückkehr des Erben durch und wohl auch dessen Eintritt in die britische Armee, in der er drei Jahre bei den Dragonern diente. Zwei Daguerreotypien zeigen den jungen Baronet als schlanken Gentleman mit schwarzem glattem Haar, Oberlippenbärtchen, weichem, leicht fliehendem Kinn und hellen, melancholisch blickenden Augen.
    Nach der unschicklichen Liebesaffäre mit einer Cousine, die von den Eltern unterbunden wurde, quittierte er den Militärdienst und begab sich am 1. März 1853 in Begleitung eines ergebenen Dieners an Bord des Seglers "La Pauline", Zielhafen Valparaiso, Chile. Ein Jahr später erreichte die Familie ein letztes Lebenszeichen aus Rio de Janeiro.
    Und nun dieses unverhoffte Wiedersehen! Man kann sich die lebensbedrohliche Aufregung der alten Dame unschwer vorstellen: der Verlorene Sohn endlich wieder in ihren Armen. Nur – eines schien sie nicht wahrzunehmen: Er hatte sich in den vergangenen 13 Jahren erstaunlich verändert. Ihr Ältester war inzwischen ein aufgeschwemmten Dickwanst geworden, schmerbäuchig, mit einem Mondgesicht, schläfrigem Blick und einer Sprechweise, die eher an einen Metzgergesellen aus dem Londoner East End erinnerte als an einen Repräsentanten der Upper-Class mit französischem Akzent. Lady Tichborne indes überreichte dem Wiedergeborenen all die Briefe und Aufzeichnungen, die er einst aus Brasilien geschickt hatte. Jetzt, da sie ihn leibhaftig wieder hatte, waren sie entbehrlich geworden. Das einsame Warten war zu Ende.
    Eilends hinterlegte die alte Dame in der Britischen Botschaft eine eidesstattliche Erklärung, mit der sie bestätigte, daß der Heimgekehrte ihr geliebter Sohn sei. Sie setzte ihm einen jährlichen Wechsel von 1000 Pfund aus. Die verständlichen Zweifel der übrigen Familie beeindruckten sie nicht im mindesten.
    Und rasch fand sie beachtliche Unterstützung, sei es durch den Familienanwalt, den Hausarzt, einen Parlamentsabgeordneten, mehrere Kameraden aus Sir Rogers Regiment oder den Pächter der Tichborneschen Güter: Alle wollten ihn wiedererkannt haben. Nur die Familie entrüstete sich über einen Fall von hanebüchenem Betrug.
    Adele Spitzeder
    Der Name der "Banquière" Adele Spitzeder und das Fiasko ihres phantastischen Geschäftsmodells machten Schlagzeilen weit über Bayern hinaus. Da hatte es doch eine verkrachte Schauspielerin im nicht mehr jugendlichen Alter von 50 Jahren in Zusammenarbeit mit ihrer Freundin und einem Netz von zwielichtigen Zuträgern tatsächlich innerhalb von drei Jahren geschafft, ein Defizit von 14 Millionen Goldmark zu erwirtschaften.
    Eigentlich war ihre Methode nur das bekannte, altbewährte Schneeball- oder auch Pyramidensystem. Spektakulär wirkte jedoch nicht so sehr das rasante Tempo ihres Erfolgs, sondern mit welcher Leichtigkeit es ihr offenbar gelang, mehr als 30.000 "kleinen Leuten" – Kellnerinnen, Knechten, Näherinnen, Soldaten, Kleinbauern, Tagelöhnern und Tagelöhnerinnen – das sauer Ersparte aus der Tasche zu ziehen. Die Spitzeder hatte ihren Anlegern 96 Prozent Zinsen per annum garantiert, allerdings ohne Sicherheiten, doch sie zahlte die Zinsen bar auf die Hand. Außerdem wurde jedem Kunden bei der Einzahlung sofort der Zins für zwei Monate vergütet, ein Wechsel über die Summe und eine zusätzliche Monatsrate auf drei Monate ausgestellt.
    Über Inserate, Mundpropaganda und das Netz von prozentual beteiligten Vermittlern kam die Geldlawine unaufhaltsam in Bewegung. Nach dem Kauf des Hauses in der Schönfeldstraße im Herbst 1871 stieg die Summe der Einlagen auf bis zu hunderttausend Gulden am Tag. Da aber der Großteil der Einnahmen zur Begleichung von Zinsen und Provisionen und der Bedienung der fälligen Wechsel wieder abfloß, war es nur eine Frage der Zeit, wann schließlich die Lawine all die Gläubiger, die ihren Profit nicht rechtzeitig in Sicherheit gebracht hatten, unter sich begraben würde.
