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Der Humanist und die Affäre der Dunkelmännerbriefe

Der Philosoph und Theologe Philipp Melanchthon war neben Martin Luther einer der wichtigsten Kirchenreformatoren Europas. Er galt als Wunderkind und wurde zu einem der bedeutendsten Gelehrten im deutschen Raum.

Von Rüdiger Achenbach |
    "Wie ein Skorpion, ins Haus des Mars getreten ist, wird ein falscher Prophet auftreten und die christliche Welt in Gefahr bringen."

    1527 erscheint in Wittenberg ein Horoskop, das der kaiserliche Hofastrologe Johannes Lichtenberger bereits 1488 erstellt hatte. Darin wird dem Jahr 1484 rückwirkend eine besondere Bedeutung zugeschrieben, weil zu diesem Zeitpunkt durch eine große Konjunktion mit Sonnenfinsternis im Zeichen Löwe für die folgenden Jahrzehnte außergewöhnliche Ereignisse zu erwarten waren.

    "Obwohl der falsche Prophet viel Unheil anrichten wird, wird aber auch eine Rettergestalt erscheinen, die die weltliche und kirchliche Ordnung wiederherstellen wird. Dieser Retter wird sich auch durch seine besondere Begabung bei der Auslegung der Heiligen Schrift auszeichnen."

    Es war kein Zufall, dass dieses Horoskop nun im reformatorischen Wittenberg ausgerechnet in dem Jahr unter die Leute gebracht wurde, als die kaiserlichen Truppen Rom geplündert hatten, und Papst Clemens VII. sich in der Engelsburg verstecken musste. Denn in reformatorischen Kreisen schien für viele mit diesem Sacco di Roma das Ende der römischen Kirche gekommen zu sein. Für die Anhänger der Reformation in Wittenberg war natürlich der Papst der falsche Prophet und Martin Luther war die Rettergestalt des Christentums.

    Um jeden Zweifel an dieser Deutung auszuräumen, erstellten Philipp Melanchthon und sein Freund Johannes Carion, eigens noch ein Horoskop für Martin Luther, bei dem sie für ihre Berechnungen den 22. Oktober 1484 als Geburtsdatum zugrunde legten, obwohl der Refor-mator selbst immer den 10. November 1483 angegeben hatte. Diese Korrektur war jedoch notwendig, um Luther eindeutig in die Vorhersage Lichtenbergers einordnen zu können. Lediglich über die Geburtsstunde Luthers gab es keine Klarheit.

    Melanchthon schrieb dazu an einen Freund:

    "Die Mutter Luthers sagte, er sei in der Hälfte der Nacht geboren worden. Ich glaube aber, dass sie sich getäuscht hat. Ich selbst bevorzuge den 22. Oktober 1484 um neun Uhr am Morgen. Diese wunderbare Konjunktion im Skorpion kann keinen streitbaren Mann hervorbringen."

    Damit war nun klar, dass nur Luther die vorausgesagte Rettergestalt sein konnte. Ob das Geburtsdatum korrekt war, wurde nicht mehr diskutiert. Und da viele Menschen damals vom Einfluss der Sterne auf die irdischen Ereignisse überzeugt waren, eignete sich die Astrologie auch hervorragend zu propagandistischen Zwecken in der Auseinandersetzung zwischen Protestanten und Katholiken.

    Martin Luther, der offensichtlich dem Neudruck von Lichtenbergers Horoskop in deutscher Sprache und vielleicht sogar einer Korrektur seines Geburtsdatums zugestimmt hatte, scheint jedoch schon bald die Lust an der Sternendeuterei verloren zu haben. In einer seiner Tischreden bezeichnet er die angebliche Kunst der Astrologen schon bald darauf als Unsinn:

    "Von den Ereignissen, die eintreffen, reden sie sehr schön; die aber nicht eintreffen, davon schweigen sie schön still. Philipp Melanchthon hält auch sehr daran fest, er hat mich aber niemals davon überzeugen können."

    Tatsächlich hat Melanchthon der Astrologie sein ganzes Leben lang die Treue gehalten. Er war seit seiner Kindheit damit vertraut. Geboren wurde er am 16. Februar 1497 als ältester Sohn des kurfürstlichen Rüstmeisters Georg Schwarzerdt und dessen Ehefrau, der Brettener Schultheißtochter Barbara Reuter. Der Sitte der Zeit entsprechend ließ der Vater für seinen Sohn von einem befreundeten Mathematiker das Horoskop erstellen.

    Dazu der evangelische Kirchenhistoriker Robert Stupperich:

    "Melanchthon, der viel auf die Konstellation der Sterne gab hat sie zeitlebens ernst genommen. Da der Mathematiker zu seiner Geburt gemeint hatte, die Wege nach Norden würden ihm einst Gefahren bringen und er werde in der Ostsee Schiffbruch erleiden, hat er immer eine Reise nach Dänemark gemieden. Melanchthon hat, wie man sieht, diesen Glauben schon aus dem Elternhaus mitgebracht."

