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"Der Himmel ist überall, auch in dir selber"

Jakob Böhme, evangelischer Schuster aus Görlitz, war ein christlicher Mystiker und Philosoph, der weit über Deutschland hinaus bekannt wurde. Für ihn ist der Mensch selbst Teil des Ewigen und Göttlichen. Die daraus resultierende Idee der Freiheit hat die klassische deutsche Philosophie beeinflusst.

Von Burkhard Reinartz |
    "Meine Erkenntnis stehet in der Geburt der Sternen, inmitten, wo sich das Leben gebäret und durch den Tod bricht und wo der wallende Geist entstehet und durchbricht. Und in dessen Trieb und Wallen schreibe ich."

    Wer diese Worte vernimmt, dem wird sofort klar: Jakob Böhme ist kein Denker, dessen innere Wahrheit der nüchternen Analyse am Schreibtisch entsprungen ist. Hier schreibt einer, der durch die Erfahrungswelt des "Inneren Menschen" gegangen ist, jemand, der seine Erkenntnisse durchlebt hat. Böhme leidet unter Depressionen und lernt die Abgründe des Lebens kennen: Angst, Verzweiflung und das Grauen vor dem Bösen. Oft spricht er in seinen Schriften vom "Schrack", dem Schrecken des inneren Ringens. Böhme versteht Religion auch als Überlebensprogramm, das ihm hilft, die inneren Nöte in Demut zu überstehen.

    "Herr, ich lass nicht von dir, wirf mich in den Himmel oder die Hölle, so lasse ich dich doch nicht. Mach mit mir, was du willst."

    Nicht zufällig spricht Jakob Böhme vom Unterschied zwischen dem inneren und dem äußeren Menschen. So scheinen die beiden Seiten des Lebens in seiner Biografie oft auseinanderzuklaffen. Der Lebensweg des äußeren Menschen beginnt bei ihm eher unspektakulär: Böhme wird 1575 im südlich von Görlitz gelegenen Alt-Seidenberg als Kind eines begüterten Freibauern geboren. Als die Eltern des jungen Jakob bemerken, dass er wegen seiner schwachen Konstitution für den Bauernberuf nicht geeignet ist, schicken sie ihn in die dreijährige Schusterlehre.

    Nach der zweijährigen Wanderzeit lässt sich Jakob Böhme in Görlitz nieder. Dort wird er in die Schuhmacherzunft aufgenommen und heiratet. Es war die Zeit, als die Lehren des Paracelsus von Hohenheim und der mittelalterlichen Mystiker in Schlesien und der Lausitz auf reges Interesse stießen. 1600, mit 25 Jahren, als der erste seiner drei Söhne geboren wird, gerät Jakob Böhme durch den Schmerz über das Böse in der Welt in eine tiefe Depression. Da erlebt der Schuhmacher eine erste geistige Vision, die sein Leben radikal verändern wird. In den "Theosophischen Sendbriefen" beschreibt er Jahre später sein Erlebnis so:

    "Mir ist die Pforte eröffnet worden, dass ich in einer Viertelstunde mehr gesehen und gewusst habe, als wenn ich wäre viel Jahr auf hohen Schulen gewesen. Ich sah und erkannte das Wesen aller Wesen, den Grund und den Ungrund; item die Geburt der Heiligen Dreifaltigkeit, das Herkommen und den Urstand dieser Welt."

    Böhme braucht zwölf Jahre, um seine Vision in der berühmten Schrift "Aurora – Morgenröte im Aufgang", zu verarbeiten, die er in einer Art Schreibrausch innerhalb von fünf Monaten verfasst:

    "Ich musste gleich anfangen, an diesem großen Geheimnis zu arbeiten und sah es wohl in einer großen Tiefe. Denn ich sah hindurch als in ein großes Chaos, da alles inne lieget, aber seine Auswicklung war mir unmöglich, wiewohl ich zwölf Jahr damit umging, bis es mich hernach überfiel wie ein Platzregen. Was der trifft, das trifft er."