    Kalenderblatt Adele Spitzeder
    Georges Manolescu

    "Georges Manolescu" "Fürst Lahovary: Ein Fürst der Diebe" Ein Bestseller. Schon nach wenigen Monaten mußte der Band zum fünften Mal nachgedruckt werden. Was heutzutage niemanden verwundern würde, war damals eine Sensation, ein Novum – die Autobiographie eines chronischen Diebs und Betrügers, zwar als warnendes Beispiel für nachdenkliche Leser, jedoch darüber hinaus – wie der Verleger betonte – "als einzigartiges menschliches Dokument und wertvolles Kultur- und Sittenbild der Jetztzeit". In seinem Vorwort schreibt er:

    "Nachstehend bringen wir die Memoiren des berüchtigten Hochstaplers Georges Manolescu, der durch die Kühnheit seiner Verbrechen, Mut und Verschlagenheit auch in verzweifelten Lagen sich einen Weltruf schuf. Von glänzender Erscheinung unterstützt, bewegte er sich als Fürst Lahovary in den exklusivsten Kreisen von Paris, London, Berlin und anderen Hauptstädten der Welt. Nach seinen eigenen Angaben stahl er im Verlauf weniger Jahre über zwei und eine halbe Million Franken, ohne je einen Einbruch zu begehen, und verlor im ganzen mehr als 1.800.000 Franken am Spieltisch – um sich jetzt jenseits des Ozeans eine neue, ehrliche Existenz aufzubauen."

    Der Schaubuden-Stil verrät die Spekulation des Geschäftsmannes: Durch Sensationsberichte - zuletzt über den Berliner Prozeß und die Flucht des für geisteskrank Erklärten - hinreichend gefüttert, sollte das Publikum nun durch die authentische Lebensbeichte eines genialen Gauners in wohlige Schauer versetzt werden. Der Erfolg des Buches verlangte eine Fortsetzung. Noch im selben Jahr erschien "Gescheitert. Aus dem Seelenleben eines Verbrechers", eigentlich nur ein leicht konfuser Aufguß des ersten Bandes. Doch beide Versionen, vom Verfasser auf Französisch diktiert, verdankten ihre veröffentliche Form letztlich dem geschäftstüchtigen Verleger - in den Niederungen solcher Trivialliteratur gängige Praxis. Obwohl damals von manchen Presse-Stimmen in die Nähe eines Schelmenromans gerückt, bewegt sich Manolescus Prosa stilistisch auf dem Niveau der "Gartenlaube".
    Entscheidend für den Erfolg war der schillernde Held, der hier unverfroren sein abenteuerliches Leben ausbreitete, seine Rechtfertigung, reiche Leute zu erleichtern, sei kein Diebstahl, dann der Stolz auf seine "handwerklichen Fertigkeiten", die Kaltblütigkeit seines Vorgehens, seine schauspielerische Begabung, der rasante, permanente Ortswechsel, zu dem ihn das Berufsrisiko zwang, aber auch die unverhohlene Lust daran. Nicht zuletzt mußten die Schauplätze seiner Tätigkeit jene Leser faszinieren, denen sie verwehrt waren – die Luxushotels und Spielcasinos, die Clubs und Salons der Reichen. Und Schadenfreude war durchaus gestattet. Daß allerdings die Beichte eines erfolgreichen Lügners frei von Lügen wäre, mochten nur schlichte Gemüter glauben.
    Georges Manolescu, 1871 in Rumänien als Sohn eines Offiziers geboren, hat bereits in kindlichem Alter aus beengten Verhältnissen "das Weite gesucht." Als 13-Jähriger türmt er aus der Kadettenanstalt, wird als blinder Passagier eines Frachters in Istanbul abgesetzt, schlägt sich als Taschendieb durch, erst dort, dann in Athen. Er überlebt einen Erpressungsversuch mit einem gegen sich selbst gerichteten Revolver, weckt das Mitleid der dänischen Königin, die das von ihr unterstützte Hospital besucht und sich um den mitleidheischenden Burschen kümmert.
    Auf beschwerlichen Umwegen landet er, inzwischen 17-jährig, in Paris, der Metropole des 19. Jahrhunderts, Hauptstadt des Amusements, des schnellen Geldes und Treffpunkt von Glücksrittern jeglicher Couleur. Nach ersten Fingerübungen als Kaufhausdieb reüssiert er in kürzester Zeit im Diamantengeschäft nach der ihm eigenen Methode. Er mietet sich eine Villa an den Champs-Elisées, leistet sich Bediente und Rennpferde. Der aufwendige Lebensstil schien ihm – sicher nicht falsch – erforderlich als Entrée zu den geschäftlich interessanten Kreisen und bei der Suche nach einer reichen heiratswilligen Erbin. Dafür, aber auch für die verlustreichen Casino-Besuche, waren ständige enorme Summen nötig.
    Zwei Jahre währt die Glückssträhne. Dann platzt der erfolgreiche "Ringtausch", den er unter Dutzenden von Diamantenhändlern betrieben hat. Er scheint leichtsinnig geworden, denn er wird in flagranti erwischt und wegen Diebstählen in Millionenhöhe zu vier Jahren Zwangsarbeit verurteilt. Als er sich gegen die Quälereien der Aufseher immer wieder heftig zur Wehr setzt, versucht man ihn durch verschärften Kerker gefügig zu machen. Ein Gefängnisarzt verhindert das Schlimmste.