    Da der Vater viel unterwegs war und schon früh starb, wuchs Philipp im Haus seiner Großeltern mütterlicherseits auf. Dort erkannte sein Großonkel Johannes Reuchlin, ein bekannter Humanist und Hebräischgelehrter, schon bald die außergewöhnliche Begabung Philipps.

    Professor Hans-Rüdiger Schwab von der Katholischen Fachhochschule in Münster:

    "Für die nächsten zehn Jahre seines Lebens stand Melanchthon ganz unter dem Einfluss des humanistischen Kultur- und Bildungsprogramms, das Reuchlin ihm erschlossen hatte. Von Italien ausgehend, entwickelte sich unter dem Namen 'Humanismus' eine gemein-europäische Bewegung, die im Rückgriff auf das durch die antiken Autoren überlieferte Wissen und die christlichen Quellen gegen die Verkrustungen des spätmittelalterlichen Denkens eine Reform der gesamten Lebenspraxis befördern wollte."

    Der Großonkel war es auch, der nach humanistischem Brauch Philipps Nachnamen ins griechische "Melanchthon" übersetzte und den Zwölfjährigen zum Studium an die Universität Heidelberg schickte. Hans-Rüdiger Schwab:

    "Das Regelstudium nach den Lehrbüchern der scholastischen Philosophie bewältigte der 'Überflieger' mühelos. Zum frühesten Zeitpunkt, der möglich war, erwarb er den ersten akademischen Grad, den Baccalaureus artium. Um das Recht zur Abhaltung von Vorlesungen zu erlangen, wollte er zum Magister promoviert werden, doch die Professoren verweigerten ihm die Zulassung zu dieser Prüfung, da sie dem schmächtigen Jungen nicht zutrauten, dass er die notwendige Kraft und Autorität als akademischer Lehrer besitzen würde."

    Philipp Melanchthon, der von klein auf als eine Art hochbegabtes Wunderkind gewöhnt war, alles zu erreichen, was er sich vorgenommen hatte, hat erst viel später zugegeben, dass diese Ablehnung durch die Professoren für ihn auch eine heilsame Lehre gewesen sei.

    "Es ist zuweilen sehr gut, wenn jungen Menschen nicht alle Wünsche befriedigt werden. Das habe ich in Heidelberg erfahren. Statt dass mich die Verweigerung des Magistertitels niedergeschlagen hätte, wurde ich nur desto mehr zum Fleiß ermuntert."

    1512 wechselte Melanchthon an die Universität Tübingen, wo er dann zwei Jahre später – noch keine siebzehn Jahre alt – sein Studium mit der Magisterprüfung der so genannten "Freien Künste" abschloss. Er beschäftigte sich jetzt vor allem mit der lateinischen und griechischen Literatur der Antike, aber er interessierte sich auch für die Rechtswissenschaft und mathematisch-naturwissenschaftliche Fächer, insbesondere für die Astronomie und Astrologie, die damals noch nicht getrennt waren.

    Der Kirchenhistoriker Robert Stupperich:

    "Tübingen bot Melanchthon mehr als Heidelberg. Es herrschte ein reges wissenschaftliches Leben. Hier gab es Anregungen für ernst forschende Geister. In Tübingen gewann Melanchthon auch zwei Freunde, Johann Husgen aus Weinsberg, der später als Reformator in Basel wirkte und sich Oekolampad nannte, und den Mönch Ambrosius Blarer aus Konstanz."

    In diesem Freundeskreis las man jetzt auch die Schriften des sogenannten Fürsten der Humanisten, des Niederländers Erasmus von Rotterdam. Er war der erste Schriftsteller, der durch das neue Medium Buch international populär geworden war. Seine Schriften zirkulierten nicht nur in Gelehrtenkreisen, sondern wurden auch von weltlichen und geistlichen Fürsten gelesen.

    Als Melanchthon dann als seine erste große wissenschaftliche Leistung 1516 eine Ausgabe des römischen Komödiendichters Terenz mit einer literatur- und bildungsgeschichtlichen Einleitung veröffentlichte, trug ihm das auch die Bewunderung des von ihm hoch geschätzten Erasmus ein:

    "Beim unsterblichen Gott, welche Hoffnung erweckt Philipp Melanchthon, gerade ein Jüngling, fast noch ein Knabe. Welche Schärfe der Erfindung! Welche Reinheit und Zierlichkeit der Rede! Welche vielseitige Belesenheit! Welche gedämpfte Feierlichkeit einer wahrhaft königlichen Begabung!"