    Seine Lebenskrise, die ihn in Melancholie und Traurigkeit stürzt, andererseits den Durchbruch zur mystischen Erkenntnis öffnet, beschreibt er in bildreichen Worten:

    "Alsbald nach etlichen harten Stürmen ist mein Geist durch der Höllen Pforten durchgebrochen bis in die innerste Geburt der Gottheit und allda mit Liebe umfangen worden, wie ein Bräutigam seine liebe Braut umfasst. Was aber ein Triumphieren im Geiste gewesen, kann ich nicht schreiben oder reden. Es lässt sich auch mit nichts vergleichen als nur dem, wo mitten im Tode das Leben geboren wird und vergleicht sich der Auferstehung von den Toten. In diesem Lichte hat mein Geist alsbald durch alles durchgesehen und an allen Kreaturen, sowohl an Kraut und Gras Gott erkannt."

    Dieser Erfahrungsbericht aus dem berühmten 19. Kapitel der "Aurora", der "Morgenröte im Aufgang" zeigt typische Merkmale der mystischen Erfahrung: die ungeteilte Aufmerksamkeit für den gegenwärtigen Augenblick, das Eingebundensein in eine alles überstrahlende Liebe, das Ungenügen der Sprache, das Erlebte wiederzugeben und den gleichzeitigen Wunsch, die eigenen Erfahrungen weiter zu geben. Die "unio mystica" als absichtslose Erfahrung, der diese Erfahrende als Werkzeug Gottes.

    "Wenn so ich schreibe, diktiert mir's der Geist in großer wunderlicher Erkenntnis. Gott hat mir das Wissen gegeben. Nicht ich, der ich bin, weiß es, sondern Gott weiß es in mir."

    Böhme betont, dass ihn die mystische Schau nicht zu einem Sonderling gemacht habe, der von da an über den Nöten des Menschseins stehe. Er sei ein ganz normaler Mensch, dem die Unerbittlichkeit seines Suchens wertvolle Erkenntnisse geschenkt hätte.

    Mit seinem seismographischen Empfinden erlebt Böhme den Verlust der Mitte, den die kopernikanische Wende ausgelöst hat. Bislang galt der Mensch als Mittelpunkt der Welt, als Zentrum des Kosmos. Jetzt ist er aus der Mitte geworfen und muss eine neue Balance finden. Eine Mitte, die Böhme in seinen späteren Werken suchen und finden wird.

    "Ich schreibe nur für mich und laufe niemand nach. Ich halte meine Bücher in keinem Buchladen feil. Geschrieben hatte ich nur für mich selber ein Memorial zur Aufrichtung des finsteren Schlafes in Fleisch und Blut."

    Doch sein unvollendetes Manuskript findet auch ohne eigene Aktivitäten rasche Verbreitung. Freunde erstellen und verbreiten Abschriften. In Bürger- und Adelskreisen geht das Schriftstück von Hand zu Hand, es entstehen geistige Freundeskreise – und Feindschaften. Es ist der Görlitzer Oberpfarrer Gregor Richter, der die Ideen Jakob Böhmes erbittert bekämpft, ohne sie im Detail zu kennen. Ein Manuskript der "Aurora" wird dem Görlitzer Magistrat übergeben, Böhme selbst für einige Stunden eingekerkert und erst nach einer Abmahnung wieder freigelassen. Über Nacht wird der ehrbare Bürger als "gefährlicher Enthusiast" abgestempelt.

    Gregor Richter versteht sich als Hüter der lutherischen Orthodoxie und bekämpft Böhme bis zu seinem Lebensende. Orthodoxes Denken beruft sich in erster Linie auf die Schrift und Dogmen, während für Mystiker die Autorität der inneren Erfahrung Vorrang hat. In einer Droh- und Strafpredigt brandmarkt Gregor Richter den erschreckten Schuster als "dem Branntweintrunk ergebenen Antichristen" und erteilt ihm ein Schreibverbot, an das sich dieser auch bis 1618 hält.