    Manolescus Memoiren - Deutschland 1920, Spielfilm
    Harry Domela

    "Man ist immer der, den man auch äußerlich vorstellt. Sie sehen wie ein Graf aus, ergo sind Sie auch einer. Ich heiße auch nur Lüderitz, aber nachdem mich in Wien einmal der alte Baron von Rothschild mit ‚Herr Baron’ angeredet hat, bin ich Baron. Wer hindert mich daran? Der Adel ist nach der Reichsverfassung abgeschafft. Ich bin eben Baron. Das, was die andern zum Baron macht, habe ich schon lange. Was die an Grütze im Kopf haben, habe ich im kleinen Finger. Sie würden eher verrecken, bevor Sie von der Dummheit der andern lebten. Blödsinn! Die Welt will betrogen sein. Bin ich es nicht, ist’s ein anderer."
    Solche Ermunterung verfehlte nicht ihre Wirkung: Als "Graf" wollte Domela künftig das Lüderitzsche Modell erproben. Der erste Test verlief allerdings unbefriedigend: Die einträgliche Sammeltätigkeit für einen fiktiven "Nationalen Flugsportverband" wurde abrupt durch eine Gefängnisstrafe beendet. Der Besuch beim gräflichen Philosophen Keyserling, einem baltischen Landsmann, dem er sich mit der Bitte um eine Beschäftigung als Angehöriger der estnischen Grafenfamilie Pahlen vorstellte, brachte nur eine Empfehlung an einen Grafen Hardenberg, der ihm dann wenigstens mit einer bescheidenen Barschaft weiterhalf.
    Leider trug ihm das Empfehlungsschreiben, das bei einer Polizeikontrolle entdeckt wurde, die nächste Gefängnisstrafe ein. Als "Graf von der Recke" – diesmal ein kurländisches Geschlecht – tingelte er danach durch die Gegend um Potsdam, im Gepäck Zigarren, die er an den dort ansässigen Landadel verhökerte. Er ist als interessanter baltischer Flüchtling überall willkommen, bis ihn die Anzeige seiner Gönner wieder hinter Gitter bringt.
    Der Mann, der sich verschwinden ließ
    Jens Kirsten
    Nennen Sie mich einfach Prinz.
    Das Lebensabenteuer des Harry Domela.
    Stadtmuseum, Weimar 2010
    Steffen Raßloff
    Der falsche Prinz
    Harry Domela zu Gast im "Erfurter Hof"
    mehr in Schriften des Vereins für die Geschichte und Altertumskunde von Erfurt. Bd. 6. Jena 2007
    Jan Zweyer
    Eine brillante Masche
    Historischer Roman
    ISBN 978-3-89425-618-0
    Die fast wahre Geschichte eines Lügners
    Einer der größten Hochstapler der Nachkriegszeit und sein aufsehenerregender Prozess sind schon lange in Vergessenheit geraten. Dabei schreibt das Leben bekanntlich die besten Geschichten: Johann Bos, der sogenannte Diamantenkönig, erleichterte mit Verschlagenheit und einer guten Portion Charme die Ehefrauen inhaftierter Nazis um ihre letzten Wertgegenstände. Er wurde zeitweise von über achtzehn Staatsanwaltschaften gesucht, sieben Mal festgenommen. Immer wieder kam er frei, häufig durch Bestechung. Er türmte aus Gerichtssälen und Heilanstalten, gab sich als Geisteskranker aus, als Industriellensohn oder Kripobeamter.
    Sein finaler Prozess, in dem der Richter eine neunundvierzigseitige Anklageschrift verliest, wird zum Medienereignis. Nicht nur, weil die Sitzungen neben Arnsberg auch in München, Würzburg, Frankfurt und Hannover stattfinden, um so viele Zeugen wie möglich aussagen zu lassen. Sondern der Richter bekommt schnell vor Augen geführt, wie es Bos schaffen konnte, das Vertrauen der Strohwitwen zu gewinnen, und jede Situation für sich zum Guten zu wenden.
    »Bos ... gehört zu den größten Betrügern der Nachkriegszeit, und seinem Einfallsreichtum ist es zu verdanken, dass im Roman kein Hauch von Langeweile aufkommt, zumal Zweyers Dialoge mit einer Extraportion Witz angereichert sind. ... Johann Bos ... bekam fünf Jahre Zuchthaus, aber auch die Sympathien vieler Prozessbeobachter und Zeitgenossen. Weil er kein Gewaltverbrecher, sondern ein Trickbetrüger war, der mit Grips, Fantasie und Charme zu fetter Beute kam. Man liest es mit Genuss.« Jens Dirksen, Neue Rhein/Neue Ruhr Zeitung