    Melanchthon hat sich für dieses Lob bei Erasmus mit einem auf Griechisch verfassten Gedicht bedankt. Er verehrte Erasmus vor allem wegen dessen Engagement im Bereich der Bildung. Auch Melanchthon sah auf diesem Gebiet einen dringenden Reformbedarf. Entsprechend heftig fiel seine Kritik am traditionellen scholastischen Lehrbetrieb an den Universitäten aus:

    "Die Studien, die Verstand und Sitten bilden sollten, sind vernachlässigt, von umfassendem Wissen ist nichts vorhanden; was man Philosophie nennt, ist leerer, unfruchtbarer Trug, der nur Zank gebiert."

    Und in einer Rede, die er in Tübingen über die "artes liberales" – also die freien Künste hielt, ergänzte er die traditionellen sieben freien Künste, die aus Grammatik, Dialektik, Rhetorik, Arithmetik, Geometrie, Musik und Astronomie bestanden, um Poesie und Geschichte. Er greift dabei eine generelle Forderung der Humanisten auf, die nun entgegen der Tradition ein besonderes Interesse an der Geschichte zeigen.

    "Keine anderen Autoren werden mit mehr Frucht und Sorgfalt gelesen als die Historiker."

    Melanchthons eigene Tätigkeit als Lehrer an der Universität erfolgte zunächst – wie üblich – in der Stellung eines Konventors an einer Burse, also an einer Art Internat für angehende Studenten. Dort unterrichtete er Dialektik und Rhetorik und hielt Vorlesungen über antike Schriftsteller. In einem Brief an Johannes Reuchlin macht er deutlich, dass diese Tätigkeit ihn auf die Dauer nicht befriedigt:

    "Statt vorwärts zu kommen, werde ich unter Knaben selbst wieder ein Knabe. Ich bin hier zwar sehr beschäftigt, tue aber trotzdem nichts! Lieber möchte ich in einer Höhle leben, als hier untätig meine Zeit zu verbringen."

    Während seiner gesamten Zeit in Tübingen steht er regelmäßig mit Reuchlin in Verbindung. Melanchthon besucht ihn häufig im nahe gelegenen Stuttgart, oft bringt er auch Freunde mit, mit denen er die damals berühmte Bibliothek des Großonkels benutzen darf. Johannes Reuchlin war unter den Humanisten vor allem durch seine Studien über die hebräische Sprache bekannt geworden.

    Heinz Scheible, langjähriger Leiter der Melanchthon-Forschungsstelle an der Universität Heidelberg:

    "Das herausragende, überregional bedeutsame Ereignis der Tübinger Jahre Melanchthons war der Judenbücherstreit. Reuchlin, der ein grundlegendes Werk über die hebräische Sprache publiziert hatte, war von Kaiser Maximilian als Gutachter über die von dem Konvertiten Pfefferkorn betriebene Vernichtung des jüdischen Schrifttums bestellt worden und Reuchlin hatte sich für dessen Erhaltung eingesetzt, wodurch er in einen Streitschriftenkrieg verwickelt wurde."

    Der vom Judentum zum Christentum übergetretene Johann Pfefferkorn wurde in dieser Auseinandersetzung vor allem von den Dominikanern in Köln unterstützt. An der Seite Reuchlins standen seine humanistischen Weggefährten. Heinz Scheible:

    "Auch sein siebzehnjähriger Verwandter half ihm nach Kräften. Eine Sammlung von Briefen, die berühmte Männer an Reuchlin gerichtet hatten, ist mit einer Vorrede Melanchthons mit dem Titel 'Clarorum virorum epistolae', Briefe berühmter Männer, 1514 im Druck erschienen. Der Buchtitel inspirierte dann einige Witzbolde unter den Parteigängern Reuchlins zu den sogenannten 'Obscurorum virorum epistolae', den 'Dunkelmännerbriefen'."

    Dabei handelte es sich um eine Satire mit fingierten Briefen, die in absichtlich plumpem Mönchslatein die Kölner Dominikaner bloßstellen sollten. Außerdem wird Melanchthon, was in dieser Satire natürlich ein besonderes Lob bedeutete, als einer der schlimmsten Tübinger Reuchlinisten dargestellt.

    In diesem Streit ging es inzwischen längst nicht mehr nur um die Auseinandersetzung über das Verbot religiöser jüdischer Schriften, sondern hier standen sich unversöhnlich Scholastiker und die Humanisten, als zwei Lager mit einem jeweils anderen Wissenschaftsverständnis gegenüber.

    Auch Erasmus von Rotterdam meldete sich zu Wort und setzte sich sogar bei Papst Leo X. für Reuchlin ein:

    "Eure Heiligkeit, der berühmte Mann, Johannes Reuchlin, ist von jeder Art von Wissen beschlagen. Mit Recht achtet und verehrt daher ganz Deutschland diesen Mann wie einen Phönix und wie seine einzige Zier."

    Auch Philipp Melanchthon blieb in Tübingen von Auswirkungen dieses Streits um Reuchlin nicht verschont. Besonders die scholastischen Theologen an der Universität beargwöhnten den Großneffen Reuchlins. Innerhalb kurzer Zeit schlug Melanchthon in Tübingen auch offene Feindschaft entgegen.