    Zwischen 1618 bis zu seinem frühen Tod im Jahr 1624 entstehen etliche Werke des Autodidakten und ehemaligen Schuhmachers. Unter anderem "Die Beschreibung der drei Prinzipien göttlichen Wesens", "Von der Menschwerdung Jesu Christi", "De signaturum rerum" und das Hauptwerk Böhmes "Mysterium Magnum". Der Philosoph Ernst Bloch kommentiert in seinen "Vorlesungen zur Philosophie der Renaissance" die Arbeit des Göritzer Philosophenschusters.

    "Großartig wie das Genie hier aus der Halbbildung, ja nicht einmal aus dieser und barockem Schusterdeutsch mit einer bildkräftigen Sprachbegabung ohnegleichen Licht schlägt, und zwar so, dass noch aus einer sprachlichen Unbildung ein großer und seltsamer Gedanke herauskommt."

    Selbst der Revolutionär und Spötter Karl Marx zollte Böhme seine Hochachtung:

    "Dieser Schuster war ein großer Philosoph. Manche Philosophen von Ruf sind nur große Schuster."

    Inzwischen betreibt Böhme gemeinsam mit seiner Frau einen Garnhandel. der es ihm erlaubt, seine geistigen Freunde in Schlesien und der Lausitz zu besuchen und sie in seinen Ideen zu unterweisen. Es entstehen informelle Böhme-Zirkel aus allen Volksschichten. Als "Der Weg zu Christo" erscheint, eine Art christlich-mystischer Einweihungsweg, attackiert der Oberpfarrer Gregor Richter Jakob Böhme erneut. Er wird dem Görlitzer Magistrat vorgeführt und muss die Stadt verlassen.

    Böhme träumt von einer zweiten Reformation, einer inneren Umkehr des veräußerlichten Christentums. Angetrieben von seinem prophetischen Sendungsbewusstsein besucht er den kurfürstlichen Hof in Dresden und erhofft sich in der Kulturmetropole die Unterstützung der Mächtigen. Doch die Gespräche am Hof scheitern.

    Jakob Böhme ist ein Freigeist, dem geistige Enge in jeder Form zuwider ist. Er kritisiert den vernunftgläubigen Dogmatismus des Christentums und plädiert für die Gleichberechtigung unterschiedlicher Konfessionen:

    "Aus diesem Verstande ist in der christlichen Kirche auf Erden das falsche Babel erboren worden, da man mit Vernunftschlüssen richtet. Darum, sage ich, ist alles Babel, was sich miteinander beißet und um die Buchstaben zanket. Die Buchstaben stehen alle in einer Wurzel. Die ist der Geist Gottes gleichwie die mancherlei Blumen alle in der Erden stehen und wachsen miteinander. Keine beißt sich mit der anderen. Sie wachsen jede in ihrer Essenz und Eigenschaft. Also ist es auch mit den Kindern Gottes. Meint ihr, dass der Heilige Geist an eure Schulen gebunden ist?"

    Jacob Böhmes Ideen haben die frühneuzeitliche europäische Philosophie tief geprägt. Schelling, Novalis, Schopenhauer äußerten ihre Bewunderung und Georg Wilhelm Friedrich Hegel adelte Böhme mit der Auszeichnung "Der erste deutsche Philosoph".

    "Die Grundidee bei ihm, dem ersten deutschen Philosophen, ist das Streben, alles in einer absoluten Einheit zu erhalten – die absolute göttliche Einheit und die Vereinigung aller Gegensätze in Gott. Ein Hauptgedanke Böhmes ist, dass das Universum ein göttliches Leben und Offenbaren Gottes in allen Dingen ist."

    Gott ist für ihn in den Dingen in der Welt anwesend und erfahrbar, geht aber nicht in ihr auf. Immer behält das Numinose seine Andersheit, seine Transzendenz.

    "Du wirst kein Buch finden, da du die göttliche Weisheit könntest mehr inne finden zu forschen, als wenn du auf eine blühende Wiese gehest, wiewohl es nur ein Gleichnis ist. So man aber will von Gott reden, so muss man fleißig erwägen die Kräfte in der Natur, dazu die ganze Schöpfung, Himmel und Erden sowohl Sternen und Elementa und die Kreaturen, so aus denselben sind herkommen. Der Himmel ist überall, auch in dir selber."