Ein jiddisches Lied hat in Rava Ruska 74 Jahre lange keiner mehr gesungen. Boris Dorfman freut sich, denn endlich haben einige seiner Vorfahren eine würdige Ruhestätte erhalten, soweit dies bei einem Massengrab möglich ist. Über die sterblichen Überreste rollen keine Traktoren mehr, auf den Gräbern werden keine Spielplätze oder Kulturpaläste mehr errichtet, wie das über 70 Jahre lang geschah.
Bloodlands. Blut tränkt die Erde im Ländereck Ukraine, Polen, Weißrussland, der Boden um Lemberg voller Massengräber, 2000 schätzen Experten. Der französische Priester Patrick Desbois, dessen Großvater in dieser Gegend umgebracht wurde, forscht, wo genau sich diese vielen Gruben voller Leichen befinden. Mit einem ehemaligen Kriegsgefangenen kam er vor zehn Jahren erstmals nach Lemberg.
"Als wir landeten, erzählte er mir, dass er damals auf dem Flughafen arbeiten musste, auf der Landebahn gab es viele Löcher. Und ich fragte ihn: Wie habt ihr sie gefüllt? Mit Juden, sagte er. Allein in und um Lemberg gibt es 49 Massengräber, das größte im Wald von Lesinitschi. 1945 wurden die Körper von Italienern und Juden dort verbrannt, um Spuren zu verwischen. Heute ist dort ein Park. Je leiser wir vorgehen, mit den Verantwortlichen vor Ort reden, desto mehr erreichen wir und haben hoffentlich bald mehr als nur fünf Gedenkstätten. Es ist wie ein Auto, das angeschoben wird und dann allein rollt."
Scanner spüren die Gräber auf
1.700 Massengräber mit jeweils 500 bis zu 2.000 Toten konnten dank Patrick Desbois Hilfe lokalisiert werden. Über 4.000 Einwohner der Westukraine wurden von ihm und seinen freiwilligen Helfern befragt. Meist Historiker, Lehrer, manchmal Schüler. Oft weiß man in den Orten, dass es ein Massengrab gibt, aber nicht genau, wo. Mit Scannern, die die Bodendichte messen, die in umgegrabener und mit Leichen vermengter Erde anders ist als sonst, können Experten die Grenze eines Grabes genau nachzeichnen. Immer dabei das Komitee für die Erhaltung jüdischer Friedhöfe in Europa in Gestalt der Rabbiner Joe Shik und Maurice Herszaft und Joe Shik.
Die beiden Rabbiner mit Schläfenlocken beziehungsweise langen Bärten und breitkrempigen Hüten reisen von Grab zu Grab, um zu verhindern, dass die Toten erneut unwürdig behandelt werden.
Die beiden Rabbiner mit Schläfenlocken beziehungsweise langen Bärten und breitkrempigen Hüten reisen von Grab zu Grab, um zu verhindern, dass die Toten erneut unwürdig behandelt werden.
"Wenn wir Knochen gefunden haben, sorgten wir für eine Bestattung nach jüdischem Gesetz. Das war oft der Fall. Auch hier. Der erste Teil des Massengrabes ist mit grauen Steinen bedeckt, aber wir haben nebenan noch eine Grube mit Knochen gefunden, dort, wo jetzt die braunen Steine sind."
An fünf Orten sind aus Massengräbern Gedenkstätten geworden, dank ukrainischer Aktivisten und ausländischer Hilfe, geleistet von Pater Desbois, dem American Jewish Committee und der Bundesregierung. 74 Jahre haben die Toten auf das Totengebet "Kaddisch" warten müssen. Viele aus der Bevölkerung, wie Wassil Demydjuk, Bürgermeister in Kysylyn, verstehen seit dem Krieg im Osten ihres Landes, was hier geschah.
"Hier liegen Menschen, die erschossen wurden, weil sie Juden waren. In der Ostukraine ist es jetzt für die gefährlich, die die Ukraine lieben."
Kollaboration - auch heute wieder ein Thema
Von Kysylyn ist seit dem Zweiten Weltkrieg nur noch das halbe Dorf übrig. Erst wurden die Juden erschossen, danach in einem Gottesdienst 70 Polen. In anderen Dörfern haben Polen Ukrainer getötet. Die Nazis säten Zwietracht unter den Völkern und zwangen die Menschen zur Kollaboration.
Ein dunkles Kapitel. Die Ukrainer müssen sie sich ihm stellen, sagt Josef Zissels vom Eurasischen Jüdischen Kongress, denn Kollaboration ist nach wie vor aktuell.
"Heute geht es auch um Kollaboration. Der Krieg im Donbass ist auch mit Kollaboration verbunden. Denn außer der russischen Armee sind dort auch Einheimische, die mit ihr zusammenarbeiten."
Über die Beteiligung an den Nazi-Verbrechen, erzwungen oder freiwillig, wurde bislang in der Ukraine nicht gesprochen, es gibt vermutlich viele wie Wolodymyr Krawtschuk aus Kovel. Der ehemalige Lehrer kann die Wahrheit nicht ertragen und stört die feierliche Einweihung der Gedenkstätte. Der Streit entzündet sich an der Inschrift auf dem Denkmal: dass an dem Morden an den Juden auch örtliche Kräfte beteiligt waren. Ukrainer waren es nicht, sagt der Lehrer.
"Das war die jüdische Polizei", behauptet er.
Ein anderer belehrt ihn: "Die wurde von den Nazis geschaffen."
"Also gab es die jüdische Polizei", beharrt der Lehrer.
"Ja, aber der Lemberger jüdische Polizeichef hat sich umgebracht, weil er seine Leute nicht retten konnte. Die Deutschen wussten nicht, wer Jude war, Leute aus dem Ort zeigten es ihnen."
"Wer?",fragt der Lehrer.
"Na wer wohl? Die Ukrainer."
Ein anderer belehrt ihn: "Die wurde von den Nazis geschaffen."
"Also gab es die jüdische Polizei", beharrt der Lehrer.
"Ja, aber der Lemberger jüdische Polizeichef hat sich umgebracht, weil er seine Leute nicht retten konnte. Die Deutschen wussten nicht, wer Jude war, Leute aus dem Ort zeigten es ihnen."
"Wer?",fragt der Lehrer.
"Na wer wohl? Die Ukrainer."
Nach dem Kaddisch, dem Totengebet, geht der Streit weiter. Das Denkmal erfüllt seinen Zweck: die Auseinandersetzung mit der Geschichte.