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Der Heinrich Zille von New York

Mit Szenen aus den Armenvierteln New Yorks schockierten um 1900 Vertreter der sogenannten Ashcan School das amerikanische Kunstpublikum. Einer von ihnen war der 1882 geborene George Bellows, der vor allem mit seinen Bildern von Boxkämpfen berühmt wurde.

Von Sacha Verna | 19.11.2012
    Es brauchte nicht viel, um das amerikanische Museumspublikum um die vorletzte Jahrhundertwende zu schockieren. Szenen aus einem Armenviertel genügten. Und solche präsentierte eine neue Generation von Künstlern der feinen Gesellschaft zuhauf. Die Vertreter der sogenannten Ashcan School waren die Heinrich Zilles von New York. Sie hatten es sich zur Aufgabe gemacht, den Staub des städtischen Alltags aufs Papier und auf die Leinwand zu bringen. Satt Berliner Mietskasernen zeigten die Ashcans die überfüllten Wohnhäuser der Lower East Side.

    Der bedeutendste Vertreter dieser Schule war der 1882 geborene George Bellows. Ihm widmet das Metropolitan Museum die erste umfangreiche Retrospektive in Amerika seit über fünfzig Jahren. Die Kuratorin Lisa Messinger.

    "Bellows war ein bisschen jünger als die übrigen Ashcans und verfügte deshalb über einen jugendlichen Elan, der den anderen fehlte. Vor allem aber war er ein enorm talentierter Künstler, der mit einem einzigen Strich die Gestik und Körpersprache einer Person festhalten konnte oder die Stimmung einer Szene. Zudem ließ ihn seine Jugend die Stadt mit neuen Augen sehen."

    Berühmt und beliebt trotz seinen Kritikern wurde George Bellows bald mit seinen Bildern von Boxkämpfen. Mit "Stag at Sharkey's" von 1909 beginnt die Ausstellung. Sharkey's war ein schäbiger Sportklub, der sich direkt gegenüber von Bellows' Atelier am Broadway, Ecke sechsundsechzigste Straße befand. Die dick aufgetragene Farbe und der kühne Pinselstrich geben das Scheinwerferlicht und den Schweiß auf den nackten Oberkörpern der Kämpfenden in ihrer ganzen Stofflichkeit wieder, und man meint, die dicke Luft im Ring zu atmen.

    Dieselbe großzügige Detailiertheit und Dreidimensionalität prägen George Bellows Darstellungen von einer Wahlnacht am Times Square oder von Straßenkindern, die mit einer leeren Büchse Fußballspielen. Man sieht die Arbeiter auf der gigantischen Baustelle schuften, die die Penn Station einst war. Ein verkrüppelter Junge posiert in einem schief sitzenden Anzug auf einem Stuhl. "Frankie, the Organ Boy", Frankie, der Orgel-Junge heißt das Porträt. Es könnte berührender nicht sein.

    Die Ausstellung stellt Bellows als brillanten Zeichner und Litografen vor, als Maler von Landschaften und Küsten, von Kriegsgräueln und Figurenbildern in der Art alter Meister. Wenn man bedenkt, dass George Bellows mit zweiundvierzig Jahren an einem geplatzten Blinddarm starb, ist die seine Vielfalt an Motiven und Techniken beeindruckend.

    Den Abschluss der Ausstellung bildet wie den Anfang ein Boxkampf: "Dempsey gegen Fripo" von 1924. Es ist konventioneller als das erste Bild. Mit dem Farbauftrag ist bei Bellows über die Jahre auch das Dargestellte verflacht. Sein Stil und die Kompositionen wirken zunehmend bemüht. Doch, sagt Lisa Messinger:

    "Wir sehen nur die Hälfte dessen, was George Bellows in Angriff nahm. Er fand nicht immer für alles eine befriedigende Lösung. Es blieb ihm dafür einfach nicht genügend Zeit."